Krisenpolitik: EU will Notfall-Rechte bei Produktion und Lieferung von Waren

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Bildung strategischer Reserven, Priorisierung bei der Produktion: Mit dem "Binnenmarkt-Notfallinstrument" (SMEI) will die EU einen Instrumentenkasten mit weitreichenden Durchgriffsmöglichkeiten bei Mitgliedsstaaten und Unternehmen im Krisenfall.

Versorgungssicherheit wird gerade höher gehängt als das "freie Schalten" auf dem Markt. Dieser Eindruck bestätigt sich mit dem "Binnenmarkt-Notfallinstrument", das die EU-Kommission heute vorgestellt hat. Single Market Emergency Instrument (SMEI) heißt es in englischer Sprache. Dahinter steckt ein ganzer Werkzeugkasten, der es der EU-Führung in einem abgestuften Prozess im Extremfall gestattet, in die Produktion und Lieferung von Unternehmen einzugreifen.

"Priorisierung" ist das Schlüsselwort dazu. Die Webseite Euractiv veranschaulicht dies mit einem Beispiel aus einer Pandemie-Krise. Demnach wäre es der EU-Kommission - sofern das SMEI vom EU-Parlament und dem EU-Ministerrat angenommen wird - möglich, einen "Impfstoffhersteller dazu (zu) zwingen, Bestellungen für EU-Bürger gegenüber anderen Bestellungen zu bevorzugen, wenn der Notfallmodus als Reaktion auf eine Pandemie aktiviert wurde".

Dem folgt ein Satz, der die Dimension des neuen Instruments andeutet: Das SMEI würde der EU "die Möglichkeit geben, solche Maßnahmen auf jede Branche anzuwenden, die für die jeweilige Krise relevant ist".

Hält man sich vor Augen, dass der Vorschlag der EU-Kommission zur Krisenbekämpfung nicht nur mit Unterbrechungen von Lieferketten durch die Covid-19-Pandemie begründet wird, sondern auch mit einem Blick auf den Krieg in der Ukraine (siehe auch hier), so wird hier ein Möglichkeitsraum eröffnet, der noch nicht absehbar ist.

Die Faz hatte schon Anfang September über den SMEI-Entwurf, der ihr nach eigenen Angaben vorlag, berichtet und erstaunliche Durchgriffs-Kompetenzen beschrieben: Demnach könne die Kommission in Notfallsituationen direkt in Produktion von wichtigen Waren oder auch Vorprodukten eingreifen.

Nach den Vorstellungen der EU-Kommission wolle sie "Unternehmen dann direkt vorschreiben können, welchen Aufträgen sie Vorrang zugestehen sollen. Die Unternehmen sollen sich dem nur widersetzen können, wenn sie das in wirtschaftliche Schwierigkeiten bringt oder sie dazu aus Kapazitätsgründen nicht in der Lage sind".

Zur Brisanz der Kompetenzausweitung gehört laut Informationen der wirtschaftsnahen Zeitung, dass privatwirtschaftliche Verträge, Verträge mit anderen Unternehmen, weniger Priorität haben und also zurückstehen sollen. Die Kommission gestehe zu, dass "die Regeln für die Neuorganisation oder den Aufbau von Fertigungslinien ein weitgehender Eingriff in die Geschäftsfreiheit ist".

Die Regeln müssten genau auf die jeweilige Krise abgestimmt und in Abwägung mit übergeordneten gesellschaftlichen Interessen abgestimmt werden, wird dazu bekräftigt.

Die geschilderten Notfallbefugnisse sind der Extremfall. Es zeigt sich darin der politische Wille der EU, sich eine größere Durchsetzungskraft zu verschaffen. Dem Extremfall vorgelagert sind mehrere Stufen. Zunächst soll ein Beratungsgremium die Lage analysieren ("risk assessments") und lediglich Empfehlungen ausgeben. Zu dieser Stufe gehört offenbar auch ein Frühwarnsystem für kritische Produkte.

Verschärft sich die Versorgungskrise, so hat die Kommission die Möglichkeit, einen "Wachsamkeitsmodus" auszurufen. Sie kann von Unternehmen Daten zum Einblick in die Lage anfordern und je nach Dringlichkeit oder Notlage, vorschlagen oder vorschreiben, dass "strategische Reserven" angelegt werden.

Dem Vorschlagsentwurf zufolge kann der "Wachsamkeitsmodus" von der EU-Kommission aktiviert werden, wenn ein erheblicher Zwischenfall eingetreten ist, der das Potenzial hat, die Lieferkette von Waren oder Dienstleistungen von strategischer Bedeutung erheblich zu stören.

Euractiv

Die Befugnisse betreffen nicht nur Unternehmen, sondern auch Staaten. Auch Mitgliedsstaaten könnte die EU-Kommission "im Extremfall" vorschreiben, innerhalb eines bestimmten Zeitraums konkrete Lagerbestände wichtiger Waren aufzubauen.

Im akuten Krisenmodus könnte die EU auf die geschilderten Notfall-Kompetenzen zugreifen, falls der EU-Rat zustimmt, und in Produktion und Lieferung von Unternehmen eingreifen.

Aufgeführt werden von Berichten zum neuen EU-Werkzeugkasten auch Strafen.

Unternehmen, die unrichtige oder irreführende Angaben machen, riskieren Geldstrafen von bis zu 300.000 Euro, während Unternehmen, die einer Anordnung zur Priorisierung von Schlüsselprodukten nicht nachkommen, mit täglichen Zwangsgeldern in Höhe von 1,5 Prozent des durchschnittlichen Tagesumsatzes belegt werden können.Reuters

Laut Reuters erwartet man "heftigen Widerstand seitens der Unternehmen und einiger EU-Länder". Wie der Nachrichtendienst berichtet, vergleichen Kritiker die Zugriffsrechte des Single Market Emergency Instrument (SMEI) mit einem "Staatskapitalismus à la China".

Auch im Europaparlament und im EU-Ministerrat, die beide zustimmen müssen, gibt es Kritik am Notfallinstrument.