Kritik der Cloud-Services
Wird die Cloud Denken und Handeln bestimmen? Teil 3
Besteht die Gefahr, dass wir uns von der Cloud eines Tages bevormunden lassen? Ja, diese Gefahr besteht, sie wächst in dem Maße, in dem wir zu glauben bereit sind, dass Entscheidungen, die sich rational aus einer umfassenden Faktenanalyse mit logischen Schlussverfahren gewinnen lassen, die besseren Entscheidungen sind, und dass wir diese Entscheidungen akzeptieren und im Handeln befolgen müssen. Dieses Handeln wäre dann allerdings im eigentlichen Sinne kein Handeln mehr, es wäre nur noch ein "Sich-Verhalten". Ich möchte behaupten, dass wir von einer solchen Welt, in der nur rationale Entscheidungen des eben genannten Typs als "gute" Entscheidungen angesehen werden, dass sie also moralisch gestützt werden, während andere Entscheidungen als schlecht moralisch verurteilt werden, gar nicht so weit entfernt sind.
Teil 2: Die App sagt, was ich tun soll
Ich möchte aber auch sagen, dass in der Cloud-Technologie selbst das Gegenmittel für eine solche Entwicklung liegt. Bevor ich das jedoch genauer erkläre, möchte ich Ihr Augenmerk auf die Verfahren richten, die wir sonst benutzen, wenn wir Entscheidungen zum Handeln treffen und wenn wir keine gesicherte Faktenbasis und keine mathematisch-logischen Schlussverfahren haben.
Wir haben dafür von Alters her zwei Prinzipien, die bekanntlich zusammenhängen: Erfahrung und Vertrauen. Beide Prinzipien sind der Cloud und den Maschinen, die darin stehen, grundsätzlich fremd. Kein Computernetzwerk ist je selbst auf einen Berg gestiegen, und kein Großrechner hat je selbst einen Abgeordneten oder einen Präsidenten gewählt und ist von ihm enttäuscht worden.
Erfahrung ist nicht die Summe des Wissens über das, was geschehen ist, Erfahrung ist ein ganz individuelles Sediment aus Erfolgen und Niederlagen, aus Bestätigungen und Enttäuschungen, das nur wir Menschen ausbilden können und das jedem nur selbst gehört.
Was ist Rationalität?
Es ist an dieser Stelle wichtig daran zu erinnern, dass Rationalität ursprünglich ein viel weiterer Begriff ist, als es uns die Verwendung in der geläufigen Formulierung von der "rationalen Entscheidung" und vom "rationalen Urteil" glauben macht. Ursprünglich sind alle Entscheidungen rational, die wir mit einem "Also" beginnen können.
"Mein Bergsteigerfreund, mit dem ich schon viele Touren gemacht habe, hat mir diesen Berg empfohlen, also will ich ihn besteigen." Das ist eine rationale Entscheidung im ursprünglichen Sinne, die auf Vertrauen und Erfahrung beruht. Die Tatsache, dass wir "Rationalität" seit einiger Zeit auf Faktenanalyse und logisches Kalkül einschränken, bereitete den Boden dafür, dass wir zuerst bereit waren, auf Fragebogen- und Checklisten-basierte Ratgeber in Zeitschriften und Fachbüchern zu "hören", und nun bereit sind, unsere Handlungsentscheidungen von elektronischen Ratgebern abhängig zu machen, die wir heute auf den Webseiten eben dieser Zeitschriften und Fachbuchverlage finden und die uns die Cloud als Services zukünftig in einer Raffinesse und Komplexität bereitstellen wird, die wir - im Gegensatz zur simplen Checkliste - nicht mehr überblicken können.
Das wäre natürlich völlig unproblematisch, wenn wir sicher sein könnten, dass die Handlungsanweisungen, die wir auf diese Weise bekommen, in einem akzeptablen Sinne "besser" sind als die, die wir durch Vertrauens- oder Erfahrungsentscheidungen gewinnen. Das ist aber nicht der Fall. Unsere Einschränkung des Rationalitätsbegriffes auf das logische Kalkül ist selbst irrational, und zwar in dem Sinne, dass wir sie - wenn überhaupt - nur im Rückgriff auf Vertrauens- oder Erfahrungsurteile begründen können.
So kann es z.B. sein, dass Sie eine Checkliste nutzen, gerade weil sie von einem Autor stammt, dem Sie vertrauen: Sie haben keine Fakten über den Nutzen der Checkliste, sie können nicht streng logisch ableiten, dass die Checkliste Ihr Projekt erfolgreich machen wird: Sie vertrauen der Quelle, dem Autor, oder Sie vertrauen Ihrer eigenen Erfahrung, der Tatsache, dass Sie in vergleichbaren Projekten nach der Anwendung einer solchen Checkliste selbst erfolgreich waren.
Wer ist der Autor der Services?
Solange wir uns dieser Basis unserer Entscheidungen bewusst sind, besteht in der Tat gar keine Gefahr. So lange Sie wissen, wer der Autor eines Services ist und wenn Sie sich gewiss sind, dass Sie diesem Autor begründet vertrauen, kann ein Cloud-Service eine gute Entscheidungshilfe sein, egal, ob man eine Partei zu wählen oder einen Berg zu besteigen beabsichtigt - oder ob man z.B. Rechnerkapazitäten in die Cloud verlagern will.
Gefährlich wird es erst, wenn man beginnt, der Cloud selbst zu vertrauen, genauer gesagt, dem Service zu vertrauen, weil er in der Cloud zur Verfügung gestellt wird, weil er dort betrieben wird und schlicht funktioniert.
Wir kennen dieses Phänomen bereits: Informationen, die im Internet bereitgestellt werden, die ergoogelt werden können oder bei Wikipedia stehen, werden als Wahrheit genommen, Behauptungen, die auf "gut gemachten" Webseiten stehen, werden zu Fakten umdeklariert, vor allem dann, wenn sie tausendfach verlinkt werden.
Schwarmintelligenz und Herdentrieb
Man sagt, es sei die Intelligenz des Schwarms, der man vertrauen könnte oder sollte. Ich habe mich schon oft gefragt, wo eigentlich der Unterschied zwischen der Schwarm-Intelligenz und dem Herdentrieb liegt. Martin Heidegger hatte - lange vor der Existenz des Web und der Cloud - einen anderen Namen für dieses Phänomen gefunden, er sprach von dem "Gerede", in dem das "Man" sich hält, und dieses allgemeine "Man", zu dem jeder gehört und das keiner wirklich ist, das Man, das für nichts verantwortlich ist und dem jeder gehorcht, diesem Man vertrauen wir, wenn wir dem "Schwarm" vertrauen.
Mit dem Internet in seiner berühmt gewordenen Version 2.0 - dem so genannten sozialen Netz, dem Web 2.0 - war die Vision eines wirklich herrschaftsfreien Diskurses aufgetaucht, da jeder ohne große Kosten und damit ohne die Macht von Verlagen oder Medienkonzernen zum Publizisten, zum öffentlichen Autor werden konnte. Überall können sich Diskussionsplattformen bilden und Öffentlichkeit dezentral organisieren, dem demokratischen Diskurs über alles schien sich ein Paradies aufzutun. Aber wir erleben, dass die Macht des Man sich ungebrochen zeigt. Was sich überall als kraftvolles Ergebnis der Schwarmintelligenz zeigt, duldet keinen Widerspruch, wird im Social Web zur normativen Kraft.
Diese Tendenz wird nun durch die Cloud noch verstärkt, denn zur normativen Kraft des Schwarms tritt die ohnehin lang schon etablierte normative Kraft des logischen Kalküls einschließlich umfassender Fakten-Recherche des Rätsel-Königs Watson.
Wir werden Services bekommen, die zu jedem Thema Fakten recherchieren, strukturieren, analysieren, Szenarien ermitteln, zwingende Konsequenzen mit messerscharfer Logik ableiten. Niemand wird noch genau wissen, wie diese Algorithmen funktionieren, auf welchen Annahmen sie beruhen, was sie vernachlässigen, welche Theorien ihnen zugrunde liegen. Aber das Social Web wird ihre Ergebnisse als zwingende Argumente verbreiten und wer sich nicht nach ihnen richtet, wer ihnen nicht gehorcht, wird - im besten Fall - als Narr verlacht werden.
Muss es so kommen?
Wir brauchen eine Kritik der Web-Inhalte und der Cloud-Services, so wie es eine Kunstkritik und eine Literaturkritik gibt. Das ist ein schwieriges Geschäft, denn Kritik wird am liebsten an etablierten Strukturen geübt, wer Kritik am Entstehenden, Neuen übt, ist schnell als Fortschrittsfeind und ewig Gestriger verschrien. Ein großer Teil des Social Web und der sogenannten Digital Boheme versteht sich gerade als kritische Herausforderung der klassischen Medien, die als "Holzmedien" denunziert werden, teilweise wird ein geradezu revolutionärer Habitus an den Tag gelegt.
Tatsächlich haftet natürlich jeder Kritik an neuen Entwicklungen und Möglichkeiten etwas Konservatives an. Aber konservativ sein heißt nicht fortschrittsfeindlich sein - genau genommen ist das Gegenteil der Fall. Der Konservative hinterfragt die Stabilität der neuen Konstruktion, er vergleicht sie mit den fest gefügten Mauern, in denen er sich selbst eingerichtet hat. So kann er zum konstruktiven Kritiker des Neuen werden. Und er erkennt, dass das Fundament des Neuen, wenn es denn stabil ist, das Bekannte und Vertraute ist.
Der Begriff Kritik, wie ihn die Philosophie spätestens seit Kant versteht und wie er auch in der Literatur- und Filmkritik Verwendung findet, bezeichnet ja nichts Negierendes, Zerstörendes. Kritik analysiert, deckt Verborgenes auf, zeigt Zusammenhänge und Voraussetzungen und gibt darauf zurückgreifend - natürlich auch - ein Urteil ab.
Was der Kern einer solchen Cloud-Services-Kritik sein kann, haben meine Überlegungen gezeigt. Sie setzt bei den Begriffen des Vertrauens und der Erfahrung an und fragt danach, ob die Rationalität des Services, der auf Faktenanalyse und mathematisch-logischen Schlussfolgerungen beruht, wirklich die dem Menschen angemessene, seinen praktischen Erfolg am besten sichernde Form der Rationalität ist.
Vertrauen können wir immer nur Menschen, niemals der Technik. Auch wenn wir der Genauigkeit einer Uhr vertrauen, vertrauen wir eigentlich den Ingenieuren, die das Uhrwerk entwickelt, und den Arbeitern, die die Uhr montiert haben. Sonst würde es gar keinen Sinn haben, bestimmten Marken nicht zu vertrauen oder Autos aus Stuttgart oder München für besonders sicher zu halten und auf Produkten den Schriftzug "Made in Germany" zu applizieren - dabei geht es immer um unser Vertrauen zu den Menschen, die die Hersteller dieser Produkte sind.
Erfahrungen können, wie gesagt, ebenfalls nur von Menschen gemacht werden, selbst wenn man sein Mobiltelefon auf den Weg durch die Watzmann-Ostwand mitnimmt, wird dieses nicht die Erfahrung der beschwerlichen Besteigung machen - und schon gar nicht der Cloud-Service, den man über das Gerät aufruft um sich Tipps zur weiteren Strecke geben zu lassen.
Die Menschen hinter der Wolke
Die Kritik setzt also dabei an, nach den Menschen hinter dem Service zu fragen, nach ihrer Erfahrung und ihrer Vertrauenswürdigkeit. Die Gefahr besteht allerdings, dass die Menschen, die Autoren, die Hersteller, die wir durch das Netz immer noch gesehen haben, hinter oder in der Wolke verschwinden. Das Netz bietet uns vor allem Inhalte, diese Inhalte haben Autoren, selbst bei Wikipedia können wir verfolgen, wer welche Information verändert hat, und gerade wenn Klarnamen durch Avatare ersetzt werden, beginnen wir an der Vertrauenswürdigkeit zu zweifeln. Blogs haben individuelle Betreiber, meist namentlich bekannt, über die ich mir ein Bild machen kann.
Services werden von anonymen großen Teams erstellt, Programmierer, Designer, Experten. Wer ist der Autor der Software von Watson? Da fallen uns nur drei große blaue Buchstaben ein - die eine große Computerfirma benennen. Aber auch Firmen machen keine Erfahrungen, und es sind auch nicht die Unternehmen, denen wir vertrauen können, sondern wieder die Menschen, die dort tätig sind.
Eine Kritik der Cloud ist also notwendig. Diese Kritik ist keine Technologiekritik und schon gar nicht technologie-kritisch oder -feindlich, sie ist eine Kritik der Services, die uns in der Cloud offeriert werden. Sie fragt nach den Menschen, die hinter den Services stehen und in der Wolke zu verschwinden drohen. Wo diese Menschen durch die Kritik sichtbar gemacht werden, macht die Kritik Vertrauen und Erfahrung erst möglich. Wir werden sagen: "Diesem Service vertraue ich" und werden meinen, dass wir den Autoren und Betreibern des Services vertrauen, weil wir ihre Erfahrungen schätzen, und weil wir gute Erfahrungen mit ihnen gemacht haben.
Immanuel Kant hat die drei großen Fragen formuliert, die die Philosophie sich stellt:
- Was kann ich wissen?
- Was soll ich tun?
- Was darf ich hoffen?
Unsere Zeit hat eine gewisse Tendenz, solche grundsätzlichen Fragen ein bisschen zu einfach zu beantworten: Was kann ich wissen? - Nun, das, was in der Wikipedia steht, was Google mir liefert. Was soll ich tun? - Nun, es gibt einen Cloud-Service, der dir die richtigen Hinweise gibt. Bliebe die Frage, was zu hoffen ist: Nun, dass wir weiterhin nicht einer Maschine vertrauen, die selbst nie die menschliche Erfahrung von Erfolg und Niederlage, von Glück und Leid gemacht hat, sondern dass wir weiterhin dem anderen Menschen und seinen Erfahrungen vertrauen.