Kritiker der türkischen Regierung werden auch in Deutschland verfolgt
Sie bekommen Drohungen und stehen auf Todeslisten. Kommentar und Hintergrund
Ein Präsidiumsmitglied der Kurdischen Gemeinde Deutschlands wird am Flughafen in Istanbul verhaftet. Der Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger und der Essener Linken-Politiker Ciwan Akbulut erhalten identische Morddrohungen. Der türkische Exiljournalist Erk Acarer wird in Berlin im Hof seines Wohnhauses überfallen und zusammengeschlagen. Es kursieren Todeslisten gegen kritische Journalisten, türkische und kurdische Exilpolitiker in Deutschland. Der türkische Staatsterror reicht bis nach Deutschland. Ist die Bundesregierung immer noch nur "besorgt"?
Am Donnerstag wurde das Präsidiumsmitglied der Kurdischen Gemeinde Deutschlands (KGD), Özgür Kara, bei seiner Einreise in die Türkei am Istanbuler Flughafen festgenommen. Am Freitag sollte er dem Haftrichter vorgestellt werden. Was ihm genau vorgeworfen wurde, ist unklar. Am Freitagnachmittag twitterte die KGD, dass er wieder freigelassen wurde. Die 24-stündige Festnahme von Kara durch die türkischen Sicherheitsbehörden in Istanbul sei "ein gezielter Angriff auf unsere demokratischen Freiheitsrechte".
Die KGD zählt zu den liberal konservativen kurdischen Organisationen in Deutschland. Sie setzt sich für die Rechte der kurdischen Bevölkerung in der Türkei und Deutschland ein und kritisiert vor allem die Türkeipolitik der Bundesregierung. Das dürfte schon als Grund für eine Verhaftung genügen. Özgür "Mila" Kara ist deutscher Staatsbürger. Immer häufiger wird deutschen Staatsbürgern die Einreise in die Türkei wegen kritischer Posts in den Sozialen Medien verwehrt.
Kritischen deutschen Staatsbürgern türkischer oder kurdischer Herkunft droht hingegen gleich die Verhaftung. Aber auch in Deutschland wird regelrecht Jagd auf Menschen gemacht, die der türkischen Regierung und dem Staatsapparat kritisch gegenüberstehen. Betroffen sind dabei vor allem Deutsche mit türkischen oder kurdischen Wurzeln. Die türkische Regierung bedient sich dabei den jahrzehntelang nicht ernst genommenen Netzwerken der türkischen Mafia, der Grauen Wölfe und der fundamentalistischen islamischen Organisationen wie Ditib, Milli Görüs oder den Muslimbrüdern.
Diese agieren nicht nebeneinander, sondern miteinander, denn man trifft sich zum Beispiel in bestimmten Moscheen, Restaurants oder Sportvereinen und knüpft Kontakte. Man darf nicht vergessen, dass Erdogans islamistische AKP eine Koalition mit der faschistischen Partei MHP eingegangen ist. Das bildet sich auch in Deutschland ab: Die AKP-treuen Türken haben auch in Deutschland ihre Koalition mit der Vertretung der MHP, den Grauen Wölfen.
Und da die AKP eine Nähe zur Muslimbruderschaft hat, sind auch die muslimischen Verbände Ditib, Milli Görüs, der Zentralrat der Muslime und die Islamföderation mit im Boot. Daher vermuten Exilanten, dass u.a. Graue Wölfe hinter den aktuellen Angriffen in Deutschland stecken.
Morddrohungen gegen oppositionelle Türken und Kurden nehmen zu
"Köter abschlachtend komme ich. Europa kann euch nicht schützen. JITEM" So lautete die neueste Morddrohung gegen den Kommunikationswissenschaftler und Bundestagskandidaten der Linken, Kerem Schamberger. Die Morddrohung war unterlegt mit Fotos von brutal ermordeten Menschen, einer Waffe und einem türkischen Pass.
Schamberger schreibt, dass der Absender der Morddrohung erneut "Kod Adım Yeşil" (Mein Codename ist grün) heißt. Schamberger hatte bereits im Frühjahr 2021 von diesem Absender Drohungen erhalten. Ermittlungen zu den damaligen Drohungen wurden von der Hamburger Staatsanwaltschaft eingestellt. Nun dürften diese wieder aufgenommen werden, da mehrere Personen des öffentlichen Lebens betroffen sind.
"Jtem" nannte sich der informelle Geheimdienst der türkischen Militärgendarmerie, dessen Existenz der türkische Staat stets leugnete. Er wird dem "tiefen Staat" zugeordnet und soll für Tausende extralegaler Hinrichtungen an Kurden, vor allem im Südosten der Türkei verantwortlich sein. Der Spiegel berichtete 2009 anschaulich über die Praxis des "Verschwinden lassen" durch Jitem.
"Als Gründer der Organisation wird Brigadegeneral a.D. Veli Küçük angegeben. Im Zuge der Ergenekon-Prozesse ist die Existenz der JİTEM von der türkischen Justiz bestätigt worden...", heißt es auf Wikipedia. Ob Jitem mittlerweile tatsächlich aufgelöst ist, wie von Regierungsseite behauptet wird, ist nicht bekannt.
Eine identische Morddrohung erhielt auch der 20-jährige Essener Lokalpolitiker der Linkspartei, Civan Akbulut. Akbulut ist Kurde und erhielt schon im Juni über Instagram eine Morddrohung mit der türkischen Aufschrift "Vura vura geliyorum Jitem" (sinngemäß: "Mordend komme ich"). Auch hier war die Botschaft unterlegt mit brutal ermordeten Menschen, einer Waffe und einem türkischen Pass. Civan Akbulut ist seit 2020 Mitglied im Integrationsrat Essen und Delegierter für den Landesintegrationsrat Nordrhein-Westfalen. Akbulut fordert, dass endlich konsequent gegen türkische Faschisten wie die "Grauen Wölfe" vorgegangen wird.
Der Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger ist sich sicher, dass die Drohungen aus staatlichen türkischen Kreisen kommen und höchstwahrscheinlich auch mit dem türkischen Geheimdienst MIT in Beziehung stehen. Aber solange die Bundesregierung nichts an ihrer Appeasement-Politik gegenüber der Türkei ändere, würden die Drohungen weitergehen, wird Schamberger vom kurdischen Medium ANF zitiert.
Todeslisten kursieren in Deutschland
Nachdem bekannt wurde, dass mehrere namhafte türkische Exilanten auf sogenannten Todeslisten verzeichnet sind, äußert sich die Bundesregierung erstmals dazu. Die Bundestagsabgeordnete Evrim Sommer (Linke) hatte dazu im Bundestag eine Anfrage gestellt. Innenstaatssekretär Helmut Teichmann bestätigte, dass es "Hinweise zu verschiedenen Listen mit Namen von Personen, die der türkischen Regierung mutmaßlich kritisch gegenüberstehen" gebe.
Die Bundesregierung habe aber keine konkrete Liste, die "Erkenntnisverdichtung" dauere an. Auf diesen Listen sollen bis zu 55 Exilanten benannt werden, die liquidiert oder durch gezielte Angriffe eingeschüchtert werden sollen. Vor 14 Tagen wurde in Berlin der bekannte türkische Journalist Erk Acarer angegriffen.
Acarer arbeitet unter anderem für den Kölner Exil-Sender Artı TV und die kritische türkische Zeitung Birgün. Er berichtete unter anderem über die Verbindungen zwischen der Türkei und dem IS. Die Polizei in Darmstadt informierte den kurdischen Musiker Ferhat Tunç, dass er sich auf einer "Todesliste" befinde.
In Köln hat es den Fernsehjournalisten Celal Baslangiç getroffen. Der 65-jährige Chefredakteur von Artı TV, Celal Başlangıç, steht auch auf der Todesliste. Er wurde von der Kriminalpolizei informiert. Der kurdische Politiker und ehemalige HDP-Abgeordnete Hasip Kaplan wurde ebenfalls von deutschen Sicherheitsbehörden informiert, dass er auf der Todesliste stehe.
Aber wieso weiß die Kripo und die Polizei in Darmstadt oder in Köln, wer auf den Todeslisten steht, wenn der Bundesregierung keine konkrete Liste zur Verfügung steht?
Deutscher Journalisten-Verband (DJV) besorgt
Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) forderte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) auf, den türkischen Botschafter in Deutschland einzubestellen. Maas müsse "dem türkischen Botschafter unmissverständlich klarmachen, dass hier eine Grenze überschritten wird und dass Drohungen und Gewalt gegen Journalisten, die hier Zuflucht vor dem repressiven Regime der Türkei gefunden haben, inakzeptable Straftaten sind".
Zunehmend geraten auch deutsche Journalisten und Politiker, die sich kritisch zur Erdogan-Regierung äußern, ins Visier der türkischen Behörden. Sie werden in den Foren der Zeitungen und den Sozialen Netzwerken ebenfalls mit Hasskommentaren und Beleidigungen bis hin zu indirekten Drohungen überhäuft. Auffällig ist dabei der ähnliche Sprachstil und bestimmte "Keywords", die darauf hindeuten, dass diese Hasspropaganda gesteuert wird.