Kritiker zu Gast beim Spiegel
Ein Dinner mit den Überzeugten
Erster Gang - Kritik im Bremsvorgang
Ein Spiegel-Redakteur reagierte Anfang des Jahres auf die anschwellende Leserkritik an seinem Magazin mit einer Charme-Offensive und lud im Juni 2015 zum ersten Mal 100 Leser, die ihm kritische Mails geschickt hatten, zu einem Dinner ein. Und weil ihm der Abend so gut gefiel, wird die Veranstaltung wiederholt, und weil auch ich ihm eine lange kritische Mail geschrieben habe, traf mich das Losglück und ich gehöre zu den auserwählten Gästen.
Ob dem Gastgeber bekannt ist, dass ich vor gut einem Jahr eine Protestdemonstration vor seiner Arbeitsstätte organisiert habe, nachdem der Spiegel das hetzerische Titelblatt "Stoppt Putin jetzt" anlässlich der Katastrophe von MH17 veröffentlicht hatte, weiß ich nicht.
Mit gemischten Gefühlen durchschreite ich den gigantischen Hohlraum, der den größten Teil des Gebäudes ausmacht, und steige hinauf zum Foyer des Konferenzraums, wo sich einige Gäste an einem Tee- / Kaffee-Buffett versorgen. Über dem Buffett hängen drei Bilder. In der Mitte das Porträt von Che Guevara. Rechts und links neben ihm der halbnackte George W. Bush in Rambo-Pose, mit Maschinengewehr in den Fäusten und schwerem Patronengürtel über der Brust. Links vor neutraler Landschaft, rechts mit Trümmern im Hintergrund. Unter seinem entschlossenen Blick übergieße ich einen Teebeutel mit heißem Wasser und betrete dann den Konferenzraum, in dem schon fast alle Gäste in mehreren Reihen um einen Konferenztisch herumsitzen.
Ich schätze die Gesellschaft auf etwa achtzig Prozent Männer, über die Hälfte deutlich über sechzig, und nur sehr wenige der Anwesenden dürften unterhalb der Vierzig sein. Es geht auch gleich mit dem Einführungsvortrag los und ich erfahre, dass das Durchschnittsalter des Spiegel-Online-Lesers bei 53 liegt, bei der Printausgabe jedoch deutlich höher.
Der Einführungsvortrag ist knapp und macht schnell deutlich, worauf Spiegel-Redakteure stolz sind. Sie sind alle Mitgesellschafter im Print-Geschäft. Alles ist selbst recherchiert, die Nachrichten exklusiv, man selbst Nachrichtenquelle für andere Medien. Jeder Fakt wird mehrfach gecheckt, und dennoch will man auch unterhaltsam sein. Stefan Aust wird zitiert, der angeblich sagte, man müsse den Leser "von Anfang an mit dem Lasso in den Text ziehen", das sei besser als staubtrockene Analyse. Da wird mir schon ein bisschen unwohl, denn gerade wenn es um Krisenberichterstattung geht, wäre mir die Analyse deutlich lieber als das Lasso.
Bald ist auch schon die Fragerunde eröffnet, und ich bin neugierig, was die eingeladenen kritischen Leser so alles wissen wollen. Wie viele Mitarbeiter es gäbe? Welche der neuen elektronischen Medienformate noch genutzt werden sollen? Ob sich Print- und Online-Redaktion streiten?
Katrin McClean (geb. Katrin Dorn) ist Autorin von Erzählungen, Romanen, Krimis und Abenteuer-Hörspielen für Kinder. Seit 2014 engagiert sie sich in der Friedensbewegung.
Lange halte ich das Geplänkel nicht aus, melde mich und frage, warum beim Online-Faktencheck über Flüchtlinge bei den Fluchtursachen nur brutale Diktatoren erwähnt werden, jedoch nichts von Waffenlieferungen des Westens, der Destabilisierung der Region seit dem Irakkrieg von 2003, oder etwa die furchtbaren Auswirkungen des Embargos, das über Syrien verhängt wurde und an dem sich Deutschland seit Jahren beteiligt.
Ich füge hinzu, dass mir doch sehr deutlich zu sein scheint, dass das politische und militärische Vorgehen der USA bzw. der NATO-Staaten extrem unterbeleuchtet sei und es hier an Kritik fehle. Der Online-Redakteur antwortet, er habe diesen Faktencheck jetzt nicht so vor Augen und werde sich das nochmal anschauen.
Nun gibt es mehrere aufgeregte Wortmeldungen, der Gastgeber moderiert, sammelt Fragen und gibt sie weiter. Meine Frage nach der mangelnden Kritik gegenüber den USA und NATO fällt ganz offensichtlich unter den Tisch. Ein anderer Gast wirft sich für die Redakteure in die Bresche. Anstatt eine Frage zu stellen, erklärt er, dass Journalisten sowieso immer subjektiv seien, und ihm auch wichtiger wäre, dass sie eine klare Haltung hätten, als dass sie akribische Faktenhuberei betrieben, die sei doch ohnehin langweilig.
Haltung ist ein gutes Stichwort denke ich, melde mich gleich wieder und komme sogar noch einmal dran. Ich zitiere einen Satz aus dem letzten Spiegel, in dem Obamas Forderung, der syrische Präsident Assad solle zurücktreten, völlig kritiklos referiert wird, und frage, wieso das Oberhaupt einer Regierung, die sich für Atombombenabwürfe, den Vietnamkrieg und eine ganze Reihe völkerrechtswidriger Angriffskriege auf souveräne Staaten verantworten muss, überhaupt das Recht hat, über das Staatsoberhaupt von Syrien zu bestimmen, ganz egal, ob es sich dabei um einen Diktator handelt oder nicht.
Etwa von einem Drittel der Gäste ernte ich Applaus. Ein weiterer Gast schließt sich spontan an, und wirft dem Spiegel bei Berichten über Assad Propaganda vor. Nun entsteht ein regelrechter Tumult, ein älterer Herr erklärt mir, wenn ich Russland so viel besser als die USA fände, dann solle ich doch dahin ziehen, obwohl ich die Worte Russland oder Putin gar nicht erwähnt habe. Ein anderer warnt gar vor einseitiger prorussischer Berichterstattung, und eine Frau erklärt, sie käme aus der DDR und für sie sei der Spiegel, den Westverwandte ihr immer mitgebracht haben, schon immer der Inbegriff der Meinungsfreiheit gewesen, und wer das nicht zu schätzen wisse, müsse in Sachen DDR an Gedächtnisschwund leiden.
Unser Gastgeber versucht das Chaos zu sortieren. Inzwischen ist auch ein leitender Redakteur mit viel Verantwortung für das gesamte Haus erschienen. Ein Mitgast in meinem Alter (Durchschnittsalter der SPON-Leser) erhält das Wort, und stellt sehr sachlich klar, es gehe hier doch ganz offensichtlich um die Frage, ob der Spiegel sich gegenüber den USA genauso kritisch äußere wie gegenüber Russland.
Gespannte Stille. Alle sehen den leitenden Redakteur an und der sagt. "Ja, das tun wir."
Mir fällt auf, dass er dabei nicht rot wird. Er fügt einen Glaubenssatz hinzu. "Ich glaube nicht, dass wir einseitig berichten und keine kritische Haltung zu den USA haben."
Unser Gastgeber ist noch entschiedener. Wenn wir wüssten, wie viele Redakteure absolut amerikakritisch seien, würden wir die Dinge wohl anders sehen. Er sagt, unsere Kritikpunkte seien alle unberechtigt, es gäbe genügend Kritik an den USA. Und der leitende Redakteur weiß noch zu berichten, Spiegel-Journalisten würden in den USA alle als amerikafeindlich gelten.
Ich werfe ein: "Darüber könnten Sie doch mal berichten!"
Ein weiterer Gast kündigt aufgeregt an: "Jetzt muss ich aber doch mal radikal werden!"
Unser Gastgeber weist uns in die Schranken. Meine Redezeit ist um, und der andere hat sich nicht gemeldet. Statt seiner Spontanreaktion dürfen wir nun seinen Nachbar hören. Der spricht geschlagene vier Minuten in einem einschläfernden Ton über das Phänomen, dass Außenstehende immer vermeintlich schlauer als Insider seien. Diese Aussage wird einem allerdings erst nach vielen kryptischen Sätzen klar, eine Frage an den Spiegel wird nicht erkennbar.
Man kann spüren, wie die Stimmung Minute um Minute nach unten sackt, nur neben mir hälts einer nicht aus, ergreift das Wort, obwohl er nicht dran ist, und sagt aufgeregt: "Aber ich habe die Einladung heute so verstanden, dass wir hier zusammen kommen, um über unsere Kritik am Spiegel zu sprechen."
Ein vielstimmiger Protest wird laut. So wäre das überhaupt nicht. Man sei hier, um sich gemeinsam mit den Redakteuren über den jahrzehntelangen Erfolg des Spiegels zu freuen und dessen Bestehen zu feiern, erklärt einer und wird mit Zustimmung und Applaus unterstützt.
Nun bemühen sich alle, die sich zu Wort gemeldet hatten, den Spiegelredakteuren für die Einladung zu einem solch offenen Gespräch zu danken und den Spiegel als identitässtiftendes Qualitätsmedium zu loben. Manche Äußerungen grenzen schon an Liebeserklärungen. "Der Spiegel hat mein ganzes Leben begleitet und meine Meinung geprägt."
Die Ehrfurcht vor den Redakteuren, denen man einmal im Leben gegenüber sitzen darf, scheint groß zu sein. Ebenso der Ärger über diejenigen, die diese Stunden in den geweihten Hallen mit Meckerei stören wollen. Ich denke: Wer solche Leser hat, braucht sich um seine Glaubwürdigkeit nicht zu kümmern.
Mein ausgebuhter Nachbar beugt sich zu mir und flüstert: "Halten Sie noch dreißig Jahre durch. Dann wird es vielleicht anders."
Zweiter Gang - Nachrichten und Meinungen
Nach einer Kaffeepause unter dem strengen Blick des halbnackten, bewaffneten George W. Bush, erwartet uns ein Faktenprüfer aus der Dokumentationsabteilung, und erzählt, wie jede einzelne Zeile im Spiegel auf Faktenrichtigkeit geprüft wird. Das gilt allerdings nur für die Printausgabe. Die SPON-Artikel werden nur gelegentlich gecheckt und bestünden vor allem aus Agenturmeldungen.
Ich nutze die Gelegenheit und frage, wie er es findet, dass immer mehr Vermutungen und Wahrscheinlichkeitsaussagen den Weg in einen Nachrichtentext beim Spiegel finden. Und ich erkundige mich ganz konkret, ob er es für zulässig hielt, dass man bei völlig ungesicherter Beweislage die vermeintliche Schuld von Präsident Putin am MH17-Unglück sofort auf die Titelseite brachte.
Das Stöhnen einiger Mitgäste ("Die schon wieder") ist nicht zu überhören, und sofort bricht eine heftige Diskussion über die Schuldfrage bei MH17 aus. Lautstark und wütend versuchen die Putin-Verdächtiger sich durchzusetzen. Nach einiger Zeit schaffe ich es, an den Kern meiner Frage zu erinnern und versuche es so klar wie möglich: "Finden Sie es legitim, dass Behauptungen Nachrichtenwert erhalten?"
Endlich Ruhe. Der Faktenprüfer denkt nach. Als erstes sagt er: "Ich habe gegen dieses Cover gestimmt. Ich fand es nicht richtig, auch nicht die Abbildung der Opfer."
Irgendwie erleichtert es mich, dass dieser Mann bei solchen Entscheidungen ein Stimmrecht hat. Dann gibt es eine spannende Diskussion, bei der ich wichtige Dinge erfahre. Bei Wahrscheinlichkeitsaussagen, also Behauptungen, hat die Dokumentationsabteilung zwar ein Veto-Recht, aber wenn die Faktenlage zum Zeitpunkt der Berichterstattung unklar ist, entscheiden letztlich die Redakteure, was geschrieben wird.
Der Faktenprüfer erklärt: "Manchmal muss eine Meldung auch kommen, weil die öffentliche Meinung sie verlangt."
Warum das? Weil die Redakteure an den Auflagenhöhen des Magazins mitverdienen?
Unser Gastgeber, der zuvor schon versichert hat, dass es keinerlei Einheitsmeinung unter den Redakteuren gäbe, bekräftigt noch einmal, dass in der Redaktion sehr viel gestritten werde, etwa darum, welcher Beitrag denn nun ins nächste Heft kommt und welcher nicht. Das glaube ich gern.
Einen Beweis für die Meinungsvielfalt sieht er in der Unterschiedlichkeit der Kolumnisten, wobei mir einfällt, dass die Kolumnisten beim Spiegel sich doch vor allem in ihrer Zuständigkeit für ein bestimmtes Thema unterscheiden. Aber klar, es gibt auch einen, der für eher links- und einen der für eher konservativ denkende Leser zuständig ist.
Bei so viel beschworener Meinungsvielfalt würde ich schon gern fragen, warum sich in Sachen Russland immer dieselbe Haltung durchsetzt, aber ich komme nicht mehr dran.
Dritter Gang - Angst vorm Russen
Nun geht es auch schon zum dritten Teil des Abends, zum Dinner. Das ist super organisiert. An Stehtischen können sich nach Belieben Grüppchen bilden, handliche Portionsschalen werden gereicht, besser kann das gleichzeitge Reden, Trinken und Unterhalten nicht gestaltet werden. Sehr schnell komme ich mit unserem Gastgeber ins Gespräch, der noch einmal seine große Verwunderung darüber äußert, dass ich dem Spiegel mangelnde Kritik an den USA vorwerfe, es habe doch so viele kritische Beiträge zum NSA-Skandal gegeben.
Ich erkläre, dass mir die Kritik am militärischen Treiben der USA fehle. Der Redakteur wirft mir vor, davon gäbe es jede Menge und ich würde offenbar einseitig wahrnehmen. Ich wende ein, dass es vielleicht ab und zu kritische Töne gegenüber den USA gäbe, aber wenn es um Titelbilder und Schlagzeilen geht, sei die Einseitigkeit gegenüber Russland doch nun wirklich eindeutig. Mein Gegenüber erwidert, für Leute, die nur Schlagzeilen lesen, schreibe er nicht. So kann man sich auch aus der Verantwortung ziehen, denke ich.
Der Mann drückt mir die neue Ausgabe des Spiegel in die Hand, verweist stolz auf einen Artikel über die Bombardierung eines Krankenhauses in Afghanistan durch das US-Militär und verschwindet an die Wein-Bar.
In dem Bericht referiert der Spiegel die Kritik von "Ärzte ohne Grenzen" an der Bombardierung, ansonsten räsoniert er über die Frage, ob die USA sich vielleicht doch wieder stärker in Afghanistan engagieren sollten, um die Lage besser im Griff zu haben. Als hätte die bisherige Besatzung Afghanistan das Land zu einem Hort der Sicherheit gemacht. Unter Kritik an der militärischen Omnipräsenz der USA hatte ich mir was anderes vorgestellt.
Ich schlage das Heft zu. Auf dem Titelblatt fliegt ein Bombenflugzeug auf den Leser zu. Putin sitzt drin, und die Schlagzeile alarmiert: "Putin greift an". Kurz darauf steht der Faktenprüfer am Tisch neben mir, und ich frage ihn, mit Verweis auf das aktuelle Titelblatt, ob es im August 2014, als Obama das erneute Bombardement des Irak beschloss, einen vergleichbaren Titel gegeben hätte. Er sagt zögernd, er wisse es nicht, aber vermutlich wohl nicht, denn schließlich gäbe es einen entscheidenden Unterschied zwischen Obama und Putin. Ich bin gespannt. Der Faktenprüfer erklärt mir, Putin würde mit seinem Einsatz in Syrien ein eiskaltes Machtspiel betreiben.
Ich frage den Mann der Fakten, ob dieser Krieg denn nicht mit den Machtinteressen der USA begonnen habe. Ich vertrete die Meinung, dass diese mit ihrem Interesse an Öl in den Irak eingefallen seien und nun syrische Rebellen bewaffnen, um auch in Syrien Land zu gewinnen, und dass Russland als militärischer Verbündeter Syriens doch kaum anders könne, als hier aktiv zu werden.
Nun wird mein Gesprächspartner ungehalten, er findet, ich hätte ein völlig verschrobenes Weltbild. Wahrscheinlich seien nach meiner Ansicht die USA schon 2003 im Irak einmarschiert, mit dem Plan, 2015 Syrien zu erobern. Es ist klar, er will mir eine Verschwörungstheorie anhängen.
Ich frage ihn, ob ich jetzt das Bild bestätigen soll, das er von mir hat oder ob ich sagen soll, was ich denke.
"Na, sagen Sie halt, was Sie denken", knurrt er.
Ich sage, dass nicht ein einziges Land, das die USA in ihrem Engagement für freiheitliche Werte bombardiert haben, nun bessere, sprich freiheitlich-demokratischere Verhältnisse hätte. Eher im Gegenteil. Und da kömten einem doch schon Zweifel an den Motiven kommen.
Der Faktenprüfer bemerkt verdrießlich. "Alle westlichen Interventionen waren falsch."
Ich bin überrascht. Wir sind uns einig! Offenbar hätte ich von Anfang an nicht von Bombardierungen und Angriffen sprechen sollen. Man muss das Morden und Massensterben "westliche Intervention" nennen, damit man von Spiegelredakteuren ernst genommen wird.
Der Faktenprüfer sagt sogar, er halte sowohl Obama als auch Putin für gefährlich, nur Putin fände er eben doch etwas schlimmer. Weil der eben nach der Weltmacht greifen wolle.
Nun muss ich leider schon wieder einhaken. Ich erwähne das Militärbudget der USA, das mit ca. 600 Mrd. mindestens acht mal so groß ist wie die 80 Mrd. von Russland. Dazu noch einmal die knapp 400 Mrd. Budget der übrigen NATO-Länder. Ich nenne die mindestens 800 ausländischen Militärbasen der USA, in denen auch manchmal gefoltert wird, und finde, dass wir es hier doch viel eindeutiger mit einem eiskalten Streben nach bzw. Erhalten der Macht zu tun haben, um nicht zu sagen mit einer globalen Militärdiktatur.
Der Faktenprüfer sieht mich entgeistert an, woher ich denn bitte diese Zahlen hätte. Ich schaue ebenso entgeistert zurück. Soll es wirklich wahr sein, dass der professionelle Faktenprüfer diese wichtigen Zahlenargumente der Friedensbewegung nicht parat hat?
Er gießt sich ein Glas Rotwein ein, trinkt es aus und schüttelt den Kopf. Niemand sei so gefährlich wie Putin, erklärt er noch einmal.
Vor mir steht offenbar das nachhaltige Ergebnis von vierzig Jahren Kalter Krieg. Wem von Geburt an Angst vor dem Russen gemacht wurde, der kann vielleicht gar nicht anders, als den Russen fürchten. Als Ostdeutsche habe ich zwar nicht grad ein Liebesverhältnis zu Russland, aber diese Angst kann ich nicht teilen. So weit ich weiß, hatte Russland niemals den Plan, Westdeutschland zu überfallen, und es gab auch keine derartigen Versuche.
Ganz sicher brauchte man die Angst vorm Russen aber, um eine neue Spirale des Wettrüstens zu begründen, und da sitzt sie nun tief in den Köpfen und Herzen, die Angst, und prägt das persönliche Weltbild. Angst macht für Fakten blind. Anders kann ich mir die felsenfeste Überzeugung des Faktenprüfers von der übermächtigen Bedrohung durch den Russen nicht erklären.
Die Überzeugung aber ist eine gefährliche Sache, hat mir mal jemand erklärt, der in der DDR wirklich gelitten hat. Sie gibt den schlimmsten Taten den Anschein des Guten.
Ich habe den Verdacht, dass der Spiegel seine Redakteure schon immer aus der Menge der ganz Überzeugten rekrutiert hat. Am Anfang, als das Magazin unter dem Auge der britischen Besatzung gegründet wurde, war das ganz bestimmt so. Und nach beinahe siebzig Jahren Spiegel-Existenz scheint es, als einten Redakteure und Leser der tiefe Glaube an den Nutzen und guten Willen der US-Regierung und ihrer verbündeten NATO-Staaten. Auch wenn Millionen Menschen auf dieser Welt unter dieser Wirtschafts- und Militärdiktatur zu leiden haben, an Bomben oder an Hunger krepieren.
Für den Überzeugten sind das alles keine Verbrechen, sondern Kollateralschäden, Fehler, Versagen oder Unvermögen, das man auch mal kritisieren kann, doch Verbrechen sind das nicht. Verbrechen begehen nur Russen und die Diktatoren von Ölländern.
Dabei haben die überzeugten Deutschen sich doch schon einmal Verbrechen schön geredet. Sollte nicht auch die Welt von der drohenden Gefahr des "Bolschewismus" befreit werden, als zig Millionen Russen unter dem Wüten der Deutschen Wehrmacht starben? Hat der überzeugte Deutsche viel aus seiner Geschichte gelernt, wenn er nun für die "Befreiung von Diktatoren" wieder einmal das sinnlose Sterben von Millionen für richtig hält? Da kann einem doch nur Angst und bange werden, wenn nun auch das russische Staatsoberhaupt so vehement zum Diktator erklärt wird. Mit solchen Erklärungen wurde bislang schließlich jeder Angriffskrieg der NATO vorbereitet.
"Es geht doch gar nicht um die Befreiung von Diktatoren", sage ich laut. "Hier geht es doch auch nur um Macht. Um die Macht der USA, der NATO, und um Ressourcen natürlich."
Es ist spät und wir haben schon viel Wein getrunken. Außer uns ist nur noch der Mitgast da, der so bewundernswert sachlich fragen kann.
Der Faktenprüfer sagt nichts mehr. Er trinkt seinen letzten Rotwein aus und verabschiedet sich. Sichtlich erschöpft geht er davon. "Sie haben ja Recht", ruft er plötzlich aus, bevor er hinter einer Tür verschwindet.
"Wenn sie betrunken sind, hören sie auf, sich was vorzumachen", orakelt mein Mitgast. "Morgen hat er’s bestimmt schon wieder vergessen." Das glaube ich auch.
Und inzwischen glaube ich nicht mehr, dass viel geheimdienstliche Kontrolle beim Spiegel nötig ist, um das Verständnis für die USA auf Linie zu halten. Die Redakteure, die hier arbeiten, werden schon alle die "richtige Überzeugung" haben. Und falls doch mal Zweifel kommen, hat George W. Bush, mit Maschinengewehr und Patronengürtel ja ein Auge drauf.
Vielleicht würden die Überzeugten ins Wanken geraten, wenn anstelle des Präsidenten-Rambo die Porträts missgebildeter Kinder aus dem Irak vor dem Konferenzraum hingen. Als lebende Dokumentation für den fortlaufenden menschenverachtenden Einsatz nuklearer Waffentechnik durch die USA. Ob ein solcher Bildwechsel in den nächsten dreißig Jahren möglich ist, wage ich zu bezweifeln.
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