Künstliche Beatmung fürs globale Finanzsystem
Nach dem Brexit-Votum
Die Entscheidung der Mehrheit der britischen Bevölkerung, die EU zu verlassen, hat drei Entwicklungen verdeutlicht: 1. Medien und Politik in Europa verlieren zusehends die Fähigkeit, die öffentliche Meinung zugunsten der Finanzindustrie zu manipulieren. 2. Das globale Finanzsystem kann Erschütterungen wie nach dem Brexit-Votum nur noch durch ein koordiniertes Eingreifen der Zentralbanken überstehen. 3. Der Machterhalt der Finanzelite und das System der parlamentarischen Demokratie sind auf Dauer nicht miteinander vereinbar.
Brexit-Votum hatte mit Demokratie nichts zu tun
Das Brexit-Votum zielte nicht darauf ab, dem britischen Volk die Entscheidung über die eigene Zukunft zu überlassen. Es war ein taktisches Manöver, mit dem die Cameron-Regierung die eigene Politik zur weiteren Begünstigung der Finanzelite absichern wollte. Trotz einer Manipulations-Kampagne von historischem Ausmaß ist dieses Manöver misslungen.
Das Brexit-Manöver war nicht das erste seiner Art in der EU. Vor knapp einem Jahr ließ die griechische Regierung die Bevölkerung (auf Grund einer eklatanten Fehleinschätzung der Stimmung im Land) über die Austeritätspolitik abstimmen. Obwohl die überwältigende Mehrheit sich für ein Nein ("Oxi") entschied, verschärfte die Regierung ihre gegen die arbeitende Bevölkerung gerichtete Sparpolitik sogar noch.
Zwar werden Wirtschaft und Politik - entgegen aller anderslautenden Beteuerungen - auch im Falle Großbritanniens alles unternehmen, um die Entscheidung gegen die EU-Mitgliedschaft rückgängig zu machen. Das wird aber nicht verhindern, dass das Brexit-Votum wegen der Bedeutung Großbritanniens als fünftgrößter Wirtschaftsmacht der Erde und als Sitz des Finanzplatzes der City of London international wesentlich höhere Wellen als das Oxi-Votum in Griechenland schlägt.
Einerseits hat es den EU-Gegnern in ganz Europa Auftrieb gegeben und dem politischen Establishment damit einen schweren Schlag versetzt. Die Parteien, die das Schicksal Europas in den vergangenen Jahrzehnten bestimmt haben, werden in der nahen Zukunft weiter an Rückhalt in der Bevölkerung verlieren, während nationalistische Strömungen an Zulauf gewinnen werden. Andererseits haben die Schockwellen an den internationalen Finanzmärkten erneut gezeigt, wie eng das Geschehen eines einzelnen Landes mit der riesigen globalen Finanzmaschinerie verknüpft ist und wie sehr diese mittlerweile am Tropf der Zentralbanken hängt.
Das Finanz-System muss permanent reanimiert werden
Sofort nach Bekanntwerden des Brexit-Votums kam es zu den schwersten Erschütterungen an den internationalen Finanzmärkten seit 2008. Die Zentralbanken reagierten umgehend, stellten Liquidität in dreistelliger Milliardenhöhe zur Verfügung, kauften Anleihen auf und griffen direkt in die Aktienmärkte ein. Die Chefs der wichtigsten Zentralbanken in den USA, Europa und Asien verkündeten einhellig, dass sie alles Notwendige unternehmen würden, um eine Krise wie 2008 zu vermeiden.
Ihnen bleibt auch gar nichts anderes übrig. Das globale Finanzsystem ist seit 2008 klinisch tot und wird nur durch die ständige Injektion immer neuen Geldes künstlich am Leben erhalten. Doch die für die lebenserhaltenden Maßnahmen zuständigen Zentralbanken sind heute in einer wesentlich schlechteren Lage als 2008: Von ihren beiden wichtigsten Optionen - der Senkung des Leitzinses und dem Drucken von Geld - ist die erste so gut wie ausgereizt: Der Leitzins liegt fast überall entweder nahe Null, bei Null oder bereits im negativen Bereich. Insbesondere die US-Notenbank Federal Reserve steht mittlerweile mit dem Rücken zur Wand: Eine Zinssenkung unter Null würde die Rolle des US-Dollars als weltweite Reservewährung beenden und damit die wichtigste Stütze der US-Finanzmacht beseitigen.
Den Zentralbanken bleibt also gar nichts anderes übrig, als weiterhin Geld zu drucken. Doch die Mengen, die zur Stützung des Systems nötig sind, werden immer größer und führen - wie die historische Erfahrung zeigt - irgendwann in eine Hyperinflation. Dass diese bisher noch nicht eingetreten ist, liegt daran, dass die Weltwirtschaft seit 2008 stagniert und der größte Teil des bisher gedruckten Geldes in den Finanzsektor (also die Spekulation, vor allem im Bereich der Derivate) geflossen ist und dort riesige Blasen erzeugt hat.
Genau dieser Prozess aber verstärkt sich gegenwärtig selbst: Da in der Realwirtschaft auch weiterhin kaum Gewinne gemacht werden, wird weltweit in erster Linie in den Finanzsektor investiert. Da das klassische Verleih-Geschäft der Banken bei Null- und Minuszinsen nicht mehr funktioniert und Einleger für ihre Gelder keine Zinsen mehr erhalten, sind selbst bisher vorsichtige Anleger wie die Pensionskassen gezwungen, sich am internationalen Spekulationscasino zu beteiligen und immer größere Risiken einzugehen. Privatleute, die für ihr Geld ebenfalls so gut wie keine Zinsen mehr erhalten, investieren ihr Geld zunehmend in einen bereits vollständig überhitzten Immobilienmarkt.
Das Geschehen ähnelt einem Kettenkarussell, das sich immer schneller dreht. Politik und Wirtschaft verhalten sich wie der Betreiber, der seinen Fahrgästen zuruft, es sei alles in Ordnung. Der unabhängige Beobachter aber weiß, dass sich die Gesetze der Fliehkraft irgendwann durchsetzen und die Fahrt außer Kontrolle geraten lassen werden. Die Frage ist nur: Wie viele Umdrehungen hält das Karussell noch aus, bevor die Ketten der Sitze aus der Verankerung fliegen? Die Frage im globalen Finanzsystem (die zurzeit niemand beantworten kann) lautet: Welche Mengen an Geld können noch gedruckt werden, bevor es zur Hyperinflation - also zur vollständigen Geldentwertung - kommt?
Wie lange kann sich die Finanzindustrie den Parlamentarismus noch leisten?
Das größte Problem der vor uns liegenden historischen Periode besteht darin, dass die Diktatur der Finanzindustrie mit unerbittlicher Konsequenz zu einer weiteren Senkung des Lebensstandards der arbeitenden Menschen und damit zu immer schärferen sozialen Auseinandersetzungen führen wird. Da die Menschen sich in demokratischen Abstimmungen trotz aller Manipulationsversuche seitens des großen Geldes immer häufiger gegen dessen Institutionen stellen, lautet die entscheidende Frage: Wie lange wird die Finanzindustrie noch auf das System der parlamentarischen Demokratie setzen?
Am Beispiel Griechenlands hat die EU im Verbund mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Zentralbank (EZB) bereits gezeigt, dass sie im Ernstfall bereit ist, demokratischen Mechanismen eine Abfuhr zu erteilen und auf die Diktatur einer nicht gewählten Institution (der Troika) zu setzen. Die nach dem Brexit-Votum erfolgte Erklärung der EU-Kommission, dass das europäisch-kanadische Handelsabkommen CETA ohne Mitwirkung der nationalen Parlamente beschlossen werden soll, ist ein deutliches Zeichen in diese Richtung.
Dass die EU-Kommission derzeit mit Schottland über ein mögliches Separatabkommen verhandelt, ist ebenfalls als Warnung gedacht: Die Gespräche untergraben nicht nur die staatliche Souveränität Großbritanniens (als dessen Teil Schottland abgestimmt hat), sondern sollen Spanien klar machen, dass eine Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft Folgen für die Unabhängigkeits-Bestrebungen Kataloniens haben könnte.
Die EU-Führung hat in den vergangenen Tagen weder den geringsten Respekt vor der Entscheidung der britischen Bevölkerung noch einen Hauch von Selbstkritik erkennen lassen. Im Gegenteil: Die höhnische Art, mit der EU-Kommissionspräsident Juncker die Umgehung der Parlamente im Falle des CETA-Abkommens angekündigt hat, zeigt eindeutig, dass die EU nach der jahrelang im Interesse der Finanzindustrie betriebenen Aushöhlung der Demokratie nicht etwa umkehren, sondern auch noch ihre letzten Überreste abschaffen will.
Ernst Wolff ist freier Journalist und Autor des Buches "Weltmacht IWF - Chronik eines Raubzugs", erschienen im Tectum-Verlag, Marburg.