Kulisse und Treibsatz der Eventkultur

Das Kaufhaus Wertheim am Leipziger Platz um 1920. Bild: Waldemar Titzenthaler

Attraktiv, authentisch, animierend: Mega-Ereignisse suchen den städtischen Kontext

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Vom amerikanischen Regisseur und Komiker Woody Allen stammt der schöne Satz: "Ganz ohne Frage gibt es eine Welt des Unsichtbaren. Das Problem ist, wie weit ist sie vom Stadtzentrum weg, und wie lange hat sie offen?" Das Bonmot ist durchaus hintergründiger, als es zunächst den Anschein hat. Denn irgendwie hängen das außergewöhnliche Ereignis und die City ja tatsächlich zusammen. Was wiederum auch schon Tradition hat: Bereits der spätere Reichskanzler Gustav Stresemann urteilte über das 1905 eingeweihte Kaufhaus Wertheim am Leipziger Platz in Berlin: "Wenn man heute in einer Familie hört: Wir gehen zu Wertheim, so heißt das nicht in erster Linie, wir brauchen irgendetwas, sondern man spricht von einem Ausfluge, den man etwa nach einem schönen Ort der Umgegend macht."

Just dieser Erlebnischarakter scheint mittlerweile zum grundsätzlichen Wesenszug avanciert. Beispielsweise zeigt sich die vielerorts durchgeführte "Lange Nacht der Museen" als überaus durchschlagkräftige Marketing-Idee, so dass man sie flugs um die "Nacht der Wissenschaften" ergänzen musste. Welche zwingende Rolle gerade die Innenstädte als Erlebnisraum heute spielen, machen auch diverse, dynamisch zunehmende Sportereignisse deutlich: Ob nun City-Marathon, Inline-Skating oder Beach-Volleyball - gesucht wird die Unmittelbarkeit des live-acts, das authentische Feeling, die kinetische Energie einer in Dynamik versetzten Masse. Und offenbar braucht es die städtische Kulisse, vor der diese Events erst ihre eigentliche Wirkung entfalten.

Ganz neu ist das nicht: Solche Ereignisse und Festivitäten gehören seit jeher zur Stadt. Zugespitzt kann man sagen, dass es gerade die Events - einerseits vielfältigste Marktaktivitäten, andererseits religiöse Feste und Darbietungen - waren, die eine Besonderheit urbanen Lebens und den Unterschied zum Land ausmachten. Bereits im antiken Athen kamen die klassischen Tragödien meist im Rahmen festlicher Dichterwettbewerbe zur Aufführung; auf der Agora wirkte der Philosoph Sokrates öffentlichkeitswirksam auf seine Mitbürger ein. Und in Olympia wurde, mit global nachhaltiger Wirkung, der Typus des Sportfests begründet. Wobei die Olympischen Spiele der Antike auch deswegen unvergleichlich waren, weil sie als gesellschaftliches Forum dienten, indem sowohl das Volk als auch Diplomaten und politische Vertreter aus allen Teilen der griechischen Welt zusammenkamen.

Legendär freilich ist Rom: Mit dem Ausdruck "panem et circenses" kritisierte der Dichter Juvenal schon vor 2000 Jahren, dass das römische Volk - nunmehr ängstlich und entpolitisiert - sich nur noch diese beiden Dinge wünsche: Brot und Spiele. Und über Kaiser Trajan wird berichtet, er habe Massenunterhaltungen besonders gepflegt, in der festen Meinung, dass das römische Volk insbesondere durch zwei Dinge, Getreide und Schauspiele, sich im Bann halten lasse.

Encierro in Pamplona. Bild: Johnbojaen. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Das urbane Spektakel erweist sich als historisch weitverbreitet. Man denke nur an Pamplona, das vor allem für die alljährlichen Sanfermines berühmt geworden ist. Deren größte Attraktion sind zweifellos die Stierläufe (spanisch encierros), die jeden Morgen durch die Straßen zwischen den am Rand der Altstadt gelegenen Ställen und der Stierkampfarena stattfinden. Oder den Karneval in Venedig: Schon zu Zeiten der Serenissima wurden auf der Piazzetta Feuerwerke abgebrannt; Akrobaten und Seiltänzer traten auf; dem staunenden Publikum wurden wilde und exotische Tiere in Zwingern präsentiert, ansonsten gab es Lotterien, Astrologen weissagten die Zukunft, Quacksalber verkauften Heilmittel. Und tausende von masqueraders liefen in den mit Fackeln beleuchteten Straßen und Plätzen förmlich Amok. Vielleicht darf man im Christopher-Street-Day, dieser oft burlesken Straßeninszenierung der Schwulen- und Lesbenszene, ein neuzeitliches Äquivalent dafür sehen.

Mit der Virtualisierung wächst das Bedürfnis nach "echtem Raum"

Allerdings, die Dimensionen der Eventisierung sind neu. Das hat damit zu tun, dass unsere Gesellschaft einem so gravierenden wie schleichenden Wandel unterliegt, der in Begriffen wie Erlebnis-‚ Risiko-, Informations- oder Multi-Optionsgesellschaft fassbar gemacht werden soll. Zwar vermag der Kanon dieser Schlagworte kein klares Verständnis ihres Inhalts zu generieren, ein neuer Begriff von Identität aber ist in jedem Falle vonnöten. Diese wiederum ist ohne eine gewisse Raumbindung auch heute nicht zu haben. Denn die mediatisierte Öffentlichkeit schafft es nicht, die räumlich erfahrbare zu ersetzen. Und sie wird auch nicht als Ersatz empfunden.

Ein bisschen überraschend kommt das schon. Noch vor 15-20 Jahren ist uns prophezeit worden, dass die Menschen in Zukunft vorwiegend vor Bildschirmen und unter Datenhelmen hocken, um sich in einer bloß virtuellen Realität, auf Daten-Autobahnen und im Cyberspace, nicht mehr körperlich, sondern nur noch fiktiv zu tummeln. Nun weiß man, dass das eher ein Orakel war. Eher stimmt das Gegenteil: Je mehr die Gesellschaft in abstrakten Netzen kommuniziert, arbeitet oder einkauft, desto stärker scheint umgekehrt das Bedürfnis nach "echtem Raum" zu sein.

Nicht nur Ansprachen, Konzerte und Feste finden noch draußen statt, auch bestimmte Ansprüche auf öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung verlangen geradezu nach ostentativer Kundgabe im öffentlichen Raum: Beispielsweise durch Demonstrationen, Streikversammlungen, Umzüge und dergleichen. Der öffentliche Raum ist nach wie vor eine Bühne, auf der sich die Gesellschaft - auch visuell - artikuliert. Freilich kommt dafür weder Suburbia, noch die grüne Wiese oder irgendein Gewerbegebiete in Betracht. Die Staffage muss schon stimmen. Deshalb geben Plätze, Fußgängerzonen, Parks und zentrale Straßenzüge diejenigen Orte ab, an denen personale Selbstdarstellung und Inszenierung geübt und praktiziert wird.

Bild: jakester. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Was Jürgen Habermas vor geraumer Zeit den "Strukturwandel der Öffentlichkeit" genannt hat, erweist sich längst als ein Strukturwandel der Teilöffentlichkeiten. Diese definieren sich immer weniger über Politik, Diskurse, Bildung oder Soziales, dafür immer mehr über Bilder und Rituale: über Moden, Konsumverhalten, Lifestyles, Sport und Musik. Viele öffentliche Orte sind deshalb "partikular" - zwar im Prinzip für alle zugänglich, de facto aber einer bestimmten Gruppe zugeordnet. Eine solche (Um)Deutung des öffentlichen Raumes stellt seine Nutzung etwa für Skateboarding, BMX, Breakdance oder "Le Parcous" dar - eine in den Pariser Vorstädten entstandene Bewegung, die die vorhandene Architektur wie einen Hindernisparcours nutzt. Hier tummeln sich sportbegeisterte Jugendliche mit starken subkulturellen Gruppenbindungen und -dynamiken. Mögen diese Sportarten auch längst Eingang in das Branding einschlägiger Firmen (Nike, Puma, adidas etc.) gefunden haben, so weist die Okkupation der Räume immer noch einen subversiven Charakter auf.

Die Stadt des kollektiven Spektakels

Dass es gerade in den Städten ein starkes Bedürfnis nach einem ritualisierten, inszenierten Spektakel gibt, darauf hat der Situationist Guy Debord in seinem Buch "Die Gesellschaft des Spektakels" bereits 1967 kritisch hingewiesen. Daraus hat sich nun eine Theorie entwickelt, derzufolge insbesondere die Singles auf der Suche nach inneren und äußeren Erlebnissen die traditionelle Sesshaftigkeit und die sozial- und realräumliche Bindung an den Wohnort abgestreift hätten. Wie spätmoderne Stadtnomaden würden sie die Stadt als Kulisse ihrer eigenen Darstellung und als Bühne ihrer Selbst-Inszenierung benutzen. Ihr Wohnraumbedarf würde dabei die stadtspezifische Teilung der Lebenswelten in öffentliche und private Sphären sprengen: Singles beschlagnahmten den Stadtraum und machten ihn zu ihrem Wohnzimmer, zum Repräsentations-, Spiel- und bei Bedarf auch zum vernetzten Arbeitsraum.

Ähnliches lässt sich beim Konsum beobachten. Seit in den 60er und 70er Jahren allerorts die Fußgängerzonen sprossen, und seit aus dem Einkauf für den täglichen Bedarf die postmoderne Freizeitbeschäftigung "Shopping" geworden ist, bemächtigt es sich mehr und mehr der Stadt. Das hat tiefergehende Gründe. So notiert etwa der Bamberger Sozialwissenschaftler Gerhard Schulze, Erlebnisorientierung sei "die unmittelbare Form der Suche nach Glück".

Während jahrzehntelang der Gebrauchswert von Produkten im Mittelpunkt des Konsums stand, nimmt diesen Platz mehr und mehr ein Erlebniswert ein. Das lässt sich unmittelbar in der Werbung ablesen. Statt Haltbarkeit, technische Perfektion oder Zweckmäßigkeit zu betonen, locken uns die Angebote mit schönem Ambiente, aufregenden Situationen und außergewöhnlichem Lebensstil. Im praktischen Alltagsverhalten der Menschen schlägt sich das auch räumlich nieder, weil Erleben und Glück augenscheinlich nicht nur in der privaten Sphäre - sei's vorm Fernseher oder im Bett, sei's im Sportstudio oder an der Theke - gesucht und gefunden werden.

Shopping ist ein Event. Achtzig Prozent unserer Einkäufe haben, wie die Demoskopie zu vermelden weiß, nichts mit der Grundversorgung zu tun. Stattdessen wollen wir etwas erleben. Nicht mehr Preis- oder Qualitätsorientierung des Kunden sind maßgeblich, sondern Surrounding und Kaufmotive. Ganz augenscheinlich entscheidet beim Einkaufen das Gefühl, nicht nur Güte, Bedarf und Brauchbarkeit.

Plötzlich ist der Stadtraum zum ökonomischen Faktor für den Erfolg des Einzelhandels geworden. Das Geschäft läuft nicht (mehr), wenn die Anmutungen des benachbarten Milieus, die atmosphärischen Qualitäten auch außerhalb des eigentlichen Ladens nicht stimmen. Die zeitgenössische Handelsarchitektur sucht nun eben jenes städtische Milieu, das die industrielle Handelskultur weithin überwunden glaubte. Und die res publica, der öffentliche Raum der Stadt, wird mehr denn je zu einer kommerziellen Kategorie, zu einer Art Fruchtwasser, in dem der Einzelhandel sich neu gebiert. Das performative Aufpeppen der City steht aber beileibe nicht nur im Interesse des Handels: Vollmundig sprechen viele Kommunen davon, dass die Attraktivität, Anmutung und Aufenthaltsqualität des Innenstadtraums gestärkt werden müsse.

Sightseeing mit dem Fahrrad (München, vor der Residenz). Bild: TP

Entsprechend vermischen sich nun jedoch auch die Sphären von Stadt und Event. So hat sich etwa rund um die jährlich stattfindende Segelregatta der "Kieler Woche" - dem maritimen Großereignis schlechthin - das größte Sommerfest im Norden Europas etabliert. Entlang der Kiellinie und auf dem Willy-Brandt-Ufer sind Bühnen und Stände aufgebaut, auf dem Rathausplatz und in der Fußgängerzone werden Spezialitäten verschiedener Länder angeboten; parallel finden unterschiedlichste Kulturveranstaltungen statt. Aber auch das Münchner Oktoberfest, als lang tradiertes regionales Brauchtum, reüssiert als außergewöhnliche, multisensuale Echtzeitveranstaltung: Fraglos eine tourismusfördernde Folklore - aber eben nicht nur.

Es geht um das kollektive Erleben in Echtzeit und am realem Ort. Nur so lässt sich erklären, dass das public viewing nicht nur bei Fußballbegeisterten Freudengefühle auslöst. Gemeinsamkeit scheint überhaupt einen neuen Stellenwert erreicht zu haben: Museen und Denkmäler werden im Kollektiv besucht, mehr oder minder homogene Touristen-Pulks durchstreifen mit Leihfahrrädern die Städte; ausgesuchte Kneipentouren erfreuen sich eines generationsübergreifenden, internationalen Klientels, Kunstvermittler bieten das geführte "Galerie-Hopping" an, selbst das Spazierengehen wird in organisierter Truppenform praktiziert, und zwar nicht nur, wenn die Sehenswürdigkeiten des Baedecker, Weihnachtsmärkte oder Fastnachtsumzüge das Ziel darstellen.

Was bedeutet das nun? Man mag die wachsende Wertschätzung des kollektiven Erlebnisses als Derivat der Popkultur abtun, man kann (zurecht) die zunehmende Kommerzialisierung der Innenstädte beklagen. Doch der öffentliche Raum konstituiert sich immer wieder neu, bleibt sich gleichwohl darin treu, dass er ein Multioptionsraum ist, dessen Nutzung sich kaum festschreiben lässt. Heute dient er als Erlebnis-Raum, der vielerlei Formen des Freizeitverhaltens ermöglicht. Eine Loveparade braucht es dafür nicht unbedingt. Denn - sei es im Englischen Garten in München, an den Alsterarkaden in Hamburg oder am Winterfeldtplatz in Berlin - durchaus genussvoll werden diese Räume öffentlich konsumiert. Und zwar: einfach so.