Kundus-Angriff kommt vor deutsche Gerichte
Die Bomben auf zwei Tanklaster in Nordafghanistan kosteten 139 Menschenleben. Nun soll über Entschädigung befunden werden
Bei einem NATO-Bombenangriff auf zwei voll befüllte Tanklastwagen nahe der nordafghanischen Stadt Kundus wurden Anfang September 2009 139 Zivilisten getötet. Offenbar entgegen der Dienstvorschriften hatte der deutsche Oberst Georg Klein den Angriff durch US-Kampfflugzeuge angeordnet, obgleich keine eigenen Truppen gefährdet waren (War der Befehl zum Abwurf der Bomben falsch?). Nach einer eher ernüchternden parlamentarischen Untersuchung wird der Fall nun deutsche Gerichte befassen: Ein Team um den deutsch-afghanischen Rechtsanwalt Karim Popal will zivilrechtlich um Entschädigung für die Angehörigen der Opfer streiten.
Die Bundesregierung hatte den Familien zwar bereits 5000 US-Dollar "Ex-gratia-Leistung" ohne Anerkennung einer Rechtspflicht" gewährt (Bundesregierung: Opfer des Luftangriffs in Kundus haben keinen Anspruch auf Entschädigung). Doch in vielen Fällen seien selbst diese Gelder nicht bei den Familien angekommen, berichteten Popal und der Vorsitzende der Juristenorganisation IALANA, Otto Jäckel, am Donnerstag in Berlin.
Im Rahmen eines zivilrechtlichen Prozesses sollen deswegen 33.000 US-Dollar (rund 23.000 Euro) pro Opfer erstritten werden. Immerhin seien die meisten der Opfer des mutmaßlichen Kriegsverbrechens Männer gewesen, deren Frauen und Kinder seither in großer Not leben, so Popal und Jäckel. Die Höhe der geforderten Entschädigung bemesse sich an vergleichbaren fällen, versicherten sie.
Der Bombenangriff von Kundus ist der schwerwiegendste tödliche Zwischenfall, in den deutsche Truppen seit Ende des Zweiten Weltkriegs verstrickt waren. Bei dem Angriff am Morgen des 2. September 2009 verbrannten in den Flammen der von Taliban gekaperten und später zerbombten Tanklaster 139 Zivilisten, Männer Frauen und Kinder. Angeordnet hatte den Angriff US-amerikanischer Kampfpiloten der NATO-Verbände der für die Region zuständige Bundeswehr-Oberst Georg Klein.
Nach Ansicht von Jäckel beging der deutsche Militär schon mit der Order einen schwerwiegenden Regelverstoß. Zweimal hätten die US-Piloten nachgefragt, ob Besatzungstruppen unmittelbar in Gefahr seien - eine Voraussetzung für solche Angriffe. Zweimal habe Klein "confirmed" zurückgefunkt: "Bestätigt".
Anwalt klagt über Kampagne des Verteidigungsministeriums
Die vorsätzliche Gefährdung von Zivilisten durch den verantwortlichen Bundeswehr-Oberst Klein hatte von Beginn an die Gemüter erhitzt. Ebenso die Vertuschungstaktik der Regierung, die dem Christdemokraten Franz Josef Jung kurz nacheinander das Amt des Verteidigungsministers und wenig später auch das des Arbeitsministers kostete.
Die Anwälte der Opfer kämpfen nach eigenen Angaben bis heute gegen das Ministerium, dessen Unmut vor allem der Hamburger Popal zu spüren bekam. Einen wahren Propagandafeldzug habe das Verteidigungsministerium gegen ihn gestartet, sagte der Jurist am Donnerstag. So habe das Ministerium behauptet, dass er für die Klagen der Opferfamilien keine Vertretungsvollmacht habe. "Dabei habe ich 74 dieser Vollmachten", sagt Popal und hält ein solches Dokument in die Kamera. Später sei behauptet worden, er vertrete die Taliban. "Eine Unverschämtheit", entgegnet der Anwalt, dessen Rechercheur in Kundus selbst Opfer der Aufständischen wurde. Die dritte These aus deutschen Ministeriumskreisen sei gewesen, dass er nur aus Geschäftsinteresse handle. Doch weder Popal noch die anderen Anwälte berechnen Honorare.
Vor Klageerhebung holte der Jurist daher zum Gegenschlag aus. Ein Großgrundbesitzer in der Region Kundus, Omara Khan, habe im vergangenen Jahr 50.000 Euro erhalten, um im Dorf Aliabat nahe des Orts des Angriffs eine Straße zu bauen. Doch diese Straße gibt es bis heute nicht. Stattdessen wurde Khan wegen Unterschlagung der Gelder 15 Tage inhaftiert und kam erst auf Intervention des Provinzgouverneurs wieder frei. Von dem Geld fehlt bis heute jede Spur. Popal ist sich sicher: "Das waren Schmiergelder aus Deutschland, um den Widerstand gegen mich zu schüren und Aussagen zu erkaufen." Darauf wiesen Informationen aus afghanischen Justizakten und Zeugenaussagen hin.
Rechtlichen Folgen von Vergehen deutscher Soldaten unklar
Dass der Kundus-Fall dennoch vor Gericht kommt, liegt an Einsatz mehrerer deutscher Anwälte um Popal. Sie wollen, so führte IALANA-Chef Jäckel aus, die Menschenrechte in den laufenden Kriegen stärken. Denn während die Bundesregierung sich beim Kundus-Bombardement unwillig zeigt, werde der bisherige libysche Staatschef wegen Angriffen auf zivile Ziele immerhin vom Internationalen Strafgerichtshof gesucht.
Dass die deutsche Justiz im Falle mutmaßlicher Kriegsverbrechen deutscher Truppen gar nicht so weit kommt, ist laut Jäckel strukturell begründet. Als "politischer Beamter" kann der Generalbundesanwalt jederzeit ohne Angaben von Gründen abberufen werden. Diese äußerst fragwürdige Praxis, die dem Prinzip der Gewaltenteilung entgegensteht, wird auch vom Europarat nicht gerne gesehen, der die Mitgliedsstaaten dazu anhält, dass "Staatsanwälte ihre Aufgaben ohne ungerechtfertigte Einmischung erfüllen können". Auch die klageführenden Anwälte, so Jäckel, hätten bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen müssen, um Akteneinsicht zu bekommen. In vielen Fällen würden die Akten zum Fall nach wie vor unter Verschluss gehalten.
Dieser Widerstände zum Trotz bietet die Klage im Kundus-Fall nun eine Chance, dass - wie es am Donnerstag bei der Präsentation hieß - die Rechtsgeschichte weitergeschrieben wird. Bislang behandelten ähnliche Fälle vor allem Verbrechen deutscher Truppen während des Zweiten Weltkrieges.
Im Fall des Massakers im griechischen Dorf Distomo etwa, bei dem 1944 rund 1.800 Bewohner von Wehrmachtssoldaten ermordet wurden, verwies die Bundesregierung stets darauf, dass zum damaligen Zeitpunkt kein zwischenstaatliches Abkommen zwischen Berlin und Athen bestand, das die rechtlichen Konsequenzen solcher Taten definierte. Nach dem NATO-Angriff auf die Morava-Brücke im serbischen Vavarin am Ende Mai 1999, bei dem zehn Zivilisten getötet wurden, musste die Bundesrepublik nur deswegen nicht für die Folgen aufkommen, weil eine unmittelbare Beteiligung der Bundeswehr nicht nachgewiesen werden konnte. Im Fall des Massakers von Kundus steht das aber außer Frage.