LEAF 97 - Medienekstase in Osteuropa

Osteuropa, das in der Darstellung der westlichen Medien oft als ein "Europa zweiter Klasse" porträtiert, dessen Bevölkerung jedoch seit nun bald 10 Jahren mit einem Sperrfeuer kommerzieller Medienbotschaften bombardiert wird, und das von den Info-Entrepreneurs des Westens als ein kommerziell aufzurollender "Wilder Osten" verstanden wird, stand für zwei Tage im Mittelpunkt einer anderen Form von Aufmerksamkeit. Das Symposium "LEAF 97" brachte Medientheoretiker/innen und Praktiker/innen aus Ost- und Westeuropa zusammen und versuchte, bereits entwickelte Ansatzpunkte für eine nachhaltige Entwicklung auf der Basis von Kooperation und Austausch zu vertiefen.

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Referenz URL:www.v2.nl/east/east.html

LEAF, das "Liverpool Electronic Arts Forum" ist die Fortführung einer Arbeit, die mit dem V2_East Meeting im September 96 in Rotterdam im Rahmen des Dutch Electronic Arts Forum 96 in Form eines Workshops ersten öffentlichen Ausdruck fand. Zuvor war bereits, aus der Konferenz Next Five Minutes und den dabei entstandenen Kontakten heraus, die Projektidee entstanden, über eine Mailinglist und durch mehr oder minder regelmäßige Meetings eine bessere Vernetzung von Medienkunstaktivitäten in Ost- und Westeuropa herbeizuführen.
Dabei ist "Vernetzung" erst in zweiter Linie technisch zu verstehen. Die ursprüngliche Projektidee, die im Wesentlichen von Geert Lovink, sowie vom Historiker, Kurator und Organisator Andreas Broeckmann (V2 Organisation) initiiert worden war, hatte vor allem zum Inhalt, vorhandene, aber nicht zugängliche Ressourcen über experimentelle mediengestützte Kunst in Osteuropa zugänglich zu machen. Dieser noch stark von einer kunsthistorischen - wenn auch auf die Gegenwart und jüngere Vergangenheit bezogenen - Sicht beeinflußten Zielsetzung wurde vor allem im Rahmen des V2_East Workshops in Rotterdam Rechnung getragen.

Lisa Haskel, Andreas Broeckmann. Foto Manu Luksch

LEAF 97 war eher auf die Gegenwart bezogen. Die Veranstaltung wurde von Iliyana Nedkova organisiert, einer Kuratorin aus Bulgarien, die als Teil eines Austauschprogramms einige Monate in Liverpool verbringt und dort bei der Organisation FACT arbeitet, die auch die organisatorische Basis für LEAF bereitstellte.
Die zweitägige Konferenz bot sehr vielen Rednern Gelegenheit für eine (allerdings kurze) Präsentation. Zu den Teilnehmern zählten Alexei Shulgin, Rasa Smite, Nina Czegledy, Mare Tralla, Janos Sugar, Tapio Makela, Kathy Rae Huffman, Eva Wohlgemuth, Drazen Pantic u.v.a.

Alexei Shulgin als Trotzki. Foto Manu Luksch

Auffällig war, daß die Konferenz bei so vielen interessanten Teilnehmern beinahe unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, d.h. entweder interessierte sich niemand in Liverpool für Medienkunst aus Osteuropa oder die Werbung war nicht an die richtigen Orte gelangt. Resultat: Publikum und Vortragende waren weitgehend identisch. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es wohl nicht falsch gewesen, die Veranstaltung von vorneherein mehr als Round Table Gespräch oder Workshop zu organisieren. So wurden jedenfalls im konventionellen Konferenz-Format Vorträge und Präsentationen in straffer Folge aneinandergereiht. Wie die zahlreichen Beiträge aus Osteuropa zeigten, kann man eines im Jahr 97 auf jeden Fall nicht mehr tun: Osteuropa in punkto Medienkunst über einen Leisten zu scheren.

Rasa Smite, Riga E-Lab. Foto Manu Luksch

So vielfältig wie die Personen war die Art und die Qualität der Beiträge:

Osteuropäische "Digerati" - Vortragende wie Alexei Shulgin (Moskau WWW Art Centre), Rasa Smite (E~Lab, Riga) oder Drazen Pantic (B92, opennet.org, Belgrad) - sie seien hier nur stellvertretend für viele andere genannt - demonstrierten ohne Mühe, daß sie in konzeptuell künstlerischer und technischer Hinsicht auf dem Stand der Dinge sind, dem Westen in mancher Hinsicht vielleicht schon eine Nasenlänge voraus. Wobei auch jeder Vergleich "Ost-West" bereits einen anachronistischen Zug enthält. Angesichts der internationalen Gültigkeit der Arbeitshypothesen dieser Kategorie von Teilnehmern ist die geographische Verortung als "Ost" möglicherweise eine überholte Sichtweise mit den Scheuklappen eines Westkunstbetriebs.

Lev Manovich. Foto Manu Luksch

Medienekstase und Klagelieder - Andere Präsentationen bemühten eher die Geduld des Publikums. Sie zeigten, daß es z.B. in Mazedonien "auch" Medienkunst gibt und daß sogar in Moldawien schon erste Ausstellungen zum Themenkomplex stattgefunden haben. Bei diesen Beiträgen war vor allem der starke Wunsch, mit Medien zu arbeiten, zu spüren. Auch wenn die Mittel knapp sind und die Konzepte womöglich noch nicht so ausgereift, bzw. medienspezifisch, so vermittelt sich die große Intensität, mit der die Körper danach verlangen, im Performance-Einsatz auf Video gebannt zu werden, oder sich als mentale Cyborgs auf Web-Sites und CD ROMŽs digital verewigt zu sehen. Bei vielen dieser Präsentationen folgte der Begeisterung die Klage auf dem Fuße; die Klage "wir haben so wenig Computer, so wenig Internet-Anschlüsse, alles ist so teuer, usw.". Derartige Klagelieder leisten Westkulturimperialismus Vorschub. Ein unschönes Beispiel dafür lieferte der Vortrag des Franzosen Olivier Schneider, dessen institutionell gestütztes Projekt darauf hinausläuft, daß man - so seine Rede sinngemäß zusammengefaßt - die im materiellen Sinn armen aber kulturell besonders begnadeten Osteuropäer mit Rechnern und Internet-Anschlüssen versorgen müsse, damit der Westen auf diese Weise frische Ideen geliefert bekäme.

Die Skeptiker - Eine dritte und fast zu vernachlässigende Kategorie bildeten die hartgesottenen Internet-Skeptiker. Eine Frau aus Ungarn war extra gekommen, um zu sagen, daß sie das Internet "nicht mag" und daß sie als Reaktion darauf ein Video gemacht habe, das 8 Stunden lang ein Pferd in einer Stallbox zeigt.

Eva Wolgemuth und Kathy Rae Huffman. Foto Manu Luksch

Die Aufteilung in "Digerati", "Ekstatiker" und "Skeptiker" ist natürlich ausgesprochen grob. Im Prinzip müsste eigentlich jeder Beitrag für sich behandelt werden, so unterschiedlich waren die Ansätze bei dieser Konferenz. Insgesamt wurde damit ein wichtiger, wenn auch zu wenig beachteter Beitrag zur Konferenzlandschaft geleistet. Im Moment ist die "Ost-West"-Schiene zumindest noch ein taktischer Hebel, um solche Treffen organisieren zu können, Künstlern aus Osteuropa Visas und Reisemöglichkeiten zu verschaffen. Denn der Charakter eines "Treffens" war für die meisten Teilnehmer wohl essentiell. Wo sonst können sie, die meist tagtäglich per Internet kommunizieren, von Angesicht zu Angesicht (oder "von Brust zu Brust", wie Peter Lamborn Wilson einmal scherzhaft meinte) zusammentreffen und informelle Gespräche führen.

Das zeigte sich besonders bei der "Syndicate"-Diskussion am Ende der Konferenz. "Syndicate" ist der Name der Mailinglist, über die der Ost-West Austausch gepflegt wird. Hier wurden erstmals die Stühle im Kreis herum aufgestellt und es entwickelte sich eine spannende Diskussion um strategische und taktische Fragen. So äußerten einige Teilnehmer Unbehagen darüber, daß die meisten Aktivitäten in Osteuropa in Richtung Medienkunst von den jeweils örtlichen Soros Centres finanziert werden. Fiele diese Finanzierung weg, so bliebe praktisch kaum etwas über. Andere mochten sich dieser Argumentation nicht anschließen, verteidigten die Soros Centres als relativ schlanke und flexible Organisation im Vergleich zu nationalen und europäischen Fördergremien, die nichts vergleichbares zustande gebracht haben.

Dieses Argument sollte insbesondere in der EU einige Leute wachrütteln. Die Fördermöglichkeiten der EU für Medienkultur sind praktisch nicht gegeben, nach Osteuropa geht eigentlich gar nichts, sieht man von R+D Projekten im engeren Sinn ab, doch daran können ja wiederum Künstler nicht partizipieren. Andreas Broeckmann deutete an, daß hier zumindest von Seiten des Europarates ein Interesse bestehe, über Richtlinien zur Förderung der Medienkultur zu beraten und zu dem Thema demnächst eine Konferenz abzuhalten. Doch der Europarat selbst hat kein Geld und kann nur Empfehlungen aussprechen. Die Europäische Kommission in Brüssel müsste sich der Sache annehmen, doch aus dieser Ecke kam bislang kein Zeichen, daß man die Bedürfnisse einer gesamteuropäischen Medienkultur verstanden hätte oder in Zukunft stärker zu fördern suchte. Die EU hat, so sieht es aus, in ihrer bürokratischen Schwerfälligkeit bislang nichteinmal eine geeignete Abteilung, die für dieses Thema zuständig wäre. Das einzige Förderprogramm für Gegenwartskultur in der EU, das Programm "Kaleidoskop" ist für den gesamten Kulturbereich zuständig, seit Jahren schon überlaufen und unterbudgetiert, hat also keine Extrakapazitäten für "Medienprojekte". Die anderen Abteilungen der EU sind entweder auf Forschung und Entwicklung im engeren Sinn zugeschnitten oder als straffe Wirtschaftsförderprogramme konzipiert. Schon alleine wegen der "harten" Vergabekriterien in diesen Programmen, bei denen mögliche Antragsteller aus dem Kulturbereich mit Konsortien von Siemens oder Alcatel wetteifern müssten, machen Anträge aus dem Kulturbereich eigentlich sinnlos.

Die Mitglieder des Syndicate-Diskussionsforums weisen auf jeden Fall die richtige Mischung eines neuen Europäertums auf, um zu diesen Fragen eine Art Think Tank zu bilden. Auf eine genaue Linie wollte man sich aber nicht festlegen, und so blieb auch offen, ob dem "Syndicate", das bislang technisch gesprochen in einer Majordomo-Software besteht, mittelfristig auch eine institutionelle Struktur zu verleihen sei. Daß eine inhaltliche Diskussionsgrundlage gegeben ist, wurde jedoch vor allem mit dieser Abschlussrunde gezeigt, so dass dieses Experiment zur "realexistierenden Vernetzung" auf jeden Fall mit großem Interesse weiter zu verfolgen ist.