"La Nation" in Gefahr

Wider die Fundamentalisten? Chirac entscheidet heute über die religiöse Kleiderordnung in Frankreich

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In Deutschland ist es der Kopftuch-Streit. In Frankreich, dem Land der Distinktion und der Haute Couture, geht es tout naturellement gleich um mehrere Kopfbedeckungen und der Streit darüber ist im mindesten Fall eine hitzige Debatte, an der sich allerhand Stars und Intellektuelle beteiligen, oder gar ein "Religionskrieg", der die Phantasie der offiziellen Kirchenvertreter befeuert. In jedem Fall berührt die Gesetzesvorlage der Bernard Stasi-Kommission, über die Präsident Chirac heute Nachmittag entscheiden wird, in elementarer Weise das Selbstverständnis der Grande Nation. Dabei geht es längst nicht mehr nur um die konstitutionelle Laizität des Landes.

Die Diskussion darüber, ob das Tragen von "plakativen (ostentatoire) Zeichen" der Religionszugehörigkeit an Schulen und in öffentlichen Institutionen künftig per Gesetz landesweit untersagt werden soll, sei ein "faux débat" (eine falsche Debatte) sagte ein Lehrer aus Montpellier am Telefon, noch ganz erregt von dem spontan einberufenen Meeting, das gerade an seiner Schule zu dieser Frage abgehalten wurde.

Das Kopftuch als Trojanisches Pferd

Es gehe nur vordergründig um den "voile" (Schleier) oder den "foulard" (ein Schal, der um den Kopf gewickelt wird); nur an der Oberfläche handle es sich um ein religiöses Problem. In Wirklichkeit gehe es um ein gravierendes soziales Problem in Frankreich, das nichts weniger als die "Egalité" betreffe, die Gleichheit der französischen Bürger; ein Teil der Muslime, so der Vorwurf, will eine fragwürdige Sonderbehandlung, angefangen vom Kopftuch, bis zu nur für sie reservierten Stunden im Schwimmbad und dem Ausschluss von bestimmten Biologiestunden.

Das Kopftuch wird in dieser Perspektive als "Trojanisches Pferd" wahrgenommen, mit dem fundamentalistisch motivierte Muslime den inneren Kern der französischen Gesellschaftsordnung unterminieren wollen.

Die Integration von Einwanderern und deren Kindern aus muslimischen Ländern, meist aus den ehemaligen Kolonien Marokko und Algerien, ist von der Politik lange Zeit vernachlässigt worden, was dazu geführt hat, dass sich muslimische Gemeinden, die z.T. ganze Stadtviertel in Paris und in einigen Provinzstädten kontrollieren, von den übrigen französischen citoyens abschotten. Daraus resultierende Ängste, die in Deutschland mit dem Stichwort "Parallelgesellschaft" belegt werden, diskutiert man in Frankreich unter der Überschrift "Communautarisme". Das französische Selbstverständnis, wonach jeder, der auf französischen Boden geboren ist, Franzose ist und damit Gleicher unter Gleichen, reibt sich an der Einstellung vieler Muslime, die ihr Anderssein betonen und eine ganz andere Identität einfordern, die nur die allernötigste Berührung mit anderen Gesellschaftsgruppierungen konzedieren will.

"Ca vas pas", echauffiert sich der Lehrer, dass sich eine Frau unverschleiert für einen Posten um den öffentlichen Dienst bewirbt und danach einklagen will, dass sie fortan den Schleier als Dokumentation ihrer islamischen Identität tragen darf. Außerdem würde sie, als Repräsentantin einer Institution, keinem Mann die Hand schütteln wollen. Impossible, unmöglich. Und besonders schlimm dann, wenn muslimische Schülerinnen mit Kopftuch ihre Mitschülerinnen dazu zwingen, künftig auch einen "foulard" zu tragen. Der Druck, den Brüder in Kleiderfragen auf ihre Schwestern ausüben würden, sei "gigantesque, incroyable"; Gespräche mit den Eltern würden nichts nutzen, wenn sie denn überhaupt zur Sprechstunde erscheinen.

Es gebe in diesem Zusammenhang auch berechtigte Befürchtungen, so der Lehrer, dass sich bei einem landesweiten Verbot des Kopftuches muslimische Gruppierungen dazu entschließen könnten, ihre Kinder künftig nur mehr auf private, rein muslimische Schulen zu schicken und sie somit aus der pluralistischen französischen Gesellschaft abzusondern.

"Die Flagge des Fundamentalismus" und Miniröcke

Das Kopftuch von Alice Schwarzer polemisch als "Flagge des Fundamentalismus" definiert, ist auch für prominente französischen Frauen ein unerträgliches Symbol für die "Diskrimierung der Frau". Ein Appell der Zeitschrift "Elle" proklamiert:

Jedes Entgegenkommen in dieser Hinsicht würde von jeder Frau in diesem Land als persönlicher Angriff gegen ihre Würde und ihre Freiheit wahrgenommen werden.

Zu den Unterzeichnerinnen dieses Appells gehören u.a. prominente französische Schauspielerinnen wie Isabelle Adjani, Jane Birkin, Nathalie Baye, Isabelle Huppert, Emmanuelle Béart, die Modemacherin Sonia Rykiel, Schriftstellerinnen wie Catherine Millet und Intellektuelle wie Elisabeth Badinter.

Gerade dieser Auffassung halten aber Muslima ihre Freiheit entgegen. Das Recht auf den persönlichen Ausdruck, der sich eben auch in der Kleidung manifestiere, zumal im Land der Mode, gelte auch für Muslima. Das Kopftuch sei eine Frage der selbstgewählten Identität. Manche muslimische Französinnen setzen dabei auf Provokation und verärgern die Feministinnen damit, dass sie sich durch ihre Kopfbedeckung als Muslima ausweisen und die andere Partei, die der Orthodoxen und Ultras mit "sexy Kopftüchern", die weder der von den Fundamentalisten gewünschten Farbe - schwarz - entsprechen, noch deren Wünschen nach Biederkeit und Zurückhaltung. Die Kopftuchträgerinnen führen gerne das Argument ins Feld, dass auch Miniröcke die Wünsche der Männer bedienen.

Die Mehrheit, Kirchen und Le Pen

Ob Kopftuch, Schleier, aufgesextes Modeaccessoire oder nur ein Stirnband, wie es Innenminister Sarkozy, der sich aus persönlichen politischen Motiven heraus deutlich von Jacques Chirac abgrenzen will, vorschlägt, die knappe Mehrheit der Franzosen, 57% nach einer kürzlich durchgeführten Umfrage, ist für ein Gesetz, welches das Tragen von "jedem offensichtlich religiösen Zeichen" an der Schule verbietet; und die Zeitschrift "Elle" hat in einer Umfrage heraus gefunden, dass sich 47% der Muslima auch für dieses Gesetz aussprechen, gegenüber 43%, die dagegen sind.

Vom Verbot aller religiöser Zeichen fühlen sich auch andere Gruppierungen außer den Muslimen bedroht: Für den "Rat der christlichen Kirchen in Frankreich (Conseil d'églises chrétiennes en France -Cecef)" steht fest, dass man solche Sachen nicht per Gesetz regeln sollte. Durch den Ausschluss der Religion aus der öffentlichen Sphäre könne leicht eine "kriegerische Laizität" wieder auferstehen; man fürchtet einen "Fundamentalismus der Laizität", der den "Krieg der Religionen" neu anfachen könnte (siehe dazu hier).

Dagegen ist auch die Front National. Für Le Pen ist das Gesetz nur ein Vorwand, um die "Präsenz der Christen auszuradieren". Das wahre Problem sieht Le Pen in der Masse der Immigranten und entsprechend ist es ihm und seinesgleichen lieber wenn sich der "Feind" mit Kopftuch klar zu erkennen gibt oder wie es sein Parteifreund Bruno Gollnisch formuliert: "Ich bin für das Kopftuch. Das Tragen des Kopftuches ist nur ein Symptom der Einwanderung... ein Zeichen dafür, dass Extremisten Millionen von Immigranten kontrollieren."

Seltsam, wer sich da gegenseitig die Schnürsenkel bindet: Muslime, Antirassisten, Kirchen und Neofaschisten.

Umfangreiche französischsprachige Linksammlung zur Debatte in einem Dossier des Nouvel Observateur