Labour, Liberaldemokraten und Remainer-Tories streiten über einen Sturz Johnsons
Uneinigkeit über Interimspremierminister bis zu einer vorgezogenen Neuwahl
Jeremy Corbyn, der Chef der britischen Labour Party, hat ein Misstrauensvotum im Unterhaus angekündigt. Das soll aber erst dann stattfinden, wenn er "zuversichtlich sein kann, dass es Erfolg hat". Damit es Erfolg hätte, bräuchte er außer den Stimmen seiner Labour-Abgeordneten auch die der anderen Oppositionsparteien und einiger Tories.
Die sollen Corbyns Vorstellung nach aus den Reihen jener Abgeordneten der Konservativen Partei kommen, die einen Hard Brexit zum 31. Oktober scheuen. Ihnen verspricht er, in Brüssel eine erneute Verschiebung des Austrittstermins zu beantragen, wenn sie ihn an die Macht lassen. Danach soll es vorgezogene Neuwahlen und neues Referendum über einen Verbleib in der EU geben.
Liberaldemokraten wollen Clark oder Harman statt Corbyn
Auf dieses Angebot hin erklärten sich mehrere Tory-Abgeordnete öffentlich dazu bereit, so ein Vorgehen in Betracht zu ziehen. Ebenso Interesse zeigten die walisische Plaid Cymru und die Scottish National Party (SNP), deren Sprecher Ian Blackford gestern von "konstruktiven Gesprächen" mit der Labour-Führung sprach.
Weniger freundlich war die Aufnahme des Angebots in der Liberaldemokratischen Partei. Ihre neue Vorsitzende Joanne Swinson verlautbarte, Corbyn verfüge im Unterhaus nicht über genügend Unterstützung, um als Interimspremierminister zu fungieren. Als Alternativen mit ausreichend "Erfahrung" und "Respekt über die Parteigrenzen hinweg" schlug sie den 79-jährigen Tory Kenneth Clarke und die 69-jährige Labour-Abgeordnete Harriet Harman vor. Mit beiden, so Swinson zur BBC, habe sie bereits gesprochen - und beide seien bereit, das Amt eine begrenzte Zeit lang zu übernehmen.
Clarke sitzt seit 49 Jahren im House of Commons und hatte unter Margaret Thatcher und John Major mehrere Ministerposten inne. 1997, 2001 und 2005 bewarb er sich um den Chefposten bei den Tories, scheiterte dabei aber wahrscheinlich auch deshalb, weil er sich sehr EU-euphorisch gab. Harman zog nur zwölf Jahre nach Clarke in das Unterhaus ein und saß unter Tony Blair auf mehreren Kabinettsposten. Ende der Nullerjahre war sie stellvertretende Chefin ihrer Partei, die sich nach dem Rücktritt von Gordon Brown auch kurzzeitig kommissarisch führte.
Corbyn argumentiert mit Tradition
Swinson ist aber nach eigenen Angaben nicht auf Clarke oder Harman festgelegt, sondern würde auch andere Namen in Betracht ziehen, wenn ihr Corbyn nicht nur den eigenen vorschlägt. Der Labour-Chef gab sich daraufhin "enttäuscht" und meinte, die Entscheidung darüber, wer der nächste Premierminister wird, falle nicht in den Kompetenzbereich Joanne Swinsons. "Wenn in Britannien eine Regierung zusammenbricht" wird seinen Worten nach "der Führer der Opposition aufgefordert, eine Regierung zu bilden".
In den Umfragen liegen die Liberaldemokraten mit Werten zwischen 13 und 21 Prozent inzwischen wieder etwas deutlicher hinter der Labour Party (die auf 22 bis 28 Prozent kommt) und den mit 28 bis 31 Prozent führenden Tories. Nigel Farages Brexit Party, die bei der Europawahl klar stärkste Kraft wurde, liegt aber auch nach Boris Johnsons Amtsantritt immer noch bei 14 bis 16 Prozent. Bleibt Großbritannien noch länger als nur bis Halloween in der EU, könnten sich die Stimmenanteile dieser beiden Parteien wieder in die umgekehrte Richtung entwickeln. Gelingt Johnson dagegen ein Ausstieg zum 31. Oktober, dürfte der Stimmenanteil der Brexit Party weiter sinken - und der der Tories steigen.
Eine weitere Voraussetzung für diese Entwicklung ist, dass der Brexit ohne größere wirtschaftliche Probleme über die Bühne geht (wovon Johnson nach eigenen Angaben fest ausgeht). Seinen Worten nach können die Kosten für einen Ausstieg ohne Abkommen "verschwindend gering sein, wenn man vorbereitet ist". Zudem ist nach der gestern bekannt gewordenen Einwilligung Angela Merkels in neue Gespräche nicht ausgeschlossen, dass doch noch eine Reform des May-Deals zustande kommt, mit der sowohl die Machthaber in London als auch die in Brüssel, Berlin und Paris leben können. Eine denkbare Lösung wäre, dass sich beide Seiten mehr oder weniger informell an den May-Deal ohne die Backstop-Klausel halten, nachdem Johnson ja bereits angekündigt hat, auf die Grenzkontrollen zu verzichten, die dieser Backstop verhindern soll (vgl. Johnson: "Physische Kontrollen" an der irischen Grenze auch bei Hard Brexit ausgeschlossen).
Danach könnte der amtierende Premierminister durch vorgezogene Neuwahlen dafür sorgen, dass er wieder ohne die Stimmen der nordirischen Protestanten von der DUP regieren kann. Auf die kommenden zentralen Wahlkampfthemen in einem Vereinigten Königreich, in dem die Brexit-Frage nicht mehr alles andere überlagert, scheint er sich bereits vorzubereiten, indem er auch andere Forderungen von Nigel Farage übernimmt: Mehr Geld für das öffentliche Gesundheitsversorgungssystem NHS, eine stärkere Berücksichtigung der Regionen außerhalb des Ballungsraums London und 20.000 neue Polizisten.
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