Langfristig überleben
Die Erde erlebt gerade ein Massensterben der Arten
2010 ist das "Internationale Jahr der Artenvielfalt", so haben es die Vereinten Nationen ausgerufen. Aber angesichts der tatsächlichen Situation auf der Erde sollte es eigentlich das Jahr des Artensterbens heißen. Die Experten gehen davon aus, dass die Gesamtzahl der Arten seit 1970 bereits um mindestens 40 Prozent geschwunden ist, täglich verschwinden heute etwa 130 Pflanzen- und Tierarten endgültig. Der Grund sind vom Menschen verursachte Umweltveränderungen.
In der letzten Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science stellt John Alroy von der Macquarie University in Sydney seine umfassende Untersuchung der Evolution der marinen Artenvielfalt vor. Der Forscher überprüfte an Hand der in der Paleobiology Datenbank erfassten Berichte über Fossilien aus beinahe 100.000 Sammlungen weltweit, das Entstehen und Vergehen der Meeresbewohner auf unserem Planeten.
Er stützt sich dabei auf die Thesen von Jack Sepkoski, dessen im Jahr 2002 posthum veröffentlichte Studie „A Compendium of Fossil Marine Animal Genera“ einen Überblick über das Werden und Vergehen der letzten 530 Millionen Jahren in den Ozeanen ermöglichte. Jack Sepkoskis Datenanalyse mündete in der nach ihm benannten Sepkoski-Kurve (vgl. Sepkoski's Online Genus Database), in der die Veränderung der marinen Lebewesen über die Erdzeitalter graphisch verdeutlicht wird. Er kam zu dem Fazit (und schuf damit eine Theorie), dass die Vielfalt der Gattungen ab dem Entstehen der Vielzeller schnell und stetig zunahm, unterbrochen durch periodisch wiederkehrende Massensterben.
Alle 62 Millionen Jahren kommt der Tod
Als Massensterben bezeichnen die Paläobiologen ein umfassendes Artensterben in relativ kurzen Zeitabschnitten. Wie viele dieser evolutionären Wendepunkte es während der Erdgeschichte gab, darüber wird noch diskutiert. Unter den fünf heftigsten war das massive Artensterben vor ca. 400 Millionen Jahren, das bis zu 80 Prozent aller Meeresorganismen das Leben kostete, und vor ca. 250 Millionen Jahren dann das schlicht als "Das Große Sterben" bezeichnete, bei dem 96 Prozent der irdischen Lebensformen abdankten. Vor ca. 65 Millionen Jahren fand noch ein Massensterben statt, das die Dinosaurier nicht überlebten.
Über die Periodizität dieses Phänomens streiten die Paläontologen noch, zuletzt machten die Physiker Robert A. Rohde und Richard A. Muller vor fünf Jahren Schlagzeilen, als ihre Berechnungen aus den Daten von Meeresfossilien ergaben, alle 62 (plus/minus drei) Millionen Jahre käme es statistisch zu einem Massensterben (vgl. Cycles in fossil diversity).
Allerdings haben sie keine Erklärung für diese Regelmäßigkeit – einmal mehr wurde über bislang unentdeckte kosmologische Phänomen wie Gaswolken oder (Nemesis-)Sterne spekuliert, denen der blaue Planet auf seiner Bewegung im All regelmäßig begegnen könnte – sie harren aber noch ihrer Entdeckung.
In der aktuellen Studie kommt John Alroy zu dem Schluss, dass wir uns mitten in einem durch den Menschen und den Klimawandel verursachten Massensterben befinden – und dass die Konsequenzen gravierend und absehbar sein werden. Seine Auswertungen der Daten der Paleobiology Datenbank – wobei er sich vor allem auf die Hauptgattungen der Meereslebewesen und die Zeit vor und nach dem großen Massensterben vor 250 Millionen Jahren konzentrierte – ergab, dass es keine festen Regeln für die Artenvielfalt über die Erdzeitalter gibt.
Weder die Anzahl der Untergattungen noch des Artenreichtums innerhalb einer Gattung erlauben eine Vorhersage darüber, ob und wie sie ein Massensterben überleben wird. Er stellt klar, dass ein Massensterben mehr bedeutet als nur einen Rückgang unter den Arten, es verändert nachhaltig die Umweltbedingungen und damit den gesamten Lebensraum aller Lebewesen. Es ist, als würde ein evolutionäres Würfelspiel stattfinden und wer am Ende langfristig überlebt, entscheidet sich erst, wenn die Würfel gefallen sind. Er erklärt:
Besonders beunruhigend ist, dass bestimmte Gruppen nachhaltig dominant werden, die es sonst nicht geworden wären. Indem wir dieses Massensterben verursachen, spielen wir ein Spiel mit unabsehbaren Folgen.
Die Folgen des aktuellen Massensterbens werden seiner Meinung nach dramatischer sein, als die des Aussterbens der Dinosaurier.
Das Jahr der Artenvielfalt und die Volkszählung im Meer
Die UNO hat 2010 zum Jahr der Biodiversität erkärt, „um Bewusstsein zu schaffen, dass das Wohl des Menschen von biologischer Vielfalt abhängt, um den Verlust von Vielfalt zu stoppen und um Erfolge beim Schutz biologischer Vielfalt zu verdeutlichen.“ Es ist immer noch unklar, wie viele Arten tatsächlich auf der Erde leben. Ganz vorsichtige Schätzungen gehen von fünf Millionen Pflanzen- und Tierarten aus, die Vereinten Nationen halten 15 Millionen Arten für plausibel, andere Experten verdoppelten diesen Wert sogar. Beschrieben sind bis heute nur 1,8 Millionen davon. Wir löschen viel Leben aus, das wir noch nicht einmal kennen gelernt haben.
Die Meere stellen das unbekannteste Habitat der Erde dar, und mit Sicherheit folgen auf die spektakulären Entdeckungen der letzten Jahre wie das Leben in der tiefen Biosphäre noch weitere. Die Erde ist zu 70 Prozent von Ozeanen bedeckt und in ihnen verbergen sich verschiedenste Lebensräume, deren Erforschung gerade erst begonnen hat (vgl. Extreme und unbekannte Habitate).
Ein besonders ehrgeiziges, internationales Projekt ist der Census of Marine Life eine große Inventur der marinen Lebensformen, an der 380 Wissenschaftler aus 80 Ländern mitarbeiten. Im Oktober werden sie ihren Schlussbericht vorlegen, vor einigen Wochen veröffentlichten sie bereits eine vorläufige Bilanz (siehe Volkszählung im Meer). 230.000 Arten zählten die Forscher und sie gehen davon aus, dass auf jede bekannte Art noch vier weitere kommen, die noch nicht beschrieben sind.
Ein bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts völlig unbekannter Lebensraum ist die Tiefsee. Ständig werden dort neue und zum Teil extrem bizarre Lebensformen aufgespürt (siehe Hunderte neuer Arten im Meer entdeckt). Chris German vom Census-Projekt erklärt:
Die Tiefsee ist das größte zusammenhängende Ökosystem der Welt und der größte Siedlungsraum für Leben. Sie ist aber zugleich auch das am wenigsten erforschte.
Das hindert die Menschheit nicht daran, dieses Ökosystem durch Überfischung – auch mit Grundschleppnetzen (vgl. Greenpeace: Tiefseefischerei) – , Vermüllung, und Versauerung zu zerstören. Vom Abbau von Rohstoffen mit Konsequenzen wie der Ölpest im Golf von Mexiko ganz zu schweigen (siehe Ölpest im Golf von Mexiko: Die Katastrophe nach der Katastrophe). Die Überdüngung als Folge der industriellen Landwirtschaft sowie die globale Erwärmung verändern die Meere zudem nachhaltig.
Wie viele Tiefsee-Arten bereits ausgerottet wurden, kann nicht einmal geschätzt werden. Klar ist nur, dass das Verschwinden jeder Art das ökologische Gleichgewicht nachhaltig durcheinander bringt. Schon jetzt zeigt sich, dass z.B. Quallen überproportional profitieren, wenn die natürliche Balance in einer Meeresregion gestört ist (vgl. Zeitalter der Quallen).
Rote Liste
Jedes Jahr werden weltweit Arten auf ihren Status überprüft, um zu sehen, welche Pflanzen und Tiere vom Aussterben bedroht sind. International nahm die Weltnaturschutzunion IUCN 2009 knapp 48.000 Arten unter die Lupe und erklärte mehr als ein Drittel davon für bedroht – sie kamen auf die aktualisierte Rote Liste (IUCN: Zahl der bedrohten Arten 1996-2009 nach Organismen -PDF-Datei). Diese Liste unterscheidet verschiedene Stadien der Gefährdung des Bestands – von regional schwach gefährdet bis vollständig ausgestorben.
Zu den stark bedrohten Tieren gehören so attraktive wie der asiatische Elefant, aber auch so unscheinbare wie die Knoblauchkröte. Der Mensch hat seit dem 17. Jahrhundert eine verheerende Spur in der Natur hinterlassen. Die Experten gehen davon aus, dass der Homo sapiens das Aussterben von bis zu 130 Arten pro Tag verursacht, und das diese Zahl um den Faktor 1.000 über dem natürlichen Wert liegt. Viele Tiere und Pflanzen verabschiedeten sich von der Erde (vgl. WWF: Ausgestorbene Arten - PDF-Datei).
Die Bilanz der letzten 50 Jahre ist katastrophal. Die Artenvielfalt hat sich nach Schätzungen allein zwischen 1970 bis 2000 um 40 Prozent verringert, die der Wasserlebewesen in Seen, Flüssen und im Marschland sogar um die Hälfte. Der Fischreichtum ist durch die Überfischung stark geschwunden, allein im Nordatlantik seit 1960 um 66 Prozent.
Der Mensch zerstört seinen eigenen Lebensraum, indem er Ökosysteme zersiedelt, oder durch intensive Land- und Forstwirtschaft, bzw. Rohstoffabbau, Überfischung und Jagd völlig verändert. Klimaerwärmung, Umweltverschmutzung sowie invasive Arten sind zusätzliche Faktoren.
Jedes Jahr werden allein sechs Millionen Hektar Regenwald zerstört. In den Weltmeeren verschwanden ein Drittel der Korallen endgültig – und das Sterben dauert an (vgl. Überlebensstrategien der Korallen). Der im Mai von der UNO veröffentlichte Bericht, 3. Globale Ausblick zur Lage der biologischen Vielfalt (PDF-Datei, wie auch die deutsche Zusammenfassung), verdeutlicht, dass die Politik weltweit ihr Ziel einer Verringerung des Artensterbens nicht erreicht hat. Im Gegenteil, die Situation hat sich verschärft. Der Bericht stellt fest:
Der ökologische Fußabdruck der Menschheit insgesamt übersteigt die biologische Kapazität der Erde.
Ahmed Djoghlaf, Exekutivsekretär des UN-Übereinkommens über die biologische Vielfalt, zieht die Bilanz:
Es gibt nichts Gutes zu vermelden. Die biologische Vielfalt nimmt weiterhin in einem Maß ab, das es bisher in der Geschichte noch nicht gegeben hat – so sind die Aussterberaten möglicherweise bis zu 1000mal höher als die historische natürliche Rate. Dieser noch nie da gewesene Verlust an biologischer Vielfalt wird durch den Klimawandel weiter verschärft. (…) Diese Bewertung sollte ein Weckruf für die Menschheit sein. Business-as-Usual stellt keine Option mehr dar, wenn wir irreparable Schäden an den lebenserhaltenden Systemen unseres Planeten vermeiden wollen.
Die nächste Konferenz der Vereinten Nationen bezüglich des Abkommens über die biologische Vielfalt (COP 10) wird von 18.-29. Oktober 2010 in Nagoya in Japan stattfinden, dann wird sich zeigen, ob die politische Weichen wirklich neu gestellt werden, oder ob das aktuelle Massensterben mit seinen unabsehbaren Folgen weiter weitgehend ignoriert wird.