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Las-Vegas-Massaker: Ein mit der eigenen Gewaltkultur konfrontiertes Land

Screenshot aus Youtube-Video

In der mit Schusswaffen überladenen und auf militärische Gewalt getrimmten US-Gesellschaft rätselt man über das Motiv des suizidalen Massenmörders, einem Spiegelbild des islamistischen Selbstmordattentäters

Ein "Gunman" oder ein "Shooter" hat in Las Vegas auf die mehr als 20.000 Besucher eines Country-Festivals geschossen [1] und fast 60 Menschen getötet sowie 500 verletzt. Es war das Abschlusskonzert mit Countrysänger Jason Aldean am Sonntagabend, als Stephen Craig Paddock, ein 64-jähriger weißer Amerikaner aus Las Vegas, von einem Hotelzimmer im 32. Stock auf die Besucher mit einem automatischen Gewehr wahllos feuerte. Zwei Stunden später meldete die Polizei, dass der Angreifer, ausgestattet mit 23 Schusswaffen, darunter automatischen Gewehren, in dem Hotelzimmer tot aufgefunden worden sei und vermutlich Selbstmord begangen habe.

Ein weiterer "Amokläufer" also, der eine "Massenschießerei" als Selbstmordattentat ausgeführt hat, wie dies besonders in den USA so häufig vorkommt (USA: Das Land der Amokläufe und Massenschießereien [2]). Ausnahme ist dieses Mal, dass der Shooter ein älterer Mann war, sonst handelt es sich bei den Amokläufern wie bei Selbstmordattentätern meist um junge Männer, Frauen sind Ausnahmen. Schnell kam die Polizei zur Erkenntnis, dass es sich um einen Einzeltäter ohne offensichtlichen extremistischen Hintergrund handeln soll. Zunächst war ein Motiv nicht bekannt. Aber Paddock hatte einen Rekord eingestellt und führt nun die Liste an: "Worst mass shooting" [3] oder "deadliest in US history" [4], bis er vom nächsten suizidalen Massenmörder überboten wird.

Die Polizei wusste nichts über ihn. Eric Paddock, der Bruder des Shooters, fiel aus dem Himmel, wie er sagte [5], als er von der Tat hörte. Nach dem Bruder, der in Florida lebt, sei sein Bruder weder religiös noch politisch gewesen, er sei auch nicht psychisch krank gewesen und habe keine Alkohol- oder Drogenprobleme gehabt. Er habe ihn auch nicht als Waffennarr gekannt, ein paar Schusswaffen habe er schon gehabt, aber keine automatischen. Wo er die automatischen Waffen her hatte, weiß er angeblich nicht. Allerdings hatte er schon in das Hotel mit 23 Schusswaffen ein ganzes Arsenal dabei. In seinem Haus wurden weitere 19 Schusswaffen, Sprengstoff und mehrere tausend Schuss Munition gefunden. Kein Waffennarr?

Auch beim Militär sei er nicht gewesen: "Er ist nur ein Mensch, der in einem Haus in Mesquite wohnte, nach Las Vegas fuhr und dort spielte." Er scheint dem Glücksspiel professionell geneigt gewesen zu sein, vor allem Video-Poker, wahrscheinlich hat er davon auch gelebt - und zwar nicht schlecht. Berichtet wird von 250.000 US-Dollar, die er einmal gewonnen haben soll. Schulden soll er keine gehabt haben. Nach Mesquite soll er 2016 von Reno aus gezogen sein und lebte dort nach Medienberichten in einer ruhigen "Rentnersiedlung". Er soll [6] in Mesquite in Texas seit 2000 ein Appartement-Gebäude verwaltet haben, das ihm gehörte und wo er auch einige Zeit lebte. Zuletzt wohnte er in Mesquite in Nevada.

Der Täter: Stephen Paddock

Aber es gibt verschiedene Erzählungen [7], die Medien zusammentragen. Arm scheint er jedenfalls nicht gewesen zu sein, so wird auch von einem Haus in Florida und von zwei Flugzeugen berichtet, die in seinem Besitz waren. Sein Bruder meint, er habe sich alles leisten können. Er soll verheiratet, aber kinderlos gewesen sein, aber die Scheidung fand schon vor 27 Jahren statt. Zunächst war seine aktuelle Freundin oder Mitbewohnerin Marilou Danley (62) in Verdacht geraten, die dort im Januar 2017 eingezogen war. Sie stammt aus den Philippinen, lebte lange in Australien und dann in die USA, wo sie in Kasinos arbeitete, zuletzt in Reno. Die Polizei brachte sie aber nach einer Befragung aus dem Land und erklärte, sie sei an dem Vorfall nicht beteiligt gewesen.

Der Vater des Täters soll ein Bankräuber gewesen sein, der 1968 aus dem Gefängnis fliehen konnte und auf der Most-Wanted-Liste des FBI landete. Er erhielt [8] eine Gefängnisstrafe, da er in Arizona eine Bank ausgeraubt hatte. Drei Jahre war er auf der Flucht, bis das FBI ihn 1971 wieder in Las Vegas einfangen konnte. Seiner Zeit galt er als "besonders gefährlich", weil er bei Straftaten Schusswaffen verwendete und als Psychopath diagnostiziert worden sei.

Die "Nachrichtenagentur" des Islamischen Staats verbreitete gestern die Behauptung, Paddock sei vor einigen Monaten zum Islam konvertiert. Er wird als "Soldat des Islamischen Staats" bezeichnet, der den Aufrufen gefolgt sei, Angriffe in den Ländern der Koalition auszuführen, und soll den Namen Abou Abd el-Bir al-Amriki erhalten haben. Beweise legte der IS bislang nicht vor, auch nicht das oft übliche Abschiedsvideo. Normalerweise verlangt der IS, dass der Täter irgendein Zeichen macht oder sich zum IS bekennt. Nichts deutet bislang darauf hin, dass der IS hier nicht nur Propaganda machen will, um erneut Aufmerksamkeit zu erregen.

Das FBI hatte verlauten lassen, dass es keine Hinweise auf Verbindungen zum internationalen Terrorismus, also zu islamistischen Terrorgruppen, gebe. Bislang wurde dem auch nicht widersprochen. Für Donald Trump kommt das "mass shooting", das durchaus als Anschlag oder auch als Terroranschlag gelten kann, auf jeden Fall politisch ungelegen. Sollte der Täter als "IS-Soldat" gehandelt haben, wird deutlich, dass Einreiseverbote und Mauern an der Grenze sowie der gesamte Grenzschutz nichts nutzen, wenn "einsame Wölfe" in den USA ohne einen arabischen oder islamischen Hintergrund sich durch die Vorgaben des IS anstecken lassen.

Auch wenn es "nur" ein in den USA seit Jahrzehnten gewohnter Amokläufer war, ein Wutbürger, ein Verzweifelter oder ein Lebensmüder, der sich nach dem ritualisierten Drehbuch mit einem erweiterten Selbstmord in einem finalen Aufmerksamkeitsspektakel umgebracht hat, wäre die von Trump und den Rechten in den USA wie überall anders geschürte Angst vor allem vor den muslimischen Einwanderern, aber auch vor den aus Lateinamerika stammenden Zuwanderern zumindest in Frage gestellt.

Für den Einbruch des "absolut Bösen" (Trump) soll niemand verantwortlich sein

Donald Trump hat so schon auch erst einmal erklärt, es gebe keine Gründe für die Tat, die stelle das "absolut Böse" dar, an dem dann auch niemand Schuld sein kann. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob man in den USA nicht seit langem blind für eine Gewalt der Wütenden und Todesmüden ist, weil man sie nur den islamistischen Extremisten zuschreibt und leugnet, dass sie aus der Mitte der Gesellschaft kommen kann, wie zahllose Amokläufe gezeigt haben.

Seit 2001 haben die USA für Billionen US-Dollar Kriege geführt, viele Menschen getötet, die arabische Welt ins Chaos gestürzt, einige Diktatoren gestürzt, andere gestützt, Konflikte verschärft und den Terrorismus weltweit zumindest indirekt gefördert. Verkannt wird auch, dass brutale selbstmörderische Gewalt, die von islamistischen Terroristen kultiviert wurde, keine Ausgeburt des Islam ist, sondern von westlicher Kultur geprägt ist. Am deutlichsten bei al-Qaida und beim Islamischen Staat zu sehen, dessen Medienproduktionen fatal an Vorbilder aus dem westlichen Kino und Computerspielen erinnern, in denen der Kult der Waffen, der Gewalt und der auch massenhaften Zerstörung zelebriert wird (Ästhetik der Gewalt [9]). Man darf daran erinnern, dass viele Hollywoodfilme, die Gewalt zelebrieren, vom Pentagon mitfinanziert werden. Sie haben neben der politischen Ideologie auch die militärische Logik inkorporiert. Hier siegen nur die "Guten" aus amerikanischer Sicht.

Letztlich unterscheiden sich "Amokläufer" von islamistischen Selbstmordattentätern lediglich durch die Art der verwendeten Waffen und dadurch, ob sie auf eigene Faust oder organisiert handeln. Die Art des Spektakels, die erreicht werden soll, gleicht sich aber. Der eigene Tod soll mit der größtmöglichen Zahl an willkürlich ausgewählten Opfern verknüpft werden und folgt bestimmten Schemata. Zwar setzen die islamistischen Terroristen in der Regel auf Sprengstoffanschläge wegen der größeren Wirkung, die ein einzelner oder eine kleine Gruppe damit erzielen können, aber seit einiger Zeit werden beliebige Waffen von Messern oder Äxten bis hin zu Autos und LKWs eingesetzt. Alles, was gerade zur Verfügung steht.

Die "Amokläufer" haben bislang eine andere Tradition verfolgt und den Anschlag mit Schusswaffen kultiviert. Das ist in der Tat amerikanischer und erinnert an den Wilden Westen und seine Helden. Dass ein einzelner Mann mit automatischen Schusswaffen, die vermutlich legal erworben wurden, Hunderte von Opfern in kurzer Zeit treffen kann, zeigt, wie gefährlich der weitgehende freie Markt für Schusswaffen geworden ist. Anders als ein Selbstmordattentäter, der an sein Ziel gehen oder fahren muss, konnte der Täter aus einer Entfernung von Hunderten von Metern auf die Menschenmenge feuern.

Wenn es stimmen sollte, was bislang bekannt ist, war Paddock ein älterer, normaler und wohlhabender Mann, der wusste, wie man mit Schusswaffen umgeht und sich diese in den USA auch ohne Probleme legal besorgen konnte. Der Erwerb großer Mengen von Sprengstoff ist in den USA vermutlich sehr viel auffälliger. Ein Staat, der es zulässt, dass trotz der vielen durch Schusswaffen getöteten und sich selbst tötenden Menschen die Bürger sich fast beliebig aufrüsten können und damit auch in einer Kultur der zelebrierten Entschlossenheit leben, anzugreifen oder sich zu verteidigen, muss damit rechnen, dass Gewaltfantasien, die von der Kulturindustrie und einer auf militärische Gewalt setzenden Politik geprägt werden, auch ausgelebt werden (USA: Immer mehr Schusswaffen, aber weniger Besitzer [10]). Wenn man dann den Waffenbesitz legitimiert, weil man sich verteidigen muss oder Angriffe durch Abschreckung verhindern will, wie dies Donald Trump auch macht, folgt man schlicht der Logik der Aufrüstungsspirale. Primär Amokläufer, Selbstmordattentäter und Terrororganisationen mit Waffengewalt bekämpfen zu wollen, verstärkt schlicht die Logik der Gewalt, da sie diese auch legitimiert.

Dass die Strategie der Überwältigung durch Androhung von Overkill nicht funktioniert, lässt sich auch am Umgang von Donald Trump mit Kim Jong-un sehen. Die demokratischen USA haben in der Logik der überwältigenden Gewalt ohne Notwendigkeit die ersten Atombomben eingesetzt und eine bis dato unvorstellbare Massentötung realisiert. Die Menschen wurden dadurch zu Ungeziefer, das man auslöscht. Das ist nur abstrakter als die Vernichtung einzelner Menschen in KZs. Nordkorea schützt sich durch Androhung des Einsatzes von nuklearen Massenvernichtungsmitteln. Unterhalb der nuklearen Schwelle zeigen die USA und Russland, dass sie bereit sind, ganze Städte in Schutt und Asche zu legen, wobei sie sich letztlich vom Islamischen Staat insofern unterscheiden, weil dieser aufgrund der fehlenden Militärtechnik die eigenen Menschen in den Tod schicken muss, um größere Zerstörungen zu realisieren. Das "absolut Böse" Trumps ist nicht nur beim IS oder bei Amokläufern wie Paddock, sondern mitten in der politischen und militärischen Kultur der USA angesiedelt.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3849053

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.youtube.com/watch?v=zDeUzatoUhs
[2] https://www.heise.de/tp/features/USA-Das-Land-der-Amoklaeufe-und-Massenschiessereien-3376347.html
[3] http://edition.cnn.com/2017/10/02/us/las-vegas-shooting-live/index.html
[4] http://abc13.com/watch-live-at-least-20-dead-in-las-vegas-mass-shooting/2477847/
[5] https://twitter.com/CBSNews/status/914858082747998209
[6] https://www.nytimes.com/2017/10/02/us/stephen-paddock-vegas-shooter.html
[7] https://www.washingtonpost.com/news/morning-mix/wp/2017/10/02/police-shut-down-part-of-las-vegas-strip-due-to-shooting/?hpid=hp_hp-banner-main_las-vegas-230am%3Ahomepage%2Fstory&utm_term=.b937e120b21f
[8] http://nypost.com/2017/10/02/vegas-gunmans-psychopath-dad-landed-on-fbis-most-wanted-list/
[9] https://www.heise.de/tp/features/Aesthetik-der-Grausamkeit-3369603.html
[10] https://www.heise.de/tp/features/USA-Immer-mehr-Schusswaffen-aber-weniger-Besitzer-3336648.html