Lasst die Kinder in die Schule

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Mein Vertrauen in die Bundes- und Landespolitik befindet sich in Sachen Bildungspolitik in einer ernsten Krise

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Lehrer-Bashing gehört derzeit zu den beliebtesten Disziplinen der Corona-geschädigten Gesellschaft. "Schulversagen" attestiert der Spiegel. Wozu man Lehrer überhaupt noch brauche, fragt die Zeit angesichts des digitalen Booms. "Faule Säcke" (Ex-Kanzler Gerhard Schröder), die sich auf ihrer Beamtenalimentierung ausruhen, sitzen wenige Minuten die Woche an der Erstellung von Aufgaben und ruhen sich hernach zwei Wochen bei vollem Gehalt aus. Das ist vielfach ein anerkannter Gedankengang.

Wären die Kinder nicht, deren Zukunft uns die Eltern anvertrauen, ich würde ein Himmelreich geben, in Kurzarbeit gehen zu können! Nur um mir das Bashing zu ersparen.

Verständlich aber die Kritik am System, denke ich: Millionen von Eltern sind gerade alleingelassen mit dem "Homeschooling" ihrer Kinder, zermürben sich zwischen Homeoffice, das in 24/7 auszuarten droht, einer hemmungslosen Entgrenzung von Berufs- und Familienleben, Haushalt, Hobby und den Zukunftschancen ihrer uns Pädagogen eigentlich anvertrauten Kinder.

Wir persönlich auch: ein Lehrerhaushalt mit zwei Kindern, 4 und 9 Jahre alt, und dem nahezu unerträglichen Luxus eines großen Gartens, den wir dieser Tage oft als "Lebensversicherung" wahrnehmen. Ich, Jahrgangsleiter an einer Gesamtschule, meine Frau, Gesamtschullehrerin in Teilzeit mit einem nun virtuellem Lehrauftrag an der Uni für angehende LehrerInnen "nebenher".

Und das deutsche Bildungssystem? Das setzt hoffnungslos falsche Prioritäten. Mein Vertrauen in die Bundes- und Landespolitik befindet sich in Sachen Bildungspolitik in einer ernsten Krise. Statt die Jüngsten wieder in die Schulen und Kitas zu lassen, jene Mitbürgerinnen und Mitbürger, die mehr als alle anderen soziale Kontakte und Beziehung benötigen, um lebenswichtige Lernerfolge zu erzielen und Sozialisation zu erfahren, setzt sich das alte Denken durch. Seit der neoliberalen Wende im Bildungsdiskurs (die paradoxerweise ausgerechnet unter rot-grün in den 1990ern erfolgte) geht es nur noch um "best practise", um ökonomisch verwertbare und bezifferbare Erfolge.

Lieber die Abiturienten und anderen Abschlussklassen unter krankenhausähnlichem, apädagogischen Bedingungen ihre Abschlussarbeiten schreiben lassen, als auf den hart erarbeiteten Notendurchschnitt der letzten Jahre zu bauen. Die Schüler, die jetzt die Klausuren ihres Lebens schreiben, sitzen zuhause und kümmern sich um kleine Geschwister, während die Eltern um ihren Job bangen. Angst und Unsicherheit sind kein guter Lernbegleiter, das sagen alle lernpsychologischen Studien. Hier zeigt sich, wie realitätsfern die Bildungspolitiker sind. Von nicht umsetzbaren Abstandsregeln ganz zu schweigen.

Dieser Artikel verfolgt zwei Ziele: einerseits zu zeigen, wie sich LehrerInnen dieser Tage zermahlen, und andererseits zu zeigen, wie katastrophal die (bildungs)politischen Entscheidungen dieser Regierung sind. Parteilichkeit und Expertise verschwimmen dabei.

Ein Lehrer ist kein Roboter. Bildung kein Algorithmus. Schüler keine Blackbox

Ich habe in frühen wissenschaftlichen Arbeiten zu Studienzeiten versucht, eine Analogie der Psychoanalyse und der Professionalität im Lehrerberuf zu fundieren. Der psychisch belastete Klient wendet sich aus freiem Willen an den Psychoanalytiker, weil ersterer mit einer lebenswichtigen Krise nicht mehr alleine klarkommt. Er benötigt stellvertretende Krisendeutung. Jemanden, der seine Situation im persönlichen Kontakt analysiert, von extern beleuchtet, spiegelt, rückmeldet - und ihm Mittel zur Hand gibt, diese Krise zu bewältigen, zu verstehen, zu deuten, zu lösen. Mehr nicht. Stellvertretende Krisendeutung. Das ist es.

Nichts anderes möchte eigentlich der Schüler vom Lehrer. Er kommt mit einem intellektuellen oder kognitiven Problem nicht weiter und bittet um Hilfe. "Problemorientierter Unterricht" war jahrelang die Antwort. Der Lehrer als Lernbegleiter.

Dieses Problem der Schüler zu lösen, benötigt Vertrauen und Beziehung. Im Zweifel aber auch einfach die Lehrerpersönlichkeit. In physischer Präsenz. Schwarze Schafe gibt es auch unter uns Pädagogen zuhauf. Aber lassen wir die Feinheiten.

Ein "professioneller" Lehrer möchte für seine Schüler da sein, ihnen zuhören, ihre Augenbewegungen sehen bei der Bearbeitung von Aufgaben, um agieren zu können. Er sieht, wann und wo es zu Problemen kommt, er handelt impulsiv. Mit Tipps, Aufgaben, Fragen, privaten Gesprächen. Spontan und erfahrungsgeleitet. Menschlich. Ein Lehrer ist kein Roboter. Bildung kein Algorithmus. Schüler keine Blackbox. Wie Flammen entzünden und nicht wie Fässer befüllen - das ist das aufklärerische Motto von Bildung. Demokratische Teilhabe und diskursive Kompetenzen lassen sich nicht am Computer schulen. Meinungen kann man nicht gegen "Powerpoint" verteidigen oder schärfen.

Wochenpläne mit textlastigen Aufgaben sind lernpsychologisch eine Katastrophe

Das kann der Lehrer nun nicht mehr. Wir sind verdammt, Aufgaben zu stellen, die online zur Verfügung gestellt werden. Videokonferenzen sind technisch möglich, aber sie erfordern Hardware, die man von den Schülern nicht erwarten kann. Auch räumliche Verhältnisse, die nicht immer gegeben sind. Um nicht von der Qualität der Internetanbindung zu sprechen. Auch bei mir am Rechner funktionieren sie nicht.

Wochenpläne mit textlastigen Aufgaben als einzig gangbare Alternative für viele Kollegen mit durchschnittlich 150 Schülern im Unterricht sind aber lernpsychologisch eine Katastrophe. Kinder, die zuhause am Tisch sitzen, lesen, schreiben, abfotografieren und hochladen, müssen zwangsläufig ihre Lernmotivation verlieren. Und auch die Beziehung zu den Eltern, die als genervte und überforderte Ersatzlehrer die Peitsche schwingen, leidet.

Katastrophal auch, was wir diesen Schülern als Lehrer bieten können. Ich selber habe 28 Kinder in meiner Klasse. Jedes davon soll ich wöchentlich anrufen, jeder meiner 134 Schüler in verschiedenen Kursen soll eine wöchentliche, bestenfalls individuelle Rückmeldung zu seinen Aufgaben bekommen, die wöchentlich neu konzipiert werden müssen. Die 50 Oberstufenschüler brauchen noch eine individuelle Ersatzleistung für ihre Klausur. Die Abiturklausuren wollen gelesen und mit einem Gutachten versehen werden. Als Jahrgangsleiter soll ich zudem die Abschlussprüfungen für den Hauptschulabschluss koordinieren, den Kollegen und Eltern ihre vielen, berechtigten Fragen beantworten. Und das alles zeitnah, während unten im Garten die Kinder heulen und die Frau um Unterstützung bittet.

Über allem steht der Anspruch, kein Kind zurück zu lassen. Auch das eigene nicht, das täglich 120 Minuten Hausaufgabenbetreuung benötigt, die viele Eltern aus verschiedensten Gründen (Sprache, Zeit) nicht leisten können.

Prost Mahlzeit.

Pädagogisch und psychologisch ist es Folter, Kinder wie Hühner unter Stallpflicht mit Abstandsregeln zu halten

Dazwischen turnen ein Kindergartenkind und ein Grundschüler ohne Anspruch auf Betreuung. Weil Bildung ja nicht (prognostiziertes Unwort des Jahres 2020) "systemrelevant" ist. Und selbst wenn sie ab heute nun wahrscheinlich notfallbetreuungsberechtigt sind: Da ist das schlechte Gewissen, dass das, was wir den notbetreuten Kindern zumuten, ein Unding ist. Pädagogisch und psychologisch ist es Folter, Kinder wie Hühner unter Stallpflicht mit Abstandsregeln zu halten - und dabei Leistung in einigen Fällen noch einzufordern.

Ich selber schaffe nur einen Bruchteil der Arbeit, die ich für wichtig und nötig halte. Alle Erlasse beim Wort zu nehmen, würde eine Wochenarbeitszeit von über 100 Stunden bedeuten. Ich jongliere tagsüber im Homeoffice zwischen Elterngesprächen, Schüleranfragen, Organisation und Emailbeschuss. Am Handy, am PC. Abends rotiere ich zwischen Aufgabenerstellung, Planung und Korrektur von 20 Uhr bis ein Uhr. Der Kleinste wird um sechs Uhr wach.

Motivation, diesen Beruf auszuüben, geben mir nur noch die Schüler. Die meiner Klasse sehe ich einmal in der Woche in Tischgruppen-Videokonferenzen. "Hallo und wie geht es?" Immerhin. Mit einigen Eltern telefoniere ich stundenlang, mit anderen gar nicht. Einige Kinder besuche ich zuhause. Andere sehe und spreche ich vielleicht einmal zufällig beim Spaziergang. Andere schreiben nachts über WhatsApp, dass sie eine Aufgabe nicht verstehen.

Was ich verstehe, ist langsam der Zölibat - Beruf und Familie in Vollzeit ohne Kinderbetreuung zu bedienen, scheint kaum realisierbar, ohne Abstriche bei dem einen oder eben dem anderen machen zu müssen. Die Welt nicht retten zu können, ist eine Sache, der gesellschaftlichen Entwertung eines ganzen Berufsstandes zuzusehen, und zwar den von Menschen, denen man das Wertvollste anvertraut, das man hat - seine Kinder. Das ist eine ganz andere Hausnummer.

Kinder übertragen das Virus wie Erwachsene. Das scheint klar. Aber sie zeigen weniger Symptome. Wer nicht hustet, verteilt keine Tröpfchen und damit auch keine Erreger. Lasst die Kinder in die Schulen und die Kitas!