Last-Minute-Diplomatie in Genf
Ein womöglich letzter Rettungsversuch ist heute gestartet, um den nächste Woche stattfindenden Genfer UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft noch zu retten
Heute startete der wohlmöglich letzte Versuch, den zweijährigen Vorbereitungsprozess für den Weltgipfel der Informationsgesellschaft (WSIS) zum Erfolg zu führen. Bis Mittwoch früh, wenn über 60 Staats- und Regierungschefs und mehr als 6.000 Delegierte anreisen, muss eine Einigung über einen Aktionsplan und eine Deklaration erreicht werden, soll der Gipfel nicht scheitern.
Die Schweizer Eidgenossenschaft hat sich im letzten Jahrhundert wenig in die große Politik eingemischt. Ihre bevorzugte Rolle ist die eines Gastgebers. Die passive Schweizer Neutralität ist so etwas wie eine ständige Einladung für verfeindete Parteien und jenseits der Tagesstreitigkeiten operierenden Organisationen, sich an den Gestaden des meist sonnigen Genfer Sees zu treffen, von dem man eine wunderschöne Aussicht auf die friedlichen Gipfel der Alpen mit dem Mont Blanc an der Spitze hat.
Vor dem 1. Weltkrieg siedelte sich das internationale Rote Kreuz in der "Rue de la Paix" an. Der Versailler Vertrag bescherte Genf den Völkerbund. Nach dem 2. Weltkrieg wurde daraus ein UN-Zentrum und immer mehr UN-Spezialorganisationen kamen: WHO, WIPO, WTO, ILO, ITU, WMO. In den 60er und 70er Jahren trafen sich Sowjets und Amerikaner hier um über die atomare Abrüstung zu sprechen. Beide Botschaften sind nur ein paar hundert Meter voneinander entfernt, auch in der "Rue de la Paix". Jüngst waren die Nord- und Südkoreaner sowie die verfeindeten Zyprioten hier zu Gange, um auszutesten, wie man eine Wiedervereinigung hinbekommen könnte. Genfs Hotellerie und Gastronomie und die ganze lokale Wirtschaft leben von diesen Konferenzen aller Art. Und das ist gut für die Schweiz.
In dieses Bild passte es, auch einmal eine UN-Weltkonferenz zu beherbergen. Die kontroverse Vorbereitung des Genfer UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft aber produziert zunehmend Sorgenfalten. Schon hat man Tausende von Sicherheitsleuten gerufen, um unliebsame Zwischenfälle zu vermeiden. Und nun ist auch die Schweizer Diplomatie herausgefordert. Wer möchte schon gerne als Gastgeber eines "Desasters von Genf" in die Geschichte eingehen. Das drohende Scheitern des Gipfels mobilisiert ungeahnte Kräfte.
Wer ist der Unruhestifter?
Zunächst fürchtete man in der Schweiz, dass der "Unruhestifter" beim Gipfel die Zivilgesellschaft werden könnte. Beim diesjährigen G8-Gipfel im auf der anderen Seite des Genfer Sees gelegenen französischem Evian waren Tausende von Demonstranten durch die Genfer Innenstadt gezogen (Gipfel des schönen Scheins). Es kam zu Eskalationen.
In vorausschauender Vorsorge lud daraufhin der Genfer Kantonalspräsident bei der PrepCom3 im September 2003 Vertreter der Zivilgesellschaft in sein Rathaus, spendierte Sekt und Kaviar und zeigte, wie nebenbei, den Besuchern das berühmte Zimmer, in dem im 19. Jahrhundert beherzte Bürgervertreter, ohne die Regierungen zu fragen, nach der mörderischen Schlacht von Solferino das Internationale Rote Kreuz gegründet hatten. Der Wink mit dem Zaunspfahl war unübersehbar.
Im November 2003 lud Staatspräsident Couchepin sogar höchstpersönlich Vertreter der Zivilgesellschaft zu einem private tete-a-tete und erkundigte sich, wo es denn Reibungsflächen gäbe und wo man helfen könnte. Für die bei diesem Gespräch artikulierten Frustrationen des Zivilgesellschaft zeigte der Präsident Verständnis. Auf der nachfolgenden Pressekonferenz ging sein Staatsminister Marc Furrer sogar noch einen Schritt weiter, in dem er die Absicht der Zivilgesellschaft, eine eigenständige Deklaration auf dem Gipfel zu verabschieden, "keine schlechte Idee" nannte. Die Zivilgesellschaft, so Furrer, könne manche Dinge unbefangener formulieren als dies Regierungen könnten.
Furrers Bemerkungen kommen nicht von ungefähr. In der Endphase der Gipfelvorbereitungen wird den Schweizern langsam Angst und Bange, dass der Gipfel an unüberbrückbaren Gegensätzen zwischen einigen Regierungen scheitern könnte (Notoperation vorerst gescheitert). So fuhr vor zwei Wochen Präsident Couchepin extra nach Peking, um die Chinesen von ihrer harten Linie beim Thema Menschenrechte abzubringen. Und mit stiller Diplomatie wird versucht, wenigstens etwas Geld aufzutreiben um die "Digital Solidarity Agenda" mit einem "Digital Solidarity Fund" zu untersetzen (Alles nicht so schlimm). Ex-Präsident Ogi wurde zum Sondergesandten für die WSIS ernannt. Und Staatssekretär Furrer mit seinem Botschafter Stauffenberger versuchen in endlosen Gesprächen die verstrittenen Diplomaten zu einem Einlenken zu bewegen.
Diplomatische Glasperlenspiele
Am 1. Dezember 2003 wurden nun zwei neue Kompromissdokumente eines "Facilitation Teams" vorgelegt. Diese beiden "Non-Papers" sind der vielleicht letzte Versuch, in Tag- und Nachsitzungen bis zum Beginn des Gipfels noch ein einigermaßen substantielles Schlussdokumente zu produzieren.
Mit etwas Abstand betrachtet, ist die "Last Minute Diplomatie" eine ebenso kuriose wie brillante Demonstration eines semantischen Glasperlenspiels der höheren Kategorie. Das Jonglieren mit Worten, die für unüberbrückbare Positionen stehen, führt dann zu einer Winkeladvokatur nach dem folgenden Muster:
Die Chinesen stoßen sich bereits am ersten Paragraphen des Deklarationsentwurfes daran, dass im letzten Absatz die UN-Charta von 1945 in einem Atemzug mit der UN-Menschenrechtsdeklaration von 1948 als Grundlage für eine globale Informationsgesellschaft genannt wird. Die UN-Menschenrechtsdeklaration, wiewohl ein politisch bedeutsames Dokument, sei nicht, wie die UN-Charta, ein völkerrechtlicher Vertrag und gehöre da also nicht hin, sagen die Chinesen.
Sie sehen hinter dieser Gleichsetzung eine Art Heimtücke des Westens, ihnen die in Artikel 19 der Menschenrechtsdeklaration verankerte uneingeschränkte Garantie des individuellen Rechts auf freie Meinungsäußerung als universelles Rechtsprinzip aufzudrängen. Dies würde es möglicherweise der chinesischen Regierung erschweren, sich bei Auseinandersetzungen mit der inneren Opposition primär auf die nationale Gesetzgebung zu berufen. Der Westen wiederum sagt, ohne Meinungsfreiheit keine Informationsgesellschaft.
Was also machen? Das "Facilitation Team" streicht nicht einfach den Bezug zur Menschenrechtsdeklaration aus dem Text des Paragraphen 1, wie von den Chinesen gefordert, sondern macht daraus einen separaten Satz. Demzufolge kommt also nach dem Verweis auf die rechtsverbindliche UN-Charta ein Punkt. Und danach kommt ein mehr allgemeines Bekenntnis zur juristisch nicht verbindlichen UN-Menschenrechtsdeklaration. Da hat der Westen seinen Bezug zur Meinungsfreiheit. Und die Chinesen könnten befriedigt sein, weil die völkerrechtlich nicht verbindlichen Menschenrechtsdeklaration nicht auf eine Stufe mit der völkerrechtlich verbindlichen UN-Charta gestellt wird. Deklarationen der UN sind halt Empfehlungen und da kann jeder UN Mitgliedsstaat mehr oder minder machen, was er will.
Andere Streitpunkte wie die zum geistigen Eigentum oder zu Internet Governance werden ähnlich mit Nebel umgeben oder auf die prozessuale Schiene geschoben. Wenn man jetzt nicht mehr weiter weiß, dann gründet man einen Arbeitskreis. Und der kann dann bis zur zweiten Gipfelphase im November 2005 in Tunis Bericht erstatten.
Die Amputation der Schlussdokumente hat natürlich zur Folge, dass immer weniger Staatschefs die Reise zum Weltgipfel als wichtig ansehen. Präsident Bush schickt seinen Wissenschaftsberater als Delegationsleiter, die Briten einen zweitrangigen Minister. Auch bei den Russen kommt weder Präsident noch Ministerpräsident, sondern der Minister für Kommunikation. Immerhin sind die Franzosen noch mit Ministerpräsident Raffarin vertreten. Er hat ja auch eine kurze Anreise.
Der deutsche Bundeskanzler, der den Termin zunächst fest im Kalender hatte, ist mittlerweile vielleicht ganz froh, dass er wegen der Sitzungen des Vermittlungsausschusses einen plausiblen Entschuldigungsgrund hat. Heimspiele gehen vor Auswärtsspielen. So wird Minister Clement den Genfer Kompromiss, sollte er denn zustande kommen, mit tragen.
Die 60 Staats- und Regierungschefs kommen so mehrheitlich aus der Dritten Welt. Fidel Castro, der noch einmal an den Genfer See reist, wird es sich sicher nicht nehmen lassen darauf hinzuweisen, dass die globale "digitale Spaltung" sich nun auch noch in einer "Repräsentationsspaltung" reflektiert.
Bemerkenswertes im Windschatten
Im Windschatten dieser intergouvermentalen Streitigkeiten aber hat sich ein bemerkenswerter Parallelprozess entfaltet, der zunehmend eine Eigendynamik gewinnt und für den Weg zur Phase zwei des Gipfel von wachsender Bedeutung ist. Über 200 sogenannte "Side-Events" werden von mehrheitlich nicht-staatlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen veranstaltet, die sich mit ganz undiplomatischen Formulierungen mit den konkreten Gipfelthemen befassen.
Beim World Electronic Media Forum, beim Gipfel der "Telecities" oder bei den Expertenkonferenzen zu "Internet Governance" und "Open Source" kann man all die Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts hören. die die Regierungen in ihren Schlussdokumenten nicht geben können oder nicht geben wollen. Möglicherweise wird die zivilgesellschaftliche WSIS-Deklaration mittelfristig eine stärkere Bedeutung erlangen als die weich gespülten Regierungsdokumente. Dies wäre jedoch so neu auch wieder nicht.
1948, der "kalte Krieg" hatte gerade begonnen, ist in Genf schon einmal eine UN-Weltkonferenz gescheitert, die aber dennoch einen bemerkenswerten Seiteneffekt hatte. Bei der "UN-Konferenz zur Presse- und Informationsfreiheit" im Mai 1948 gerieten sich Russen und Amerikaner derart in die Haare, dass die Konferenz mit einem Desaster endete. Keine der diskutierten vier Konventionsentwürfe wurde verabschiedet. Einig wurde man sich nur über einen zunächst unscheinbaren, aus vier Zeilen bestehenden Paragraphen zur Informationsfreiheit, der als nicht verbindliche Empfehlung zusammen mit den vier kontroversen Konventionsentwürfen an die UN-Vollversammlung weitergeleitet wurde. Während die geplanten rechtsverbindlichen Dokumente auf der Strecke blieben, überlebte der "Vier-Zeilen-Paragraph" und fand als Artikel 19 Eingang in die im Dezember 1948 angenommene UN-Menschenrechtsdeklaration.