Leben mit Entscheidungsmaschinen
Seite 3: Entgrenzungen der kulturellen Matrix
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Damit komme ich zur zentralen Frage, welche schleichenden Entgrenzungen der kulturellen Matrix mit dem Boom der digitalen Selbstvermessung verbunden sind. Die kulturelle Matrix ist eine Umschreibung für die Gesamtheit der Regeln unseres Zusammenlebens. Es geht also um grundlegende soziale Normen, Werte und Institutionen.
Die Entgrenzungen der kulturellen Matrix durch Lifelogging lässt sich in zehn Einzelperspektiven aufzeigen, die ich auf drei Ebenen anordne. Das ist meine Form der Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes zum Thema Lifelogging. Schon aus Zeitgründen werde ich nicht alle zehn Erklärungen gleich detailliert vorstellen. Vielmehr greife ich einige heraus, die ich für besonders zentral halte.
1. Phänomene der gesellschaftlichen Transformation und Entgrenzung auf der Makroebene
Erstens interessieren mich die Phänomene der gesellschaftlichen Transformation auf der Makroebene, also die Frage, wie sich Gesellschaft insgesamt durch Selbstvermessung verändert. Ich gehe dabei vor allem auf den Aspekt der Kontingenzreduktion ein, weil damit eine übergreifende Erklärung für das Auftreten des Phänomens Lifelogging geliefert werden kann.
Warum sind wir gerade jetzt im "Zeitalter des Lifelogging" angekommen, wie Jim Gemmell behauptet? Thesen, die auf die Verfügbarkeit miniaturisierter Technologien und günstigem Speicherplatz eingehen, greifen meiner Ansicht nach zu kurz. Dieser Verkürzung möchte ich die These des privaten Risikomanagements entgegensetzen.
Ausgangspunkt meiner These ist die Feststellung, dass Komplexitäts- und Krisenerfahrungen in sozial erschöpften Gesellschaften zunehmen. Die Folge ist eine Endogenisierung (Verinnerlichung) des Risikomanagements, also der Rückzug auf die Maßstabsebene des Beherrschbaren. Und die beherrschbare Maßstabsebene ist zunächst einmal der eigene Körper und das eigene Lebensumfeld. Wir Sozialwissenschaftler nennen es die Privatisierung von Kontingenz.
Kontingenz - also die alltagsbegleitende Erfahrung der prinzipiellen Offenheit des eigenen Lebens und die Wahrnehmung eines "Es-könnte-immer-auch-ganz-anderssein", fällt allerdings nicht vom Himmel. Die Notwendigkeit zur Privatisierung von Kontingenz ist die Folge gesellschaftlicher Entwicklungen, die ich hier nur mit ein paar Schlagworten andeuten kann:
- die Allgegenwart prekärer Lebensverhältnisse, also das Grundgefühl, das nichts mehr sicher ist, auf nichts mehr wirklich Verlass ist;
- die Zwangsflexibilisierung in allen Märkten, die unsere Gesellschaft ausmachen: Arbeits-, Gesundheits-, Konsum-, Beziehungsmärkte usf.;
- das Erleben mangelnder Selbststeuerungsfähigkeit und damit einhergehend ein fundamentaler Vertrauensverlust in politische Institutionen. Wir wissen letztlich nicht mehr, wo wir einen Hebel haben, an dem wir ansetzen können.
Das alles (und noch viel mehr) führt zur Suche nach Möglichkeiten der Kontingenzreduktion und damit der Herstellung neuer Sicherheiten, Orientierungen und Verlässlichkeiten.
Eine Lösung sind Fundamentalismen, wie wir sie gerade überall erleben. Eine andere Möglichkeit ist die Flucht ins Einfache, so wie es z.B. im Zentralorgan für Eskapisten "Landlust" zum Ausdruck kommt.
Aber auch Selbstvermessung ist eine Form der Kontingenzreduktion. Der Rückzug auf die Maßstabsebene des eigenen Körpers als Form der datengetriebenen Erfahrung von Selbstwirksamkeit schafft genau das Gefühl von Orientierung, das ansonsten verloren gegangen ist.
Daten sind quasi "Deiche" gegen böse Überraschungen, weil Beherrschbarkeit des eigenen Lebens das Wichtigste ist und weil kein Mensch mehr (böse) Überraschungen erleben möchte. Die Illusion der Vermessbarkeit (von fast allem) ist vielleicht das letzte Mittel gegen unsere "transzendentale Obdachlosigkeit" (wie dies 1916 Lukács nannte). Dem Verlust der metaphysischen Geborgenheit setzen Selbstvermesser vertrauensvoll bunte Balkendiagramme, deskriptive Statistiken und eine letztlich eine Logik entgegen, die sich in hypnotisch redundanten Sinn-Formeln erschöpft. Immer geht es um die Steigerung von Sicherheit, Selbsterkenntnis, Selbstbestimmtheit etc.
Letztlich macht das nur eines deutlich: Die "freiwillige" Selbstvermessung ist also gar nicht so freiwillig, sondern ein Reflex auf die großen Verunsicherungen und die Zunahme von Zwängen.
In der Konkurrenz- oder Wettbewerbsgesellschaft weiß eigentlich niemand mehr so genau, was unter dem Begriff "Leistung" zu verstehen ist. Diese "semantische Promiskutität" (Martin Seel) schafft eine kollektive Verhaltensunsicherheit und fördert den schleichenden Rückzug auf eine einfache und zugleich messbare Leistungslogik: Mehr Schritte, weniger Kalorien usf. ...
In der Kontrollgesellschaft führt die gerade beschriebene Zunahme von Verunsicherungen zu einer schleichenden Akzeptanz expliziter und impliziter Formen der Überwachung. Diese führen vor dem Hintergrund einer neuer Biopolitik - also der politischen Steuerung der Bevölkerung als "Gesamtkörper" - zu neuen Phänomenen der Kontrolle:
Zu vertikalen Formen der Kontrolle gesellen sich zunehmend auch horizontale Formen, die sich als Vergleiche innerhalb von Bezugsgruppen tarnen und euphemistisch als Persönlichkeits-Veredelungsprojekt vermarkten.
Dabei entsteht aber eine digitale Klassengesellschaft, die auf vermeintlich objektiven und vor allem rationalen Messverfahren basiert, tatsächlich aber neue soziale Bewertungsmechanismen entstehen lässt. Dieses Phänomen nenne ich rationale Diskriminierung. Rationale Diskriminierung funktioniert antagonistisch. Bürgerinnen und Bürger werden dabei in binär codierte Gruppen "sortiert", z.B.:
- Leistungsträger / Leistungsverweigerer
- Kostenverursacher / Kosteneinsparer
- Health-On-Menschen (Gesunde) / Health-off-Menschen (Kranke)
- Wertvolle / Wertlose
- Nützliche) / Entbehrliche
In dieser digitalen Klassengesellschaft erodiert jegliches Solidargefüge. Es kommt zu einer Renaissance vormoderner Anrufungen von "Schuld" im modernen Gewand der Rede von der "Eigenverantwortung". Wenn aber Eigenverantwortung letztlich in Individualverträge mündet und z.B. Patienten bei Krankenkassen oder Schüler und Studierende in "Risikogruppen" eingeteilt werden, dann zementieren sich auf Dauer neue soziale Kategorien der Bevorzugung und Benachteiligung. Denn bei der Sortierung kann es nicht nur Gewinner geben.
2. Quantifizierung als intermediäre Instanz und Entgrenzung auf der Mesoebene Auf der Mesoebene geht es um die Frage, warum und wie Zahlen und Daten überhaupt die ihnen zugesprochene Funktion einnehmen können. Was ist also das Wesen der Quantifizierung? Und woher rührt unsere Kennzahlengläubigkeit?
Kommensuration
Kommensuration bedeutet in diesem Zusammenhang, dass qualitative Eigenschaften in quantitative Werte transformiert, damit messbar und vergleichbar gemacht werden.
Lifelogging basiert grundlegend auf dieser Gleichsetzung von Qualität und Quantität. In den protowissenschaftlichen Selbstexperimenten der Lifelogger entstehen Zahlenreihen. Dieses quantifizierende Wissen hat dann einige interessante Eigenschaften:
- es stellt sich "emanzipatorisch" gegen das kodifizierte Expertenwissen, z.B. von Ärzten;
- es fokussiert sich auf die messbaren Ausschnitte und blendet andere aus. Damit wird zwangsläufig das Messbare überbetont;
- es erzeugt Kategorisierungstechniken wie Listen, Rankings, Benchmarks und damit auch Ansätze von Gamification - also den spielerischen Vergleich.
Problematisch daran ist, dass dieses Wissen auf einem sog. Kategorienfehler basiert: Einzelne vermessbare Aspekte eines großen Ganzen werden mit diesem großen Ganzen verwechselt. Ein Beispiel hierfür ist das Mood-Tracking - also die Vermessung von emotionalen Stimmungen. Glück und Lebensqualität sind Beispiele für weitere Dimensionen des Menschlichen, die anfällig für Kategorienfehler sind.
Je mehr Einzelaspekte sich aber vermessen lassen, desto eher treten das Messen selbst und damit auch das Bewerten in den Vordergrund. Die eigentlichen Ziele - sich gut zu fühlen, gesund zu leben oder glücklich zu sein - werden von den Mitteln der Datenerfassung dominiert. Diese gestörte Zweck-Mittel-Balance und die damit einhergehende Normierung von beinahe allem - Glück, Leben, Konsum, Arbeit, Sex - ist eine der augenfälligsten "shifting baselines", die mit Lifelogging verbunden ist. Daten verwandeln komplexe Persönlichkeiten in numerische Werte. Vermessung macht im Extremfall aus gesunden Menschen kranke Konsumenten.
Kommerzialisierung und Kommodifizierung
Kommerzialisierung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Lebensdaten nach ökonomischen Logiken verwertet werden. Ein Beispiel dafür ist die "freiwillige" Selbstvermessung am Arbeitsplatz, die nach dem von Francis Taylor erfundenen Prinzip "Pensum und Bonus" funktioniert.
Die während der Industrialisierung entstandene Optimierung und Rationalisierung der Warenherstellung überträgt sich nun auf den Menschen. Kommodifizierung bedeutet, dass letztlich der ganze Mensch zur Ware wird. Denn alles ist inzwischen ein Markt geworden oder wird zumindest marktförmig organisiert: Es gibt Beziehungsmärkte, Bildungsmärkte, Konsummärkte und Gesundheitsmärkte. Letzterer hat die größten Zuwachsraten und damit eine Vorreiterfunktion, wenn es um effiziente Verteilungsprinzipien von Leistungen geht. Die Versicherung Generali oder das Health-Score-Unternehmen dacadoo sind prominente Beispiele.
Der springende Punkt aber ist: Um in Märkten zu navigieren, werden Kennzahlen benötigt, keine Intuition oder Erfahrung. Als Folge davon leben wir in einer Hitparaden-Gesellschaft, in der wir ständig und überall von Smilies, Listen, Evaluationen und Rankings umgeben sind, die uns (angeblich) helfen, den eigenen gesellschaftlichen Ort zu bestimmen.
Individuelle Entgrenzungen des Subjekts auf der Mikroebene Auf der Mikroebene schließlich geht es genau um diese Selbstverortung. Welche individuellen Entgrenzungen sind mit der Selbstvermessung verbunden, von der wir inzwischen wissen, dass sie nicht ganz so freiwillig stattfindet, wie es scheint. Kybernetische Selbststeuerung Unter kybernetischer Selbststeuerung verstehe ich die Tatsache, dass sich die Formate der Selbstthematisierung bis hin zum digitalen Exhibitionismus graduell entwickelt haben. Schon beim Übergang zur Neuzeit prägte Rousseau den Begriff perfectibilité, also die Fähigkeit des Menschen sich selbst zu vervollkommnen. Er beschrieb diese als unstillbare Neigung, sich selbst immer perfekter zu machen. Dafür gibt es inzwischen immerzu neue Mittel, deren Akzeptanz stetig zunimmt.
Dies hat aber mit noch einem anderen Prozess zu tun, den ich näher thematisieren möchte, dem Vordringen einer neuen Sorte von Kapital, dem korporalen Kapital. Dabei wird der Körper zum Lifestyle-Produkt und zum Tempel verklärt. Gesundheit bekommt die Funktion einer Ersatzreligion und Menschen "investieren" in Körperdinge und Körperprojekte. Es kommt zu einer Art Naturalisierung oder Domestizierung des Menschen: Das Leben wird zum Projekt und der Körper wird zum Objekt. In der Selbstvermessungsszene finden sich tatsächlich viele Beschreibungen, die darauf schließen lassen, das gerade ein neues Menschenbild entsteht: das mechanistische und funktionalistische Bild eines in Einzelteile zerlegbaren Körper-Objekts, dass man bei Defekten selbst repariert oder in entsprechende Reparaturwerkstätten bringt.
Die Überbetonung des Körper-Kapitals erklärt dann auch, warum es zu immer neuen Investitionsstrategien und Behandlungsformen des eigenen Körpers kommt. Lifelogging ist nicht das einzige Beispiel für die Investition in korporales Kapital - Anti-Aging-Produkte und Social Egg Freezing sind ebenso Anzeichen dieses Denkens. Aber Lifelogging greift sowohl tiefer als auch breiter in diesen Kapitalisierungsprozess ein, so meine These.
Aus einer Ko-Evolution technischer Mittel und veränderter sozialer Zwecke ergibt sich schlussendlich das Leben in der versachlichten Realität. Mit dem Begriff der assistiven Kolonialisierung möchte ich daher die genannten Phänomene zusammenfassen. Durch assistive Kolonialisierung unserer Lebenswelt entsteht aus dem autonomen Subjekt letztlich das assistierte Selbst. Das assistierte Selbst erweitert sich mittels Prothesen, optimiert und entgrenzt sich zugleich. Assistenz-formen als neue sozio-technische Prothetik beginnen bei der Einparkhilfe, gehen über die vibrierende Gabel (die vor zu hastigem Essen warnt) und enden schließlich bei "smarten", sensorbestückten Wohnhäusern, die alles über ihre Bewohner "wissen".
Assistive Kolonialisierung bedeutet, dass der Mensch nur noch funktioniert, während eine Maschine handelt. Assistive Kolonialisierung verändert unsere Sichtweise auf zentrale Dimensionen des Miteinanders: auf Sicherheit, auf Fürsorge, auf Solidarität und vor allem auf das, was wir als "normal" bezeichnen.
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