Leben mit Prothesen
Erst seit wenigen Jahrzehnten gibt es künstliche Glieder, die einen annähernd natürlichen Bewegungsablauf ermöglichen. Inzwischen planen Mediziner synthetische Körperteile durch biologische zu ersetzen
Vielleicht sieht so der künstliche Mensch aus? Ein bisschen gruselig wie die Figur im Eingang der Ausstellung „Leben mit Ersatzteilen“. Seine Glasaugen blicken den Besucher starr an. Der rechte Arm ist aus Kunststoff, der farblich die Haut imitiert. Ein Metallbolzen wächst aus dem Sprunggelenk. So blutleer wie der weiße Aortabogen ist der ganze Körper, zusammengesetzt aus Prothesen. Die Vorstellung, selbst mit einem dieser künstlichen Organe leben zu müssen, befremdet. Dabei will die bis zum 25. Februar 2007 laufende Schau im Medizinhistorischen Museum der Charité in Berlin nicht schocken, obwohl sich auf dem Weg durch die weißen Gänge aus milchigem Plexiglas das mulmige Gefühl einstellt, hier geradewegs auf dem Weg in den Operationssaal zu sein.
Im nüchternen Ausstellungsdesign zeichnen knappe sachliche Erläuterungen zu den 400 Exponaten die Entwicklungsgeschichte der Prothesen nach. In diesem Sammelsurium gibt es viele kuriose Dinge wie die riesigen Hörrohre, die heutzutage in ansprechendere moderne Hörgeräte in Form von Papageien weiter entwickelt wurden. Oder kleine Metallkisten als Herzschrittmacher, die ebenso der Vergangenheit angehören wie das hölzerne Stelzbein aus dem 16. Jahrhundert, das den Unterschenkel ersetzte. Heute imitieren Prothesen die Hautfarbe. In der Geschichte der Ersatzteile für den Menschen spielten ästhetische und kosmetische Aspekte immer eine große Rolle. Schmerzlich erfahren musste das George Washington, der mit seinen dritten Zähnen als Behelf noch heute schief lächelnd von der 1-Dollar-Note blickt.
Bis überhaupt Implantate im menschlichen Körper eingepflanzt werden konnten, mussten zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen bedurfte es der den Schmerz betäubenden Narkose, wie sie seit 1846 erstmals angewendet wurde. Zweitens konnten erst im 20. Jahrhundert körperverträgliche Materialien entwickelt werden, wie das Hüftgelenk aus Titan.
Den Körper imitieren
Und auch der Ersatz ganzer Gliedmaßen, mit denen man sich quasi natürlich bewegen kann, gelang erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dafür liefert die Ausstellung einen augenfälligen Vergleich. Statt eines geschnitzten Holzstücks mit einem Haken als Greifhilfe, lassen sich künstliche Arme heutzutage über elektrische Impulse steuern. Ein Mensch kann damit wieder zugreifen. Wie das funktioniert, lässt sich in der Schau selbst ausprobieren. Dazu legt man das eigene Handgelenk zwischen zwei Elektroden, die die Impulse der eigenen Bewegung an einen künstlichen Arm weiterleitet. Ein beklemmender Selbstversuch, der natürlich keine Vorstellung davon vermitteln kann, wie sich so eine Prothese anfühlt, noch wie schwierig ihr Gebrauch ist. Gerade mal vier Handgriffe sind mit der neuesten synthetischen High-Tech-Hand möglich. Aber eine Sinnesempfindung ist selbst mit modernster Technik nicht möglich.
Dennoch entsteht beim Lesen der Begleittexte manchmal der Eindruck, als sei das Leben mit Ersatzteilen nicht so schlimm, wenn sie lediglich die funktionale Weiterentwicklung und ihre verbesserte Einpassung in den menschlichen Körper schildern. Es ist eine Geschichte ganz ohne Schmerzen, von der auch die Katalogtexte nur wenig zu berichten wissen.
Alles halb so schlimm?
Wie erleben Menschen selbst Prothesen? Welche Hoffnungen verbinden sie mit den synthetischen Gliedern und welche Probleme können damit für sie einhergehen? Einige Betroffene hatten die Gelegenheit, in Videointerviews über ihr Leben mit Prothesen für die Ausstellung zu berichten. „Ich kann zu Ersatzteilen nur raten“, berichtet eine 79-jährige Rentnerin. Das ist auch verständlich, berichtet die Frau doch von starken Schmerzen, die sie vor ihrer Operation hatte. Mit zwei neuen Hüften aus Titan und einem künstlichen Knie spielt sie wieder unbeschwert Tennis. Schlimmer traf es eine junge Frau, der ein Bein nach einer Krebserkrankung amputiert wurde. Den Schock darüber überwand sie erst allmählich. Als sie mit einer Prothese wieder gehen lernte, war es ihr nach eigener Aussage egal, dass sie sich nun mit einem Fremdkörper fortbewegen musste. „Denn das war jetzt endlich ein Bein, das ich richtig benutzen konnte.“
Beide Frauen beschränken sich bis auf einige wenige Bemerkungen über physische und psychische Belastungen in ihrer Schilderung auf den funktionalen Aspekt des Lebens mit den Fremdkörpern. Dabei betonen sie ihre neue Beweglichkeit mit den künstlichen Gelenken. Auch in anderen Videointerviews gewinnt man den Eindruck, als habe es für die Befragten nur wenige belastende Momente gegeben in ihrem Leben mit dem Körperteilersatz. Ein Mann mit zwei Armprothesen berichtet von zwar von ablehnenden Reaktionen anderer insbesondere bei Berührungen des sich kalt anfühlenden Kunstarms. Aber dann ist das Gespräch schon wieder vorbei. Für eine eingehendere Schilderung ist in den kurzen Interviews keine Zeit. Hierzu wäre wenigstens ein Begleittext in dem ansonsten ausführlichen Katalog zu den psychischen und sozialen Auswirkungen einer Prothese angebracht, die bis hin zu Stigmatisierungen und Ausgrenzung von Menschen führen können.
Dass es auch anders geht, zeigt eine Dokumentation des ZDF, die im Themenbereich „Auge“ zu sehen ist. Der Film begleitet einen Blinden in seinem Alltag, der mit einer elektronischen Sehhilfe, die mit seinem Gehirn verbunden ist, hofft, wieder etwas sehen zu können. 85.000 Dollar kostet die Installation. Alles, was der Mann schließlich sieht von seiner Familie und seiner Umgebung, sind weiße Umrisse auf einer schwarzen Fläche. Noch hat er die Hoffnung nicht aufgegeben, dass er einmal nicht mehr in die Dunkelheit blickt.
Natürlicher statt künstlicher Ersatz
Aber die langfristigen Ziele der Medizin weisen weit über diesen phantastisch anmutenden Versuch hinaus, den Menschen mit synthetischen Teilen zu ergänzen, um so sein Handicap zu minimieren. Vielmehr arbeiten Forscher daran, „verbrauchte“ Organe und Gliedmaßen durch neue zu ersetzen. Haut, Knorpel und sogar Herzklappen lassen sich schon heute aus patienteneigenen Zellen bilden. Die Verheißungen der embryonalen Stammzellenforschung versprechen gar, den Herzmuskel neu entwickeln zu können. Dieses auch in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierte Kapitel handelt die Ausstellung in einer knappen Präsentation ab. Auf zwei kleinen Tafeln kann man lesen, dass sich embryonale Stammzellen unbegrenzt vermehren lassen. Worin nun der Vorteil gegenüber anderen Verfahren mit adulten Zellen besteht, gegen die dieses Argument vermutlich zielt, bleibt aber unklar. Nerven- und Herzzellen konnten daraus schon gewonnen werden. Allein der Hinweis, dass die Gewinnung embryonaler Stammzellen in Deutschland nicht möglich ist, lässt vielleicht manchen Leser an dem Projekt zweifeln. Hat er die spärlichen Informationen gelesen, kann der Besucher selbst in einem Computerterminal noch einige Statements von Experten über das Für und Wieder dieser Zellproduktion nachlesen und sich mit einem eigenen Kommentar einmischen.
Eine ganz andere Frage aber ist, wem der Fortschritt der Medizintechnik noch zu Gute kommen kann. Immer mehr Menschen könnten die viel versprechenden Behandlungsmöglichkeiten und Prothesen verwehrt bleiben, wenn mit jeder Neuentwicklung die Kosten dafür steigen. Angesichts der Diskussion über die Finanzierung des Gesundheitsbereichs und den nicht abreißenden Forderungen nach mehr Eigenbeteiligung ist das mehr als wahrscheinlich. Und schon längst erhalten nicht alle Menschen, denen ein Bein amputiert wurde, eine High-Tech-Prothese wie die „C-Leg“, weil ihre Krankenkasse die Kosten nicht übernimmt. Auch wenn sie damit wieder schnell laufen und Sport treiben könnten.