Leben wie im Schlaraffenland

Schöner leben in Methanquellen: Die heutigen Tiefseebewohner sind erdgeschichtlich älter als ihre Verwandten im Flachwasser

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Sie leben in einer Umgebung, in der sonst wenig gedeiht: Das Wasser ist eiskalt, Schwefelwasserstoff und Methan sorgen für ein hochgiftiges Ambiente. Doch für verschiedene Schalentiere (Mollusken) – riesige Miesmuscheln, Meeresschnecken und Röhrenwürmer –, die sich an Methanquellen auf dem Meeresboden angesiedelt haben, bedeuten diese Umstände ein Schlaraffenland, in dem sie unbeschadet von allen Katastrophen existieren können, die Lebewesen in anderen Teilen der Ozeane bedrohen. Wie Paläontologen anhand von Fossiluntersuchungen zeigen konnten, sind sie daher auch älter als ihre Verwandten im Flachwasser. Der Bericht ist in der aktuellen Ausgabe von Science (Vol. 313 vom 8. September 2006) erschienen.

Methanquellen am Ozeanboden sind Orte, an denen schwefelwasserstoff- und methanreiches Wasser durch die Oberfläche des Meeresbodens dringt. Das schafft eine einzigartige chemische Umgebung, in der gegenwärtig etwa 60 Molluskengattungen in Symbiose mit speziell angepassten Bakterien leben. Diese wandeln Methan und Schwefelwasserstoff in organische Verbindungen um, die für die Mollusken genießbar sind. „Wer es einmal geschafft hat, sich an dieses Milieu anzupassen, der lebt dort wie im Schlaraffenland“, erklärt Steffen Kiel von der School of Earth and Environment der Universität Leeds im Gespräch mit Telepolis. „Die geologische Langlebigkeit und die enorme Größe vieler dieser Tiere zeigen das.“

Erste Methanspezialisten vor 55 bis 34 Millionen Jahren

Über den Ursprung und das geologische Alter dieser Spezialisten diskutieren Meeresbiologen und Genetiker schon eine Weile, ausgehend von Fossilfunden und genetischen Untersuchungen. Kiel und sein Kollege Crispin T. S. Little haben daher die fossilen Überreste dieser Schalentiere analysiert und ihr geologisches Alter mit dem aller anderen meeresbewohnenden Schalentiere verglichen.

Durch plattentektonische Prozesse werden Tiefwassersedimente an die Erdoberfläche emporgehoben und für Paläontologen zugänglich. Anhand der Fossilien in diesen Sedimenten können wir nachvollziehen, wann und wie sich das Leben in der Tiefsee entwickelt hat.

Steffen Kiel

Als Ergebnis ihrer Untersuchungen konnten die Paläontologen zeigen, dass das erste Auftreten der heute noch lebenden Methanquellenbewohner im statistischen Mittel im Eozän liegt, also im Zeitraum vor 55 bis 34 Millionen Jahren. Schalentiere, die heute im Flachwasser leben, sind im Schnitt eine ganze Epoche jünger, hier liegt das statistische Mittel im Oligozän, also vor 34 bis 23 Millionen Jahren.

Fossiles Methanquellenkarbonat, aus dem oberen Jura Südfrankreichs (Provence). (Bild: Silke Nissen)

Darüber hinaus fanden Kiel und Little nur wenig Anzeichen dafür, dass den Methan-Gemeinschaften im Verlauf ihrer Evolution Katastrophen wie Meeresspiegelschwankungen oder abrupte Sauerstoffveränderungen zusetzt hätten – Katastrophen, die anderen Flach- und Tiefseetieren den Garaus bereiteten. Auch Futtermangel kennen sie kaum: Denn während die meisten Tiefseebewohner von winzigen Nahrungspartikeln leben, die von der Meeresoberfläche herabrieseln, speisen sich die Methanspezialisten aus einer schier unerschöpflichen Quelle.

Trotzdem bleibt weiterhin ungeklärt, wem die Methanquellenbewohner mehr verdanken, ihrem Status als Tiefseebewohner oder als Spezialisten.

Kein untermeerisches Inselhüpfen

Die von Kiel und Little ermittelte frühe Abstammung der Methanquellenbewohner stellt darüber hinaus die Theorie in Frage, dass Wale eine Rolle bei der Evolution der Methanquellenbewohner gespielt haben. Beim Verwesen dieser riesigen Meeressäuger auf dem Tiefseeboden entstehen große Mengen Schwefelwasserstoff, die ganz ähnliche Tiere anziehen wie jene der Methanquellen. Es wurde daher angenommen, dass solche Wal-Kadaver von Methanquellenspezialisten zu einer Art „untermeerischem Inselhüpfen“ benutzt werden, um die großen Distanzen zwischen den einzelnen Quellen zu überwinden. Auf diese Weise sollen die Wale den Methanquellenbewohnern neue Lebensräume eröffnet und zur Entstehung neuer Arten beigetragen haben.

Wale sind im Eozän im Flachwasser entstanden, aber erst im Oligozän auf den offenen Ozean hinausgeschwommen, also lange nachdem das Gros der heutigen Methanquellenbewohner in Erscheinung trat. Daher ist es unwahrscheinlich, dass die ersten Wale einen Einfluss auf die Evolution der Methanquellenbewohner hatten, denn nur vom offenen Ozean aus können die Wal-Kadaver auf den Tiefseeboden sinken.

Steffen Kiel