Leben wir in einer neuen Spätzeit?
Dekadenz oder Transformation: Flüchtlinge, Autokraten und innere Schwäche - der Untergang Roms und unsere Gegenwart
"Spätrömische Dekadenz" - es war eines jener wenigen Schlagworte, mit denen ein Politiker sich im kollektiven Gedächtnis verewigt. So wie "Mehr Demokratie wagen" (Willy Brandt) und "Wir schaffen das" (Angela Merkel). In diesem Fall war es Guido Westerwelle (1961-2016). Seinerzeit gerade zum Bundesaußenminister gewählt, sprach der FDP-Politiker vor knapp zehn Jahren über Hartz-IV-Empfänger und deren angeblichen Liegekomfort in der "sozialen Hängematte".
Die Bemerkung lenkte in ihrer schrillen Übertreibung sofort von dem ab, worüber es sich vielleicht zu diskutieren lohnte, und leitete nicht den Untergang der Bundesrepublik, sondern den Westerwelles und seiner Partei ein, die 2013 aus dem Bundestag flog. In Westerwelles Kosmos hatte der Vergleich Methode. Denn bereits 2005 hatte er in der "Welt" die krude These gewagt: "Eine der Ursachen für den Untergang des Römischen Reiches war die Tatsache, dass Rom seinen Bürgern das anstrengungslose Einkommen versprochen hat."
Durch Tatsachen nicht gedeckt
Postfaktische Historie, die durch Tatsachen nicht mal oberflächlich gedeckt ist. Mit ihr rief Westerwelle allerdings das klassische Motiv auf, das bereits von Autoren des frühen Römischen Kaiserreichs entwickelt wurde: Dass Rom nämlich durch zu viel Wohlleben alle Römertugend verloren habe.
Bereits der Historiker Sallust geißelte um 40 v. Chr. die "Verdorbenheit" seiner Zeitgenossen, die der Luxus verweichlicht habe. Der Satiriker Juvenal schrieb ein Jahrhundert später: "Jetzt leiden wir an den üblen Folgen eines lange dauernden Friedens: Schwelgerei hat uns erfasst."
Ein paar Jahre nach Westerwelle war es dann der ehemalige CDU-Politiker Alexander Gauland, inzwischen Vizevorsitzender der AfD, der im November 2015 vor einer neuen Völkerwanderung warnte und die Flüchtlingsbewegungen mit dem Untergang des Römischen Reiches gleichsetzte, "als die Barbaren den Limes überrannten".
"Ausharren ohne Hoffnung, ohne Rettung, ist Pflicht"
Derartige Vergleiche zwischen Gegenwart und Spätantike mögen im Einzellfall krude wirken, sie haben aber immerhin lange Tradition. Der französische Staatsdenker Montesquieu (1689-1755) führte das Motiv des "Niedergang Roms" 1749 in die geschichtsphilosophische Debatte der Aufklärung ein.
Das inspirierte den englischen Historiker Edward Gibbon zu seiner klassisch gewordenen sechsbändigen "History of the Decline and Fall of the Roman Empire", die er 1776 bis 1789 veröffentlichte und auf über 3.000 Druckseiten die Geschichte des Römischen und dann Ost-Römischen ("Byzantinischen") Reichs bis zur Einnahme Konstantinopels 1453 schildert. In beiden Fällen besaß das skizzierte Imperium irgendwann auffällige Ähnlichkeiten mit dem Ancien Regime der Monarchien des 18. Jahrhunderts.
Im Fahrwasser solcher Parallelisierungen und diese zugleich zu historischen Grundgesetzen verallgemeinernd, entwickelte der deutsche Gelehrte Oswald Spengler 1918 seine Thesen zum "Untergang des Abendlandes", die pünktlich zum Ende des Ersten Weltkriegs erschienen und zum Bestseller wurden - auch weil sie die deutsche Niederlage und Revolution durch den diskreten Charme historischer Notwendigkeit abmilderten.
Dies erst recht, weil Spengler gleichzeitig "prophezeihte", dass aus der Niederlage ein Deutschland hervorgehen würde, das "für ein paar Jahrhunderte" den unausweichlichen Niedergang aufhalten könne - mit den "preußisch-römischen" Tugenden des letzten römischen Soldaten am Vesuv, der beim Untergang Pompeijs auch im Angesicht heranrollender Lavamassen treu auf seinem Posten ausgeharrt habe. Spengler formulierte es prägnant 1931 in "Der Mensch und die Technik" so:
Wir sind in diese Zeit geboren und müssen tapfer den Weg zu Ende gehen, der uns bestimmt ist. Es gibt keinen andern. Auf dem verlorenen Posten ausharren ohne Hoffnung, ohne Rettung, ist Pflicht. Ausharren wie jener römische Soldat, dessen Gebeine man vor einem Tor in Pompeji gefunden hat, der starb, weil man beim Ausbruch des Vesuv vergessen hatte, ihn abzulösen. Das ist Größe, das heißt Rasse haben. Dieses ehrliche Ende ist das einzige, das man dem Menschen nicht nehmen kann.
Oswald Spengler
Im Zentrum von Spenglers vielen Vergleichen steht die von ihm postulierte Parallele zwischen europäischer Gegenwart und "dem" Untergang des Römischen Reiches. Dieser begann nach Spenglers Ansicht übrigens lange vor Beginn irgendeiner Völkerwanderung - mit der Schlacht bei Actium im Jahr 31 vor Christus, in der Octavian das Ägypten unter Marc Anton und Cleopatra besiegte und damit das Ende der Römischen Republik besiegelte.
Unsere Gegenwart entspricht aus dieser Sicht, nimmt man sie einmal ganz genau, der römischen Kaiserzeit, etwa der Herrschaftsjahre von Vespasian, Titus, Domitian. Noch ein paar Jahrhunderte Zeit gibt es also bis zum Barbarensturm.
Neue Autokraten wie Orban, Erdogan, Trump als Nachfahren von Tiberius, Caligula und Nero?
Aber wie seriös ist überhaupt die Gleichsetzung von Antike und Moderne? Leben wir überhaupt in einer neuen Spätzeit? Und wenn ja: in einer neuen Spätantike? Falls ja: Was heißt das genau? Was kennzeichnet die Spätantike? Und was ist von der populären Vorstellung vom Untergang des Römischen Reichs zu halten?
Ernsthafte Historiker sehen diese Vergleiche und Nachfragen naturgemäß weitaus differenzierter. Blicken wir also ganz post-postfaktisch ein bisschen genauer hin.
Die erste Grundfrage lautet: Wenn das Römische Reich "zugrunde" ging, woran lag es dann? An außenpolitischem "imperial overstretch" und der Neigung mächtiger Staaten, ihre Kräfte zu überfordern, wie es 1987 der Historiker Paul Kennedy in seiner großangelegten Untersuchung zum "Aufstieg und Fall großer Mächte" beschrieb?
Man könnte darauf kommen, die USA als das "neue Rom" zu beschreiben, das sich heute in Kriege, Krisen und Konflikte verzettelt - von Afghanistan zum immerwährenden Nahostkonflikt, über die Ukraine, Mexiko, Venezuela bis nach Nordkorea - und schon lange den politischen Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht und überdies längst in einer unentrinnbaren Schuldenfalle steckt. Überdies drohen die USA bald in ihre eigenen, schon für Athen, Rom und Byzanz ruinösen Perserkriege zu stolpern.
Oder begann alles schon mit dem Ende der römischen RepubIik und den Bürgerkriegen, auf die das Kaisertum folgte? Sind neue Autokraten wie Orban, Erdogan, Trump, dann als Erben einer an innerer Lähmung zerborstenen Republik Nachfahren von Tiberius, Caligula und Nero? Dann zielte der Römervergleich auf den gesamten Westen. Aber widerlegen nicht "gute Kaiser" wie Hadrian und Marc Aurel sowieso die Idee des kaiserlichen Roms als des schlechteren?
Vielleicht muss man für den Anfang vom Ende nicht politische Wasserscheiden, sondern Mentalitätswandel verantwortlich machen, wie das ständige Streben nach Wirtschaftswachstum und neuen Steuerquellen, das manchen Zeitgenossen bekannt vorkommen dürfte.
Oder lag es doch eher umgekehrt am geistigen Beharren auf dem Erreichten, am schwindenden Mut, die politische und wirtschaftliche Macht zu gefährden? An der Konzentration auf der Verteidigung der Grenzen des Reiches gegenüber allen Menschen und Einflüssen jenseits des Limes. Also an der Unfähigkeit zu Fortschritt, Wandel und sozialer Mobilität?
Der Untergang hat nie stattgefunden
Nicht nur diese These wird durch neuere Autoren und ihre Forschungen widerlegt. Das Rom der 200 Jahre bevor der Gote Alarich in die Stadt einfiel und noch einmal über 60 Jahre vor dem Ende des weströmischen Kaisertums, so belegen etwa die Arbeiten des Briten Peter Heather, der sich in zahlreichen Büchern mit dem ersten Jahrtausend nach Christus befasst hat, litt mehr daran, dass die Verteidigung der Grenzen vernachlässigt wurde, weil die Armeen bei den bürgerkriegsähnlichen Zuständen im Innerem gebraucht wurden. Doch gerade in den letzten Jahrzehnten vor den erfolgreichen Invasionen durch Goten und Barbaren, steigerten die Kaiser die Stärke und Effizienz der Grenzsicherung.
Die Ursachen für die barbarische Eroberung ("das Ende") der weströmischen Reichshälfte lag tiefer.
Vor allem aber war die Zeit zwischen 200 und 800 n.Chr. keineswegs eine Zeit des eindimensionalen Niedergangs, sondern vielmehr der globalen Verflechtung und als dessen Folge des rasanten sozio-kulturellen Wandels - einer Transformation, die man nicht schönfärben muss, um zu erkennen, dass sie Zeitgenossen ganz anders erschien als einer Moderne, die sich seit dem 15.Jahrhundert als Wiedergeburt ("Renaissance") der Antike und ihrer imperialen wie geistigen Größe versteht.
Der Untergang hatte nie stattgefunden. Jedenfalls nicht so, wie man sich das heute gern vorstellt. Das Römische Reich war zwar zusammengebrochen, doch an dessen Stelle waren mit Ostrom, später Byzanz und dem weströmischen Reich mächtige Nachfolge-Imperien getreten. Zugleich traten neue politische Akteure auf den Plan, die nur aus europäisch-bornierter Perspektive als Untergangsphänomen gedeutet werden können, wie das ab 630 blitzartig neu entstehende Weltreich der Araber.
Im Gegenteil erscheinen manchen Autoren die Jahrhunderte zwischen 200 und 800 als Epoche einer ersten Globalisierung: Fernhandelsrouten liefen durch Innerasien und auf dem Indischen Ozean bis nach Fernost, selbst Luxusgüter wie Seide und Gewürze konnten sicher transportiert werden. Auch Sportarten waren global: Ausgerechnet Polo, heute Inbegriff eines elitären britischen Adels-Spleens, verband Byzanz mit China.