Leben wir in einer neuen Spätzeit?
Seite 3: "Ist Erwerb moralisch besser als der Genuss? Wie wollen Sie das begründen?"
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Die Dekadenz-Theorie sei eher ein allzumenschlicher, psychologischer Fluchtmechanismus, so Heather: "Die Menschen wollen nicht akzeptieren, dass irgendwann auch ihre Stunde geschlagen hat. Deshalb flüchten sie sich in die Vorstellung von 'Dekadenz', womit es irgendwie in ihrer Hand liegt: Sie hoffen so, die Geschichte überlisten zu können."
In einem letzten Versuch flüchtet sich der Interviewer dann in die Westerwelle-These und macht das, was die Neuen Rechten bei anderen immer ganz schrecklich finden - er moralisiert: "Reichtum erwerben ist etwas anderes, als ihn zu genießen - der Unterschied ist: Dekadenz."
Aber damit kann er gerade bei einem Briten nicht landen. Heather hält sehr typisch britisch mit einer Mischung aus Utilitarismus und Hedonismus dagegen: "Das unterstellt, dass der Erwerb moralisch besser sei als der Genuss. Wie wollen Sie das begründen? ... ich kann nicht erkennen, warum die Epochen, in denen wir die Grundlagen unseres Reichtums gelegt haben, moralischer sein sollen? Damals haben wir mit Sklaven gehandelt, durch Ausbeutung unsere Industrie aufgebaut, haben mit Waffengewalt Kolonien, Rohstoffe und Märkte gewonnen. Ist das moralischer als sich einen überbordenden Wohlfahrtsstaat zu leisten? Ich finde nicht."
Christliche Fanatiker zerstörten Palmyra zuerst
Eines ist klar: Wo derartige Vergleiche und schlichte Parallelen bemüht werden, geht es jedenfalls immer um Gegenwartsdiagnose und pessimistisch grundierte Kulturkritik. Wenn "wir" das späte Rom sein sollen, ist immer eine überdehnte, dekadente Zivilisation gemeint, die keinen rechten Halt mehr findet, schon gar nicht in sich selbst.
Aber selten sind die frühen Christen gemeint, die bereits nach Gibbon das Römerreich zugrunde richteten. Jetzt hat die Historikerin Catherine Nixey diese These aufgewärmt. In ihrem Buch "Heiliger Zorn" betont die Britin die Ähnlichkeiten zwischen alten Christen und heutigen ISIS-Schergen. Es waren christliche Fanatiker, die Palmyra erstmals zerstörten.
Und nie gemeint sind jene, die den Übergang zu einem multikulturellen, religiös toleranten Rechtsstaat erfolgreich organisierten. Ob Julian Apostata, der versuchte, den konstantinischen Fehler zu revidieren, und zur Vielgötterei zurückzukehren oder Kaiser Justinian, der das Römische "neu aufstellte", die Transformation in das byzantinische Kaisertum einleitete und jenes "Römische Recht" in Schriftform goss, das das römische Recht bis heute in Europa weiterleben lässt - das alles um 530, also 120 Jahre nach dem "Untergang Roms".
Aufstieg, Verfall, Renovatio oder Neuanfang? Die zwei Zeitalter des Justinian
Das Zeitalter Justinians (527-565) erscheint aus heutiger Sicht besonders faszinierend und widersprüchlich: Einerseits gelang unter dem Banner der "Renovatio Imperii" (Wiederherstellung des Imperiums) binnen weniger Jahre eine Rückeroberung der vormals weströmischen Gebiete: Tatsächlich wurde das Vandalenreich in Nordafrika nach kurzem Krieg durch General Belisar unterworfen und auch im Krieg mit dem Ostgotenreich schien Belisar den raschen Sieg in Afrika wiederholen zu können.
Bis 540 wurde fast ganz Italien samt Rom und Ravenna erobert. Die Wiederherstellung der unmittelbaren Herrschaft des römischen Kaisers über die gesamte Mittelmeerwelt schien in Greifweite. Diese Erfolge stützen die These, dass es weniger Stärke des Gegners, als innere Schwäche war, an der Westrom untergegangen war.
Der Optimismus wich dann aber binnen weniger Jahre einer Weltuntergangsstimmung. Dieses "andere Zeitalter Justinians" (Mischa Meier) wurde in fast apokalyptischer Manier im Jahr 536 durch eine mehrere Monate andauernde Verdunkelung der Sonne eingeleitet - wohl eine durch einen großen Vulkanausbruch verursachte Trübung der Atmosphäre, die von Irland bis nach China beobachtet wurde.
Die damit einhergehende Abkühlung, die unter anderem in Wetterextremen und Missernten resultierte, erwies sich, wie auch die moderne Klimaforschung feststellt, als dauerhaft. Sie leitete die "spätantike kleine Eiszeit" ein, die schlagartig deutlich kühleren Klimabedingungen zwischen 536 und 660, die auch die über mehrere hundert Jahre anhaltenden ersten globale Pestepidemien nach 542 begünstigten.
Ab 540 erschütterte dann eine überaus überraschende Invasion der sassanidischen Perser die Ostprovinzen und gipfelte in der Eroberung Antiochias, der drittgrößten Stadt des Oströmischen Reiches. Das imperiale Versprechen der "Pax Romana" wurde somit auch im Osten brüchig.
Spätkapitalistische Dekadenz: Die plumpe These funktioniert
Trotz solcher Fakten funktioniert das postfaktische Narrativ des "Verfall von Kultur und Sitten" und "innerer Schwäche" aber ungebrochen - zuletzt im Brexit-Wahlkampf wo die Parteigänger des Austritts vor allem gegen die "römische" Dekadenz der Kontinentaleuropäer wetterten.
Als ob die Römer ihr Weltreich nur stärker hätten abschotten müssen, um es vor dem Untergang zu retten. Ein Beispiel spätkapitalistischer Dekadenz kann man darin schon sehen.
Wenn nun mit Boris Johnson einer der obersten Brexiteers zum britischen Premier ernannt wurde, bietet ihm die universale Erzählung des Römischen Reichs eine reiche Auswahl aus Mythen und Narrativen: Ein Nero, der sogar Rom selbst anzündet, um in dessen Feuerschein zu strahlen, ein Domitian, der es mit harter Hand konsolidiert, ein Diokletian, der alle überrascht, weil er sich als verbindlicher, seiner Grenzen bewusster Herrscher entpuppt?
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Vielleicht aber ähnelt Johnson dann in ein paar Jahren im Rückblick eher einem jener heute nahezu namenlosen "Soldatenkaiser", die zwar unter Jubel auf den Schild gehoben, nach kürzester Zeit aber von den eigenen Gefolgsleuten fallen gelassen und ermordet wurden.
Literatur::
Alexander Demandt: "Untergänge des Abendlandes. Studien zu Oswald Spengler.", Köln 2017
Michael Grant: "Der Untergang des Römischen Reiches"; Vorwort von Golo Mann; Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1978 (antiquarisch)
Peter Heather: "Der Untergang des Römischen Weltreichs."; Stuttgart 2007
Peter Heather: "Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus."; Stuttgart 2011
Peter Heather: "Die letzte Blüte Roms. Das Zeitalter Justinians.", Darmstadt 2019
Paul Kennedy: "Aufstieg und Fall der großen Mächte" Frankfurt 1987
Mischa Meier: "Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6.Jhd. nach Chr."; Göttingen 2003
Catherine Nixey: "Heiliger Zorn: Wie die frühen Christen die Antike zerstörten"; München 2019
Johannes Preiser-Kapeller: "Jenseits von Rom und Karl dem Großen. Aspekte der globalen Verflechtung in der langen Spätantike, 300-800 n. Chr." Wien, 2018