Leitkultur: Fußgänger vor der roten Ampel
Wissenschaftler haben untersucht, wie Menschen in Japan und Frankreich die Straße überqueren, und kamen zu überraschenden Unterschieden
Seit dem Ende des alten Kalten Krieges geistert der Kampf der Kulturen durch den öffentlichen Diskurs. Verstärkt wurde er durch die Flüchtlinge aus islamischen Länder, kulminierend 2015, aber schon länger grundiert durch nationalistische und fremdenfeindliche Strömungen und Parteien, die ein Volk mit seiner Kultur gegenüber zu vielen Neuankommenden mit einer fremden Kultur, deren Kampf schon einmal die Geschichte prägte, zu verteidigen und zu bewahren suchen. Dabei werden Verbote, Mauern, Massenabschiebungen und Rückzug von der Globalisierung zu Forderungen, die die Veränderung aufhalten sollen. Der Wahlsieg von Donald Trump mit "America First" hat diese Bewegung erstmals, sieht man von Entwicklungen etwa in der Türkei, Polen oder Ungarn ab, nach oben gespielt und an die Schalthebel der Macht gebracht.
Im Hintergrund wird dann überlegt, was deutsch sein heißen soll oder was eigentlich die berühmt-berüchtigte "Leitkultur" ist, die einem Volk, einer kulturellen Gemeinschaft, irgendwie also einer von anderen abzugrenzenden Population, in der der Regel projiziert auf ein begrenztes Territorium, zu eigen sein soll. Gerne wird dabei auf die Sprache verwiesen, aber auch auf die Geschichte, in Deutschland wahlweise des Abendlands, des Christentums, manchmal mit dem Judentum, aber ohne den Islam, die Aufklärung usw.
Hinter diesen großen Schablonen, hinter denen sich oft wenig und meist Fragwürdiges verbirgt, gibt es aber die kleinen kulturellen Unterschiede im Alltagsleben, die das Anderssein markieren, die Formen der Selbstdarstellung, die Umgangsformen zwischen und unter den Geschlechtern, die Kommunikationsrituale oder was und wie man isst. Alles gewachsene und tradierte Verhaltensformen, die sich in einer anderen Kultur relativ schnell verändern.
Vielleicht würden sich die Angst und Ablehnung vor dem Anderen auch mindern, wenn man genauer auf die alltäglichen Kleinigkeiten schaut. Wissenschaftler haben das gerade einmal in Japan und Frankreich gemacht und beobachtet, wie sich die Menschen als Fußgänger verhalten, wenn sie mit Ampeln ausgestattete Straßen überqueren - im Übrigen auch ein gutes Modell für menschliches Straßenverkehrsverhalten, das autonome Fahrzeuge berücksichtigen müssten. Beim Überqueren der Straße ereignen sich die meisten Fußgängerunfälle, insofern ist es ein relativ riskantes Verhalten. Und noch gefährlicher ist es, wenn bei einer roten Ampel die Straße überquert wird. Je schneller sich ein Fußgänger entscheidet, bei Rot über die Straße zu gehen, desto weniger beobachtet er seine Umwelt und desto größer wird das Unfallrisiko. Gerade wenn er sich vom Verhalten anderer anstecken lässt und mit der Masse geht, ist das Risiko hoch, weil er in geringerem Maße selbst die Lage erkundet. Die Entscheidung, das rote Signal nicht zu beachten, spielt sich jedenfalls in einer Informationskaskade ab, sagen die Wissenschaftler, da blitzschnell soziale und nichtsoziale Informationen verarbeitet werden. Dem Befehl zu gehorchen, ist dagegen höchst komplexitätsreduzierend.
Die Wissenschaftler von der Universität Straßburg beobachteten für ihre bei Royal Society Open Science veröffentlichten Studie an Werktagen drei Fußgängerüberwege in Straßburg und vier in Nagoya und registrierten, unterstützt durch Videoaufnahmen, wie sich 3.814 Menschen in Ostfrankreich und 1,631 in Japan verhielten, Gruppen und Touristen wurden ausgeschlossen. Bekannt sei, so sagen die Wissenschaftler, dass die Menschen in westlichen Kulturen im Vergleich zu asiatischen Kulturen zu riskanteren Verhaltensweisen neigen, hierarchische Verhältnisse in geringerem Maße anerkennen oder Regeln häufiger verletzten und einen ausgeprägteren Individualismus pflegen. Individualistische Kulturen scheinen Menschen autonomer, kollektive Kulturen hingegen vorsichtiger zu machen. Verhaltensweisen können von der Kultur vorgeprägt sein, sie können aber auch spontan aus selbstorganisierten und lokalen Interaktionen entstehen.
Die Übergänge und die Zahl der Fußgänger waren ähnlich, die Wissenschaftler berücksichtigten zahlreiche Faktoren wie die Lichtstärke, die Zahl der Fahrstreifen, das Alter und das Geschlecht der Fußgänger, die Zahl der Fußgänger (allein oder in Begleitung) vor einem Übergang und das Verhalten aller Anwesenden, die Wartezeit, die Nähe zur Straße etc.. Analysiert wurde jeweils das Verhalten der ersten 10 Fußgänger.
Der Unterschied ist eklatant. In Straßburg beachteten die Menschen die roten Ampeln in 41,9 Prozent der Fälle nicht, in Nagoya wurde nur in 2,1 Prozent das durch die Ampel ausgesprochene Überquerungsverbot nicht beachtet. Werden nur die Fußgänger berücksichtigt, die an einem Übergang mit roter Ampel ankommen, so steigt die Zahl der regelwidrigen Überquerungen in Frankreich sogar auf 76,3 Prozent, in Japan nur auf 5,7 Prozent. Regelwidriger verhielten sich mehr Männer und junge Menschen zwischen 20 und 30 Jahren, Frauen und ältere Menschen sind hingegen folgsamer. Eine größere Zahl von Fahrstreifen reduziert das regelwidrige Verhalten. Auffällig ist auch, dass die Franzosen schneller bei Grün losgehen und dass ihr Gehverhalten weniger mit der Beachtung der anderen anwesenden Menschen zu tun hat.
Soziale Konformität und regelwidrige Individualität
Je mehr Menschen vor einer roten Ampel warten, desto weniger werden die regelwidrigen Übergänge und desto mehr Zeit vergeht, bis die Menschen bei Umschalten auf Grün losgehen. Man passt sich der Masse an, was auch auf die Beobachtung zutrifft, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Übergang bei Rot desto höher wird, je mehr andere Passanten schon über die Straße gegangen sind und je länger sie bereits gewartet haben.
Dass bei Anwesenheit von anderen Menschen die Neigung zu regelwidrigem Verhalten sinkt, weist auf den Druck zur sozialen Konformität hin, der allein durch die Anwesenheit anderer Menschen ausgeübt wird. In Frankreich überqueren in 67 Prozent der Fälle die Menschen die Straße bei einer roten Ampel, wenn sie alleine sind, wenn andere Menschen anwesend sind, nur 41,9 Prozent (-37%), in Japan sind es 6,9 gegenüber 2,1 Prozent (-69,6%). In Frankreich wirkt damit relativ die soziale Konformität geringer als in Japan. Dabei dürfte es nicht um eine mögliche Bestrafung gehen, sondern einfach darum, gegenüber den anderen nicht aufzufallen.
Interessant im Hinblick auf kulturelle Unterschiede ist, dass in Frankreich der erste Fußgänger sich schneller entscheidet, bei Rot über die Straße zu gehen, als in Japan, was die Wissenschaftler als höhere Risikobereitschaft deuten. Hat einmal ein Fußgänger das Verbot gebrochen, so folgen ihm andere in Japan schneller nach als in Frankreich, was bedeuten würde, dass das mimetische Verhalten bzw. der Druck zur sozialen Konformität in Japan größer ist, weswegen die "Ansteckung" stärker ist. Die Franzosen haben weniger Respekt vor Regeln, so die Wissenschaftler, und sie kümmern sich nicht so stark um soziale Zustimmung, während die Japaner mehr auf die Meinung der anderen achten würden. Sollte nun das Verhalten der Deutschen ähnlich wie das der Franzosen sein, sollte dann regelwidriges und weniger sozialkonformes Verhalten auch Bestandteil einer Leitkultur sein?