Leuchttürme unter sich

Arbeitgeber und Bildungsfunktionäre fordern erneut deutsche Eliteuniversitäten. Derweil geht die Zahl der Studienanfänger zurück und viele Lehrlinge verdienen sich das Prädikat nicht ausbildungsreif

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Am Dienstag dieser Woche war es wieder einmal soweit. In Berlin trafen sich die Vize-Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz, Margret Wintermantel, Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt und der Vorstandsvorsitzende der ALTANA AG, Nikolaus Schweickart, um auf der Tagung „Elitebildung an staatlichen Hochschulen“ das gemeinsame Lieblingsthema ihrer Interessenvertretungen zu behandeln. Die neue Bundesregierung wurde für ihre Absichtserklärung gelobt, in Zukunft 3 Prozent des Sozialprodukts für Forschung und Entwicklung aufzuwenden. Die Exzellenzinitiative für Spitzenforschung, die Bund und Länder von 2006 bis 2011 mit 1,9 Milliarden ausstatten wollen, fand ebenfalls Beifall, und dass die Regierungsmannschaft von Angela Merkel sich endlich dem Phänomen des „brain drain“ stellen will, während „die offenkundigen Fakten von der letzten Bundesregierung noch bestritten wurden“ (O-Ton Schweickart), war überdies Anlass zur Freude.

Doch wenn es um die Zukunft der gesellschaftlichen Eliten geht, darf es ruhig etwas nachhaltiger sein. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, und deshalb wies Hundt schon einmal darauf hin, dass die deutsche Wirtschaft durch den perspektivischen Mangel an qualifizierten Nachwuchskräften „immer stärker“ bedroht wird. Um den Wirtschaftsstandort Deutschland auf Dauer zu sichern, brauchen wir mehr Wachstum, mehr Beschäftigung, mehr Wettbewerb und vor allem Innovationen, die sich „zügig in Wertschöpfungsketten“ umsetzen lassen.

Wie das funktionieren soll, erläuterte Nikolaus Schweickart, der sich durch die Regierungserklärung der Kanzlerin und ihr (leider nicht selbst erfundenes) Motto „Mehr Freiheit wagen“ inspirieren ließ:

Um international eine Spitzenposition in Wissenschaft und Forschung zu erlangen, brauchen die deutschen Universitäten (...) vor allem mehr Freiheit. Die Freiheit über ihre Mittel eigenverantwortlich zu verfügen, die Freiheit sich im Wettbewerb mit anderen zu positionieren, die Freiheit sich die Studenten und Professoren aussuchen zu können und die Freiheit für Auftragsforschung und Industriekooperationen. Dazu gehört auch die größere Mobilisierung von privatem Kapital durch Studiengebühren und verstärkte eigene wirtschaftliche Betätigung der Hochschulen.

Nikolaus Schweickart

So könne man „ein deutsches Berkeley“ schaffen und eine „engere Verzahnung“ von Wissenschaft und Wirtschaft erreichen. Dabei gehe es natürlich nur um die Herausbildung von Exzellenzclustern und eine Optimierung des Wissenstransfers, nicht aber um eine „Ökonomisierung von Bildung und Wissenschaft“.

Margret Wintermantel präzisierte weiter, aber auch sie vermied konkrete Forderungen in Form von Zahlen, Orten oder Zeitrahmen. Man brauche zunächst einmal „klare und abgestimmte Zuständigkeiten im föderalen System“, dann aber auch einen Gesetzgeber, der es bei der Festlegung von Rahmenbedingungen belasse; gleichzeitig ein „klares Bekenntnis der Länder zur ausreichenden Finanzierung der Hochschulen“ und auch noch eine politische Kultur, die Hochschulen als „kompetente Akteure“ im Bereich Wissenschaft und Forschung ansehe. Schließlich sei Spitzenförderung ein „gesamtgesellschaftliches Anliegen“.

Diese Einschätzung muss man nicht teilen, denn die Gesellschaft hat als Ganzes noch andere und umfassendere Verpflichtungen. Das Statistische Bundesamt geht in der Studie Hochschulstandort Deutschland 2005 davon aus, dass die Zahl der Studienanfänger 2005 mit rund 351.900 Neuimmatrikulationen gegenüber dem Vorjahr erneut um 2% zurückgegangen ist. Im aktuellen Wintersemester 2005/2006 sind damit 1,982 Millionen Studierende an deutschen Hochschulen eingeschrieben. Das sind zwar 18.600 mehr als vor einem Jahr, aber deutlich weniger als im Wintersemester 2003/04, als die Zahl mit 2,019 Millionen den bisherigen Höchststand erreicht hatte.

Von dem Rückgang sind in erster Linie Langzeit- und Zweitstudierende betroffen, die sich nach der Einführung von teilweise speziell auf sie zugeschnittenen Studiengebühren exmatrikulieren mussten. So sank die Zahl der Langzeitstudierenden ab dem 15. Fachsemester im Wintersemester 2004/2005 um insgesamt 28%, davon am deutlichsten in Nordrhein-Westfalen (– 43%), Hessen (– 42%) und Rheinland-Pfalz (– 38%).

Diese Entwicklung ist – so umstritten sie im Einzelfall sein mag – politisch gewollt. Für die Anfängerquote, die Auskunft darüber gibt, wie hoch der Anteil der Studienanfänger an der altersspezifischen Bevölkerung ist, gilt das allerdings nicht. Nach Einschätzung des Präsidenten des Statistischen Bundesamtes, Johann Hahlen, handelt es sich vielmehr um den „wichtigsten Indikator für den Zugang zum Hochschulbereich“, und Deutschland liegt im Vergleich zu anderen OECD-Staaten hier weiter „im hinteren Bereich der Rangliste“. Zwar konnte die Anfängerquote im Zeitraum von 2001 bis 2004 von 32 auf 37,5% gesteigert werden, für 2005 wird sie aber schon wieder bei unter 37% veranschlagt, und die von der neuen Bundesregierung angepeilte Zielmarke von 40% ist vorläufig nicht mal in Sichtweite. Zum Vergleich: In allen OECD-Ländern lag die Studienanfängerquote 2003 bei 53%, ganz besonders hoch war sie in Island (83%), Neuseeland (81%) und Schweden (80%).

Die deutschen Hochschulen plagen eine Vielzahl weiterer Probleme, die zunächst einmal nichts mit Eliteförderung zu tun haben, die effektive Arbeit einer Bildungseinrichtung aber erheblich beeinträchtigen. Drei Beispiele:

  1. Zwar hat die Zahl der Beschäftigten in den letzten zehn Jahren um etwa 5% zugenommen. Dieser Anstieg kommt langfristig aber weder dem wissenschaftlichen Nachwuchs noch den Studierenden zugute, für die festangestellte Mitarbeiter in vielen Fällen wichtige Orientierungspunkte sind. Tatsächlich hat sich die Zahl teilzeitbeschäftigter Hochschullehrer um 33% erhöht, während die der Vollzeitbeschäftigten um 1% zurückging. Die Zahl der Lehrbeauftragten ist um 28% gestiegen. Viele von ihnen sind hervorragend ausgebildet, auf Lehrerfahrungen und Weiter“beschäftigung“ angewiesen und verursachen für die Hochschule geringe oder überhaupt keine Kosten. Von einer zukunftsorientierten Personalpolitik kann so nicht die Rede sein.
  2. Der Frauenanteil am wissenschaftlichen Personal ist weiter gering und nimmt mit steigendem Qualifikationsniveau kontinuierlich ab. Auch wenn Frauen fast jede dritte Juniorprofessur besetzen konnten, gingen nur 23% der Habilitationen auf ihr Konto. Der Frauenanteil innerhalb der Professorenschaft lag 2004 bei 14%, war jedoch in der höchsten Besoldungsstufe einmal mehr am niedrigsten. Nicht einmal jede zehnte C4-Stelle war mit einer Frau besetzt.
  3. Zwischen dem Wintersemester 1994/95 und dem aktuellen hat sich die Zahl der Privathochschulen fast verdreifacht. Nach zahlreichen Neugründungen ist sie von bescheidenen 24 auf immerhin 69 gestiegen. Die Anzahl der Studierenden, die 1994 noch bei 14.900 lag, beträgt mittlerweile 45.100. Das sind nur 2%, zeigt aber recht deutlich, dass Alternativen zum staatlichen Hochschulsystem attraktiver werden – wenn man sie sich denn leisten kann.

Bedauerlicherweise stellt sich die Situation im Ausbildungsbereich nicht erfreulicher dar. Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) hat im Rahmen eines Expertenmonitors 482 Fachleute zur Situation der beruflichen Bildung in Deutschland befragt. Die Experten arbeiten in Betrieben, Berufsschulen, überbetrieblichen Bildungsstätten, Kammern, Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften oder Forschungseinrichtungen und haben recht unterschiedliche Vorstellungen zum Thema „Ausbildungsreife“. Immerhin einigten sich mehr als vier Fünftel auf folgende Kardinaltugenden:

Zuverlässigkeit, die Bereitschaft zu lernen, die Bereitschaft, Leistung zu zeigen, Verantwortungsbewusstsein, Konzentrationsfähigkeit, Durchhaltevermögen, Beherrschung der Grundrechenarten, einfaches Kopfrechnen, Sorgfalt, Rücksichtnahme, Höflichkeit, Toleranz, die Fähigkeit zur Selbstkritik, Konfliktfähigkeit, Anpassungsfähigkeit und zu guter Letzt die Bereitschaft, sich in die betriebliche Hierarchie einzuordnen.

Bundesinstitut für Berufsbildung

In Expertenkreisen ist man gnädig gestimmt – oder vorsichtig geworden: Prozent- und Dreisatzrechnung, Rechtschreibung und mündliche Ausdrucksfähigkeit, betriebswirtschaftliche Grundkenntnisse oder solche der englischen Sprache werden von vielen nicht mehr als zwingende Voraussetzung für jeden Ausbildungsberuf betrachtet. Trotz dieses Entgegenkommens, das den Begriff Ausbildungsreife rein technisch-operationell begreift und das wichtige Moment der Persönlichkeitsbildung gänzlich unberücksichtigt lässt, sind die Fachleute mehrheitlich davon überzeugt, dass die Leistungsfähigkeit der Lehrstellenbewerber in den letzten 15 Jahren deutlich gesunken ist. Zwar sei in einzelnen Bereichen – etwa bei IT- oder Englischkenntnissen – ein Aufwärtstrend zu verzeichnen, dafür hätten aber sowohl die schriftliche Ausdrucksfähigkeit, die Beherrschung der deutschen Rechtschreibung und die Fähigkeit zum einfachen Kopfrechnen nachgelassen.

Als Ursachen werden regelmäßig die wachsende Komplexität der Arbeitwelt und die gestiegenen Anforderungen an die einzelnen Bewerber genannt, wobei der Druck auf diese durch den Lehrstellenmangel zusätzlich erhöht wird. Aktuell suchen wieder rund 40.000 junge Menschen einen Ausbildungsplatz in deutschen Betrieben.

Darüber hinaus scheint der familiäre Hintergrund eine immer wichtigere Rolle zu spielen. Mehr als drei Viertel der Befragten glauben, dass Kinder und Jugendliche von ihren Familien nicht mehr gefördert, sondern im Gegenteil negativ beeinflusst werden, weil sie Selbstständigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Arbeitstugenden nicht ausreichend vermitteln. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam jüngst auch das ifo Institut für Wirtschaftsforschung nach einer Auswertung von internationalen Vergleichstests wie PISA, TIMSS und TIMSSRepeat (Gleiche Bildungschancen gesucht). Dagegen meint die Hälfte der Fachleute, die Bereitschaft der Schulen, sich intensiver mit Fragen der Arbeitswelt zu beschäftigen, sei in den letzten Jahren erkennbar größer geworden.

Schulen und Betriebe werden deshalb nicht aus der Pflicht entlassen, eigeninitiativ an der Verbesserung der Situation zu arbeiten. Von ihnen verlangen die Befragten mehr Engagement, gezielte Unterstützung für lernschwache Jugendliche, einen höheren Praxisbezug oder umgekehrt eine konstruktive Zusammenarbeit mit den Bildungsinstituten. Und auch die Jugendlichen selbst müssen mehr Verantwortung übernehmen und sich sehr viel intensiver als in früheren Jahren mit den Bedingungen der modernen Arbeitswelt vertraut machen. Darüber hinaus wird es notwendig sein, die Effektivität von berufsvorbereitenden Maßnahmen und beruflichen Grundbildungsgängen zu hinterfragen, da das Durchschnittsalter der Ausbildungsanfänger inzwischen bei über 19 Jahren liegt.

Unabhängig davon erwarten die vom Bundesinstitut für Berufsbildung zu Rate gezogenen Experten entscheidende Impulse aber vor allem aus dem familiären Umfeld. 90% sind der Meinung, Eltern sollten stärker als bisher:

  1. ihren Kindern grundlegende Werte vermitteln,
  2. Verantwortung für die Vermittlung von Arbeitstugenden (z.B. Pünktlichkeit) übernehmen,
  3. die Auseinandersetzung ihrer Kinder mit der Berufswahl fördern,
  4. generell positive Rollenvorbilder für ihre Kinder sein und
  5. ganz allgemein mehr dafür tun, um die Ausbildungsreife ihrer Kinder zu sichern.
Bundesinstitut für Berufsbildung

Vor diesem Hintergrund ist die Herstellung von Chancengleichheit eine mindestens ebenso große Herausforderung wie der Aufbau von Spitzenuniversitäten. Hans-Dieter Rinkens, der Präsident des Deutschen Studentenwerks, bezeichnete Gerechtigkeit auf allen Stufen des Bildungssystems – „von der Kita bis zur Hochschule“ – vor wenigen Tagen nicht zu Unrecht als „Kernaufgabe einer modernen Bildungspolitik“. Schon jetzt seien Studentinnen und Studenten aus einkommensschwachen und auch aus Mittelstandsfamilien „deutlich unterrepräsentiert“, wodurch sich hierzulande eine „skandalöse soziale Schieflage“ entwickelt habe.

Die neue Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan, sieht das zumindest streckenweise ähnlich. Sie will den Teufelskreis von schwacher sozialer Herkunft und schlechter Bildung durchbrechen und kündigte in ihrer Regierungserklärung am 1. Dezember an, den Ausbau von Ganztagsschulen und den Nationalen Pakt für Ausbildung weiter voran treiben zu wollen. Bis 2009 sollen sechs Milliarden Euro zusätzlich in Forschung und Entwicklung investiert werden, und in der Regierungserklärung bot die gastfreundliche Frau Schavan sogar den wissenschaftlichen Disziplinen, die sich nicht sofort in klingende Münze umsetzen lassen, ein vorläufiges Bleiberecht an:

Herausragende Leistungen der Geistes- und Sozialwissenschaften und die freie Erkenntnissuche der Grundlagenforschung sind elementarer Ausdruck einer Wirtschafts- und Kulturnation.

Annette Schavan

Ob sich diese guten Vorsätze in der Realität bewähren, muss vorerst abgewartet werden. Mit Blick auf die Ausgangsfrage bleibt jedoch festzustellen, dass sich in der deutschen Bildungspolitik schon jetzt die nächste Krise vorbereitet, wenn die Eliteförderung einseitig vorangetrieben wird, ohne die von Rinkens kritisierte Schieflage zu begradigen. Mit Nobelpreisträgern, Top-Managern und Führungskräften wäre sie allein kaum zu lösen, darum empfiehlt es sich, eine möglichst breite gesellschaftliche Basis in die notwendigen Umstrukturierungen einzubeziehen.