Gleiche Bildungschancen gesucht
Der familiäre Hintergrund beeinflusst in Deutschland die Ausbildungsmöglichkeiten und das schulische Leistungsvermögen stärker als in vielen anderen Ländern. Doch Chancengleichheit ist eine wichtige Voraussetzung für notwendige Reformen
Die unrühmliche Rolle, die das deutsche Bildungssystem bei einer Vielzahl internationaler Vergleichstest gespielt hat, hängt mit ganz unterschiedlichen Faktoren zusammen. Der familiäre Hintergrund erweist sich jedoch in allen Fällen als wichtige Konstante. Die Situation im Elternhaus beeinflusst den Bildungsweg und das Leistungsvermögen der Kinder, indem dort frühzeitig spielerische Lernformen erprobt, später Hausaufgaben betreut und schließlich zentrale Themen kontrovers diskutiert werden - oder eben nicht.
Der Bildungsstand und das Einkommen der Eltern, die Anzahl ihrer Bücher, ihr pädagogisches Vermögen und rhetorisches Talent, aber auch die Vorbildfunktion und vielleicht sogar die Gene wirken sich nach Meinung vieler Experten unmittelbar auf den Nachwuchs aus, wobei einzelne Aspekte wie Vererbung und Erziehung noch nicht einmal ausreichend erforscht sind.
Durch große Schülervergleichstests wie PISA, TIMSS, TIMSSRepeat oder IGLU liegen mittlerweile allerdings eine Reihe von Basisdaten vor, die hinsichtlich der Bildungschancen interessante Rückschlüsse erlauben. Ludger Wößmann und Gabriela Schütz vom ifo Institut für Wirtschaftsforschung haben die Erhebungen in einer aktuellen Studie unter diesem Gesichtspunkt noch einmal ausgewertet und in der Reihe Ökonomische Beiträge zur Schuldebatte auch mögliche Konsequenzen für die deutsche Bildungspolitik ermittelt.
Der Einfluss des familiären Hintergrundes auf die Schülerleistungen bei TIMMS wird für Deutschland demnach mit 25,6 beziffert. Über diesem Wert liegen nur Ungarn (25,8), Schottland (27,0) und England (28,8), während beispielsweise für Frankreich oder Kanada deutlich niedrigere Werte von 8,3 und 9,8 ermittelt wurden. Wößmann und Schütz deuten diesen Befund dahingehend, dass zwischen Kinder aus Familien mit einem vollen Bücherregal und solchen aus Familien mit zwei Bücherregalen ein Leistungsunterschied von 25,6 TIMSS-Punkten besteht. In der Leistungsbilanz der Schülerinnen und Schüler hat diese Differenz ungeahnte Auswirkungen:
Für eine Abschätzung der Größe dieses Effekts lässt er sich mit dem durchschnittlichen Leistungsunterschied zwischen der siebten und achten Klasse vergleichen, welcher in Deutschland 25 TIMSS-Punkte beträgt. Dieses „Jahrgangsstufenäquivalent“ gibt an, wie viel die Schüler im Durchschnitt in einem Schuljahr lernen. Der durchschnittliche Unterschied in der Testleistung von zwei Kindern, deren Familien ein Regal bzw. zwei Regale voll Bücher besitzen, ist in Deutschland also etwas mehr als das, was Schüler durchschnittlich in einem ganzen Schuljahr lernen.
Ludger Wößmann/Gabriela Schütz
Auch wenn sich die Untersuchung auf mathematische und naturwissenschaftliche Leistungen beschränkt, ist der Effekt erheblich. Wößmann und Schütz gehen allerdings davon aus, dass er durch den Besuch vorschulischer Bildungseinrichtungen eingedämmt werden könnte, ohne dass dadurch die schulischen Leistungen in negativer Weise beeinträchtigt würden.
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Chancen, wenn die vorschulische Besuchsquote ansteigt, zeitweise noch ungleicher verteilt sind, weil das Angebot zunächst von Kindern aus privilegierten Familien wahrgenommen wird. Erst wenn 60% aller Kinder vorschulische Einrichtungen besuchen, wird die neuerliche Differenz ausgeglichen und eine Reduzierung des familiären Einflusses erreicht. Die Effizienz dieser Maßnahme lässt sich nach Meinung der Autoren durch die Dauer der vorschulischen Maßnahmen noch verstärken.
Die Ergebnisse zeigen, dass der Einfluss des familiären Hintergrundes auf die erzielten Schülerleistungen, der im Durchschnitt der OECD-Lander 17,7 beträgt, durch eine Erhöhung der Besuchsquote im Vorschulbereich von 60 auf 100% um 4,4 und durch eine Verlängerung der Dauer der formalen vorschulischen Bildung um ein Jahr um 1,3 gesenkt werden könnte.
Ludger Wößmann/Gabriela Schütz
Dass Krippen, Kindertagessstätten oder Kindergärten hierzulande keinen expliziten Bildungsauftrag, sondern vorwiegend Betreuungsfunktionen wahrnehmen, erweist sich unter den beschriebenen Bedingungen als bildungspolitischer Standortnachteil.
Ein weiterer signifikanter Unterschied zu anderen, erfolgreicheren Ländern besteht in der frühzeitigen Selektion des deutschen Schulwesens. Andernorts teilen sich die Schüler erst im Alter von 14 Jahren oder später in die verschiedenen Schulformen, so dass sie beispielsweise bei der Durchführung der TIMSS-Tests noch immer in der ursprünglichen Zusammensetzung angetroffen werden. Da es zunächst kein mehrgliedriges Schulsystem gibt, gehen die Kinder bis zur achten oder zehnten Klasse in eine Gesamtschule, während in den meisten deutschen Bundesländern bereits im Alter von zehn Jahren zum ersten Mal selektiert wird. Wößmann und Schütz haben errechnet, dass eine Verschiebung dieser Selektion um vier Jahre die Auswirkungen des familiären Einflusses auf die Testleistungen ebenfalls um 4,3 Punkte reduzieren würde. Das entspräche in etwa einem Viertel dieses Einflussfaktors auf die Schülerleistungen im Durchschnitt der OECD-Lander (17,7).
Die ifo-Experten sehen darüber hinaus keine erfolgversprechenden Möglichkeiten, die Chancengleichheit in diesem Bereich nachhaltig zu erhöhen. Ihrer Einschätzung nach stehen weder die Bildungsausgaben noch das Bruttonationaleinkommen eines Landes „in einem statistisch signifikanten systematischen Zusammenhang“ mit der Möglichkeit, sich unabhängig vom Elternhaus auszubilden. Gleiches gilt für die Länge eines Schultages, so dass eine Verbindung zwischen Ganztagsschulsystemen und unterschiedlichen schulischen Leistungen ebenfalls nicht gegeben zu sein scheint. Der einzige offensichtliche Zusammenhang zwischen Systemmerkmalen und Chancengleichheit, der neben den erwähnten noch in Betracht kommt, entsteht im Bereich der privaten Schulträgerschaft und –finanzierung. Hier ist die Bedeutung der familiären Voraussetzungen naturgemäß überdurchschnittlich hoch.
Um die Ergebnisse der Studie umfassend bewerten und Erkenntnisse gezielt in praktische Bildungspolitik übersetzen zu können, fehlen trotz der ungeheuren Datenmengen noch immer Antworten auf wichtige Fragen. So bleibt weitgehend offen, wie sich der familiäre Einfluss in den vielen Details tagtäglicher Erziehungsprozesse ausdrückt. Außerdem scheint das Unterscheidungsmerkmal Bücheranzahl nicht mehr so aussagekräftig zu sein, wie das möglicherweise in vorangegangenen Jahren und Jahrzehnten der Fall war. Abgesehen davon, dass der bloße Besitz von Büchern wenig über den Erkenntniswert aussagt, der aus ihnen gegebenenfalls zu ziehen wäre, dürften sie in Zeiten elektronischer Publikationen nicht mehr uneingeschränkt als „allgemeiner Proxy für den sozioökonomischen Hintergrund der Familie“ dienen können. Schließlich lässt die Konzentration auf die mathematische und naturwissenschaftliche Leistungsfähigkeit geisteswissenschaftliche und künstlerische Interessen traditionell unberücksichtigt.
Trotzdem spricht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die von Ludger Wößmann, Gabriela Schütz und anderen Forschern festgestellten Defizite markante Fehlentwicklungen beschreiben, die durch die Einbeziehung weiterer Untersuchungen in Verlauf und Umfang höchstens noch genauer charakterisiert werden können. So zeigen die vorliegenden Arbeiten durchaus, „wie erkenntnisbringend die Daten der internationalen Schülerleistungstests für politisch relevante Analysen eingesetzt werden können.“ Dass Wissenschaftlern der Zugriff auf die bereits gesammelten Ergebnisse immer noch erschwert und so eine möglichst präzise Bestandaufnahme des nationalen Bildungsnotstands verhindert wird, ist unter den gegeben Umständen eine besondere Absurdität.
Umso trauriger ist es, dass im Gegensatz zu den internationalen Daten kein freier Zugang zu den Schülerleistungsdaten der Bundesländer im Rahmen von TIMSS und PISA-E besteht. Interessierten Forschern ist es im Allgemeinen verwehrt, die existierenden Mikrodaten für Bundesländer- und Schulformvergleiche einzusetzen. Das ist besonders schade, da aufgrund der Bildungshoheit der Bundesländer bekanntermaßen durchaus erhebliche Unterschiede in Bildungspolitik und Bildungsergebnissen bestehen.
Ludger Wößmann/Gabriela Schütz