Liaison Mystique
Unerschlossener Reichtum: Fußball als Kulturgut, das Pelé-Phänomen und die "Copa da Cultura" im Rahmen der Weltmeisterschaft 2006
Fußball und Brasilien – das gehört zusammen, ist eins. Eine Liaison Fantastique. Um das zu wissen, muss man nicht in Brasilien gewesen sein, wo man immerfort Menschen begegnet, die ihre Liebe zum Vaterland und seinem Nationalsport ungefragt bekunden – lauthals und mit einem breiten Lächeln, das auch die Spieler der Selação in unseren Wohnzimmern aufsetzen, wenn sie auf den verkabelten Spielfeldern der Welt Tore geschossen haben. Doch nicht nur das Fernsehen kündet von der Liaison Fantastique, längst sind es auch Filme, Bücher, Schallplatten, etc. Aber auch großangelegte Kulturereignisse. Ein vorläufiger Höhepunkt: Copa da Cultura, das im WM06-Jahr die Verschmelzung von brasilianischer Kultur und brasilianischem Fußball zelebrieren soll. Bevor uns das Fieber zu Kopf steigt, vielleicht noch ein paar Gedanken, die der Liaison Fantastique mehr entlocken als das staatstragende Harmonisieren.
Man muss nicht in den Reihen des Vereinsfußballs groß geworden sein, keine Trainingslager oder Heim- und Auswärtsspiele in einer Jugendmannschaft mitgemacht haben, um zu wissen, dass Fußball mehr ist als nur ein Sport. Mehr als ein Spiel, ein Hobby oder die schönste Nebensache der Welt.
In keinem Moment in der Geschichte des Fußballs, die weit zurückreicht, aber erst im 19. Jahrhundert durch die Briten zu der Institution von heute wurde – in keinem Moment war es so klar wie heute, dass Fußball nicht nur Körperkultur, sondern Kultur an sich in der ganzen Bandbreite des Begriffes ist. Niemals zuvor war Fußball so angesehen wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Die weltbesten Fußballer werden als Ersatzpolitiker und Popstars im Hollywood-Format gehandelt; die weltbesten Spiele bringen längst nicht mehr nur Nationen ins Wanken oder zum Weinen, sondern werden als Kunstwerke analysiert und als komplex-kosmische Konfigurationen unserer Kultur dechiffriert.
Die Weltmeisterschaft als Kulturereignis
Es dürfte also niemanden überraschen, dass Brasilien – allenthalben als Fußballland schlechthin bewundert – sich gegenwärtig anschickt, aus der WM06 ein Kulturspektakel zu machen. Als eine Kooperation des brasilianischen Kulturministeriums und des Hauses der Kulturen der Welt angelegt, soll die „Copa da Cultura“ unter der Schirmherrschaft von Gilberto Gil, einem der populärsten Musiker Brasiliens und Kulturminister des Landes sowie Pelé, Welt-Fußballer des 20. Jahrhunderts und langjähriger Sportminister Brasiliens, stattfinden.
Man hat sich viel vorgenommen. Über das Jahr verteilt, soll ein Event dem anderen folgen, welches die brasilianische Kultur präsentiert, natürlich im Lichte ihrer verfeinertsten Spielart: dem Fußball. Der brasilianische Fußball soll in der Kunst, Performance und Musik, im Film und Theater reflektiert werden. Und eben auch als Kunst, Performance, Musik, Film und Theater. Mit verschiedenen Partnerinstitutionen ist in mehreren deutschen Städten eine Ereignisdramaturgie erarbeitet worden, die sich um die Fußballweltmeisterschaft in Berlin, München und weiteren Orten verdichtet.
Solche Großveranstaltungen sind niemals frei von Einwänden. Selbst wenn der brasilianische Kulturminister ein angesehener Künstler ist, heißt das noch lange nicht, dass eine Auswahl zusammengestellt wird, in der sich alle Gruppen und Strömungen des Landes wiederfinden. Ohne Frage: Hier steht Repräsentationskultur auf dem Programm. Kultur, die das Land als Ganzes widerspiegeln, vor allem jedoch in seinem Glanz aufleuchten lassen soll. Dass es bei solchen Programmen zu Verengungen des kulturellen Horizonts kommt, ist leider üblich. Gegen- oder Begleitveranstaltungen, die korrigierend intervenieren, sind selbstverständlich geworden.
Ihr Kontext ist dieses Mal in vielerlei Hinsicht ein besonderer. Nicht zuletzt muss berücksichtigt werden, dass der brasilianische Kulturminister ein cooler Popstar mit Rastafari-Dutt ist und seine Aufgabe nicht darin sieht, Klischees, die über sein Land in Umlauf sind, zu bekämpfen oder in Frage zu stellen („sie gehören einfach dazu“); dass er auf die Frage, nach dem Aberglauben der brasilianischen Kultur, mit selbstkomponierten Liedern antwortet (singend versteht sich) und die Sache mit der digitalen Kultur in Brasilien und ihrem Platz in dem „Copa da Cultura“-Panorama lieber vertagt. Soviel ist zumindest bei der Pressekonferenz im Haus der Kulturen deutlich geworden, die letzten Donnerstag stattfand.
Die Armut unserer Begriffe
Jedoch noch einiges mehr. Es gibt in diesem Zusammenhang nämlich noch Einwände, die spezieller sind und das Verhältnis von Fußball und Kultur betreffen. Im Grunde geht es um eine ganz einfache Frage: Was lernt man über Fußball als Kulturgut, wenn das Ziel darin besteht, ein Land zu repräsentieren und die Liaison Fantastique in erster Linie als Imagetransfer zwischen dem Nationalsport und den Künsten begriffen wird? Die Antwort liegt auf der Hand: Wir lernen etwas über das Land, vermutlich auch einiges über seine Fußballversessenheit. Und wir lernen etwas über die gegenseitigen Befruchtungserfolge. Misserfolge bleiben uns wohl erspart. Leider, denn auch daraus lassen sich Erkenntnisse gewinnen.
Aber all das kann eigentlich nicht reichen, denn über Fußball als Kultur wird auf diese Weise nichts grundsätzlich Neues bekannt. Es bleibt offen, wie wir uns dem Sport als Ausdrucks- und Verweissystem der Gesellschaft annähern können, wie er als kulturelle Matrix begriffen und beschrieben werden kann, ohne in Floskeln zu verfallen und auf Gemeinplätzen zu parken. Denn obgleich es in keinem historischen Moment so klar wie heute ist, dass Fußball nicht nur Körperkultur, sondern Kultur an sich in der ganzen Bandbreite des Begriffes ist – Begriffe, diese Kultur zu beschreiben und Kriterien, sie zu klassifizieren sowie zu kritisieren, müssen noch geprägt werden.
Die Armut unserer Mittel, Fußball als Kultur zu beschreiben, wird in einem Film offenkundig, den die „Copa da Cultura“-Veranstalter als Image- und Werbefilm für ihr Festival nutzen: Pelé Eterno (Pelé Forever). Eine abendfüllende Dokumentation von Anibal Massaini, die sich, wie es gleich zu Beginn heißt, dem „bekanntesten Menschen der Welt“ widmet, dem mehrfach gekrönten König des Fußballs: Pelé. Seine Geschichte wird von seiner Kindheit bis in die Gegenwart aufgerollt. Wir lernen seinen Vater kennen, der ebenfalls ein guter Fußballer war; bekommen mit, wie auf brasilianischen Bolzplätzen sein Name geprägt wurde, eigentlich heißt er ja Edson Arantes do Nascimento; verfolgen seinen Werdegang als Vereinsspieler und seinen sagenhaften Höhenflug in die Arena des Weltfußballs, zu dem er bereits im Alter von 17 Jahren ansetzte.
Vermutlich, um klarzustellen, dass man selbst über den „berühmtesten Menschen der Welt“ noch etwas Wissenswertes erfahren kann, rühmt sich die Produktion damit, auf Material in 70 Archiven zurückgegriffen zu haben, mehr als 450 Tore, 3000 Fotos, 210 Torkommentare und 1500 Schlagzeilen aus Zeitungen und Magazinen sondiert zu haben. Außerdem seien 150 Bekenntnisse von Familienmitgliedern, Freunden, Spielern, ehemaligen Weggefährten und Berühmtheiten zusammengetragen worden. Entsprechend wird der Zuschauer umfassend informiert: Etwa darüber, dass Pelé Millionen Dollar schweren Verlockungen des europäischen Klubfußballs entsagte, um lieber in seiner Heimat zu kicken; dass er Star zahlreicher Filme war, darunter auch von Hollywood-Produktionen und dass er in recht hohem Alter – seinen Rücktritt hatte damals schon längst erklärt – noch einmal ein Comeback feierte. Und zwar in den USA, bei dem New Yorker Klub Cosmos. Eine kuriose Episode, in der er dem reichsten und mächtigsten Land der Welt Lust auf die beliebteste Sportart der Welt machte. In Massainis Darstellung ein Deal unter umgekehrt-kolonialistischen Vorzeichen.
Entladungen im Strafraum
An einer Stelle heißt es, Pelé habe Tore wie am Fließband geschossen. Der Magier des seriellen Erfolgs sagt wiederum, das Toreschießen sei für ihn stets wie eine Form der Entladung gewesen. Der Film übersetzt das in eine Sprache, die - analog zu den am Fließband geschossenen Toren - eine Information nach der anderen präsentiert. Lebensdatei um Lebensdatei. Tor um Tor. Frau um Frau – er scheint so viele gehabt zu haben, dass sich der Regisseur auch hier für die Darstellung im Serienformat entschied: Ausgeschnittene Foto-Silhouetten werden wie Zinnsoldaten aneinandergereiht, addiert und verschoben.
Pelé mag eine Tormaschine gewesen sein, und sein Drang, sich zu entladen, mag auch im zwischengeschlechtlichen Privatleben zur Fließbandproduktion von sexuellen Höhepunkten geführt haben – erklärt dies aber das Pelé-Phänomen? Wie Christoph Biermann in seinem Buch „Fast alles über Fußball“ zeigt, können Fußballinformationen in Tabellenform mehr sein, als eine Leistungsschau der Wissensgesellschaft. Optional können sie beispielsweise als Werkzeuge der Weltordnung Verwendung finden. Doch bei der Fußballerbiografie bleibt der Sinn der Datenakkumulation aus, weil offenbar vergessen worden ist, den sozio-kulturellen Wert der jeweiligen Information zu hinterfragen.
Vielleicht wäre weniger mehr gewesen. Weniger Tore, weniger Info-Upload und mehr entschleunigte Räume der Reflexion. Ausgangspunkte gäbe es dafür zu Genüge. Etwa ein Vorfall, bei dem Pelé mit einer roten Karte vom Platz gestellt wird und das Publikum im Stadion darauf hin so erbost ist, dass es den Schiedsrichter verjagt und den Stürmer wieder ins Spiel lockt. Oder der Moment, in dem Pelé sich in einem Spiel als Torwart einwechseln lässt und die Nummer eins dafür eine Verletzung vortäuschen muss, weil Pelé vor seinem 1.000sten Torerfolg steht und dafür einen ganzen besonderen Rahmen für seinen Triumph sucht – und an einem späteren Nationalfeiertag auch findet.
In solchen Momenten deuten sich die kulturellen Dimensionen dieses Sports an. Es sind Momente, in denen der unmittelbare Torerfolg nicht im Mittelpunkt steht, sondern absurderweise mit allen Mitteln verzögert wird. Oder es sind Momente, in denen Spielregeln gebrochen werden, um mit den Bedürfnissen der Gesellschaft gerecht zu werden. In solchen Momenten werden Reibungen spürbar, die bei dem reibungslosen Toreschießen des Pelé in Vergessenheit geraten. Reibungen, die erahnen lassen, dass es beim Fußball um mehr geht, als den Ball über die Torlinie zu bringen. Und dass Fußball mehr als ein Sport ist. Die Sprachlosigkeit des Films, solche Momente visuell zu verworten und in einen größeren Zusammenhang zu stellen, zeigt nicht zuletzt, dass die Rede vom Fußball als Kulturgut seine Sprache noch sucht.
Dekodierung kultureller Konfigurationen
Nicht zuletzt deshalb bleibt Fußball als Kulturgut in seinem Reichtum noch unerschlossen. Und es bleibt abzuwarten, ob Festivals wie „Copa da Cultura“ etwas dazu beitragen werden, die Situation grundlegend zu verändern. Dass sich einige Pioniere in dieses Neuland vorgewagt haben, stimmt aber zuversichtlich. Der Freiburger Poptheoretiker Klaus Theweleit nimmt sich in seiner Arbeit beispielweise Zeit für balltheoretische Spekulationen und analytische Lektüren des Sportlerkörpers (Das Ende der "deutschen Tugenden"). Der an der Freien Universität Berlin promovierte Sozialwissenschaftler Robert Schmidt liest in seiner Dissertation Verschmelzungen von Sport und Popkultur auf die Aufwertung des Körperlichen und des Performativen in unserer Kultur hin – nur um zwei Beispiele genannt zu haben.
Solche Vorstöße könnten jenen Sport- und Kulturfunktionären als Inspirationsquelle dienen, die sich gegenwärtig lediglich darauf verlegen, Fußball als Fetischobjekt zu musealisieren (siehe Rundlederwelten), in konsumierbare Information zu übersetzen (siehe „Pelé Eterno“) oder es durch das Aufzeigen von Querverbindungen zu den Künsten oder politischen Projekten zu ästhetisieren (siehe „Copa da Cultura“). Die Annahme, dass das spannend ist und vollkommen ausreicht, drängt sich in einem Kontext wie brasilianischer Fußball irgendwie von selbst auf. Dort ist selbstverständlich, dass Fußball mehr ist als ein Sport; dort wird der Fußball unhinterfragt als Kulturgut gehandelt. So what?!
Herausarbeiten, ausgraben und offen legen von verborgenen und unsichtbaren Verbindungen; das Diskutieren und Analysieren von blinden Flecken, etc. All das liegt natürlich weniger nahe, müsste aber unternommen werden, damit aus der Liaison Fantastique nicht eine Liason Mystique wird und Fußball als Kultur kein unbeschriebenes Blatt bleibt. Zumindest, damit man das bereits Gesagte nicht noch einmal lesen muss.
Literatur:
- Christoph Biermann: Fast alles über Fußball. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2005
- Klaus Theweleit: Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2004