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Im Zuge der bislang größten Verbrechensermittlung der amerikanischen Geschichte wurden in den USA mehrere Hundert Personen festgenommen und inhaftiert

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Das Vorgehen der beteiligten Behörden findet unter größter Geheimhaltung statt, Bürgerrechtsorganisationen und Rechtsbeobachter befürchten, dass dabei Grundrechte verletzt werden.

Es war abzusehen, dass mit den Ereignissen vom 11. September für alle Muslime und Personen aus dem Mittleren Osten, die sich in den USA aufhalten, harte Zeiten anbrechen. Die American Civil Liberties Union von Illinois hat schnell erkannt, dass durch ihren Glauben oder ihre Herkunft vorbelastete Personen recht willkürlich ins Fadenkreuz der Justiz geraten könnten. Am 29. September hat die ACLU daher eine Hotline gestartet, bei der Betroffene von Übergriffen Meldung erstatten können, aber auch Information über ihre Grundrechte und den Umgang mit den Ermittlungsbehörden erhalten. Die Anwälte der ACLU haben darüber hinaus ein "Know Your Rights"-Handbuch zusammengestellt, das in Illinois von den dortigen muslimischen und arabisch-amerikanischen Gemeinden verteilt wird.

Doch vielen hat das nichts geholfen. Wie die Washington Post am 15. Oktober meldete, befindet sich eine nicht genau bezifferte Zahl von Männern im Hochsicherheitstrakt des Metropolitan Correctional Center in Manhattan, deren herausragendstes Merkmal wohl ihre arabisch klingenden Namen sind. Sie sind in Einzelzellen im 9. Stock des Gebäudes untergebracht: Eine Pritsche, eine Decke und auf Anfrage eine Ausgabe des Koran - mehr Abwechslung gibt es dort nicht.

Zirka 800 Personen, die Angaben hierüber schwanken, wurden landesweit während der jetzt fünf Wochen andauernden Ermittlungen verhaftet. Wie viele sich derzeit noch in Haft befinden ist unklar. Nach Angaben von Justizminister John D. Ashcroft bewegen sich alle Maßnahmen im Rahmen der geltenden Gesetze. Doch es werden immer mehr Fälle bekannt, in denen die Haftbedingungen sowohl gegen US-Gesetze als auch internationale Menschenrechte verstoßen. Dazu gehören Schikanen in den Gefängnissen wie unregelmäßiges Duschen, Nahrung, die nicht den muslimischen Speisevorschriften entspricht, Zählappelle (Head Count) im Zwei-Stunden-Takt oder geduldete Übergriffe durch andere Häftlinge. Aber auch die völlige Isolation nach außen - kein Kontakt zur Familie und nur stark beschränkter Zugang zu den Anwälten. Letztere haben es mitunter schwer, ihre Klienten überhaupt zu finden, die immer wieder in andere Vollzugsanstalten verlegt oder sofort ins Metropolitan Correctional Center von New York überstellt werden.

Die namenlosen Inhaftierten (in der Presse "Detainees"), werden "incommunicado" verwahrt und es gibt keine der Öffentlichkeit zugänglichen Aufzeichnungen etwa über ihre Identität, die gegen sie erhobenen Vorwürfe oder den Status ihres Verfahrens. Die strikte Geheimhaltung geht offensichtlich in einigen Fällen so weit, dass weder der Inhaftierte noch sein Rechtsbeistand wissen, welcher Verdacht vorliegt. Diese Geheimnistuerei hat natürlich damit zu tun, dass es sich um Terrorismus-Ermittlungen handelt, die vor einer Grand Jury (Anklagekammer) erfolgen, die zu einem solchen geheimen Vorgehen ermächtigt ist. Doch sie schürt Misstrauen, allein schon wegen des vorliegenden Ausmaßes, das es bislang nur nach Pearl Harbour gab, als 700 japanische Immigranten festgenommen und für eine längere Zeit ohne Anklageerhebung inhaftiert wurden. In einem Brief richtet sich die ACLU unter Berufung auf die Washington Post an US-Justizminister Ashcroft und verlangt Aufklärung:

- How many people have been detained by the federal government since September 11th as part of its terrorism investigation? How many are now being detained? What is the nationality and/or ethnicity of those initially detained and those still in detention? - What are the criteria that the government is using in requesting secret proceedings or the entry of gag orders? Is the government insisting on secret proceedings in every case? How many gag orders have been issued and what is their scope? - On what basis have individuals been detained so far? Specifically, how many have been held on immigration charges? How many have been held on criminal charges (whether federal, state or local)? How many have been held as material witnesses? Are there individuals being held on other grounds? - What is the maximum time that anyone is held before charges are filed, and how quickly are detainees brought before a judge to review their detention? - Do counsel have access to the detainees, regardless of the basis of detention, and both before and after the filing of charges? How many of those remaining in detention are represented by lawyers? - Of the total number detained since September 11th, how many have been charged with terrorism or terrorist-related activities? How many have been cleared of any connection to terrorism? How many of those cleared of any terrorist connection are still in detention, and on what basis? - In how many cases has the government relied on secret evidence, undisclosed to either the detainee or the detainee's counsel? - What is the government's policy regarding the release of material witnesses who have testified before the grand jury or whose testimony can otherwise be preserved? Is there any limit on the time that a material witness can be detained without the filing of charges?

Niemand weiß so recht, was man den Inhaftierten eigentlich vorwirft: Hält man sie für Drahtzieher oder "unentbehrliche Zeugen" (material witnesses) oder sind sie einfach nur Personen, die Informationen besitzen könnten, weil sie zufällig einem der Terroristen über den Weg gelaufen sind? Die Washington Post zitiert einen ermittelnden Beamten, der anonym berichtet, dass einige Häftlinge allein auf Grund von Indizien festgenommen und länger als eine Woche festgehalten wurden, ohne gesetzlichen Beistand oder die Erlaubnis, Angehörige zu verständigen.

Festnahme und Inhaftierung der verdächtigten Personen basieren im Wesentlichen auf zwei rechtlichen Grundlagen. Die größte Gruppe von Personen wird wegen Verstößen gegen das Einwanderungsgesetz (Immigration and Naturalization Act) festgehalten, dazu zählt z. B. ein abgelaufenes Visum. Dies Häftlinge haben leider das Pech, dass sie völlig rechtmäßig unbefristet festgehalten werden können: Denn auch wenn sie mit den Terroranschlägen nicht in Verbindung gebracht werden können, können die Justizbehörden auf jeden Fall ein Abschiebeverfahren einleiten und sie damit zunächst unbegrenzt in Haft behalten.

Bei dem zweiten Personenkreis - angeblich sind nur eine Hand voll - handelt es sich um die so genannten unentbehrlichen Zeugen, was bedeutet, dass man von ihnen annimmt, dass sie über relevante Informationen verfügen und vor der Grand Jury (Anklagekammer) aussagen sollen. Ein Material Witness hat das Recht auf eine gerichtliche Prüfung seines Falls, er kann jedoch inhaftiert werden, wenn Fluchtgefahr besteht, was in den vorliegenden Fällen leicht plausibel zu machen ist. Wie lange er festgehalten werden kann ist unklar. Das Gesetz spricht von einer "reasonable period", einem angemessenen Zeitraum. Aber was darunter zu verstehen ist, haben US-Gerichte unterschiedlich interpretiert. Es ist vor allem die Anwendung des Material-Witness-Gesetzes, die viele Rechtsbeobachter auf den Plan ruft. "Der Zweck des Material-Witness-Gesetzes war es, Personen festzuhalten, damit sie vor einer Grand Jury aussagen können, aber nicht um sie auf unbestimmte Zeit festzusetzen, während die Regierung nach Hinweisen sucht", kritisiert David Cole, Professor für Verfassungsrecht an der Georgetown Universität.

Gebracht hat die aggressive Ermittlungstaktik bis jetzt offenbar nicht viel. Zeitungen wie die New York Times und die Washington Post berichteten am vergangenen Wochenende, dass nach Angaben aus Regierungskreisen keine "key players" für die Planung der Terroranschläge gefunden und nur wenige wirklich aussagekräftige Details ermittelt wurden. Maximal zehn der festgenommenen Personen stehen in Verdacht vielleicht doch in irgendeiner Form in die Flugzeugentführungen verwickelt zu sein. Auch von den 100 Personen, die noch auf der Fahndungsliste das FBI stehen, erwartet man sich keine wichtigen Anhaltspunkte.

Das Vorgehen der Ermittlungsbehörden bei der Aufklärung der Terroranschläge erscheinen noch fragwürdiger, wenn man die fiebrigen Bemühungen der Bush-Administration um neue Anti-Terrorismus-Gesetze bedenkt. Sie sollen möglichst schnell und möglichst nahe an den Vorschlägen der Regierung in Kraft treten. Justizminister Ashcroft hat dem Kongress recht deutlich zu verstehen gegeben, dass wer das Inkrafttreten neuer Gesetzte durch endlose Diskussionen verzögert, Mitverantwortung an neuen Anschlägen trägt.

Einen ersten Vorgeschmack auf die neuen Gesetze, gab schon die Verwaltungsrichtlinie vom 17. September. In ihr wurde der Zeitraum, in der die Einwanderungsbehörden Ausländer zum Verhör festhalten dürfen, von 24 auf 48 Stunden erhöht. Beim Vorliegen eines Notfalls oder außergewöhnlicher Umstände, kann die Frist weiter verlängert werden - ohne zeitliche Obergrenze. Eine gerichtliche Prüfung der Haft ist nicht vorgesehen. Besonders schlimm trifft diese Richtlinie mittellose Ausländer, weil sie nicht automatisch einen Rechtsbeistand erhalten.

Nach Meinung von Human Rights Watch laden die geplanten Anti-Terrorismus-Gesetze zum Missbrauch geradezu ein. Werden sie in der bisher bekannt gewordenen Form Gesetz, darf das Justizministerium jeden Ausländer sieben Tage in Haft nehmen, allein wenn es Grund hat zu glauben, dass dieser Handlungen begehen könnte, die die nationale Sicherheit bedrohen. Eine detailliertere Erläuterung der Gründe ist nicht erforderlich. Während der 7-Tages-Frist muss entweder ein Abschiebeverfahren eingeleitet oder offiziell Anklage erhoben werden, womit die Frist wieder unbegrenzt verlängert ist. Und auch wenn ein Einwanderungsrichter die Abschiebung aufhebt, kann das Justizministerium die Haft aufrecht erhalten. Außerdem versuchten die neuen Gesetze die gerichtliche Prüfung der Inhaftierung auszuschließen. Um eine solche Prüfung zu erwirken, bleibe einzig eine Habeas Corpus-Petition, die jedoch nur am District Court for the District of Columbia beantragt werden kann. Für Häftlinge, die nicht im District inhaftiert sind, eine obendrein teure Lösung. Schon die Sprache der Gesetze wird als äußerst schwammig kritisiert und zumal sie nirgends genauer definiert werde. Auch was z. B. terroristische Aktivitäten sind werde nicht spezifiziert. Insgesamt verstößt das Gesetzeswerk laut Human Rights Watch deutlich gegen den Internationalen Pakt über zivile und bürgerliche Rechte (ICCPR), dem auch die USA angehörten.

Doch die Regierung macht erfolgreich Druck auf die Legislative: Am 11. Oktober hat der Senat seinen Gesetzentwurf, den Uniting and Strenghtening America (U.S.A.) Act 2001, nach kurzer Debatte mit nur einer Gegenstimme beschlossen. Am folgenden Morgen verabschiedete das House of Representatives seine Version eines Gesetzentwurfs, den PATRIOT Act (Provide Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism) (vgl. auch: Anti-Terror-Paket der US-Regierung abgeschwächt). Dabei handelte es sich jedoch nicht um den vom Justizausschuss des Repräsentantenhauses sorgfältig erarbeiteten Entwurf, sondern um eine neue Version, die offensichtlich in einer Nacht und Nebel Aktion von einigen führenden Abgeordnete zusammen mit der Regierung formuliert worden war und eng an die Senats-Version angelehnt ist. Auch im "House" gab es keine langen Diskussionen, erst im Nachhinein beklagten Abgeordnete beider Parteien, dass sie eigentlich gar nicht recht wussten, worüber sie abstimmten. David Obey, ein Democrat, der den Bundesstaat Wisconsin vertritt, bezeichnete den Gesetzenwurf als "back-room quick fix". Doch die Ähnlichkeit beider Entwürfe dürfte wenigstens den Gesetzgebungsprozess beschleunigen, und das Gesetz könnte schon bald zur Unterzeichnung auf dem Tisch von Präsident Bush liegen.

Es besteht kein Zweifel, dass sich die USA auf einen langwierigen Kampf gegen den Terrorismus einrichten. Dies bestätigt noch eine weitere Meldung der New York Times. Danach soll nämlich das FBI fundamental restrukturiert werden. Es wird Kompetenzen bei der Kriminalitätsbekämpfung abgeben und sich vornehmlich um Terrorismusbekämpfung kümmern. Das Justizministerium und die Führung des FBI sind sich bereits darüber einig, dass die geplanten Änderungen dauerhaft sein sollen.