Libyen: IS-Milizen auf dem Vormarsch
"Wir brauchen mehr Waffen" - Europa ist ratlos
"Wir brauchen mehr Waffen", ruft es auch aus Libyen. "Die libysche Armee bräuchte bessere Waffen, um mit den Islamisten schneller fertig zu werden", gibt Alfred Hackensberger den Wunsch des Kommandanten einer Spezialeinheit der Marine weiter. Libyen ist doch nur wenige hundert Kilometer von Europa entfernt, ist der Bericht überschrieben.
Dazwischen liegt das Mittelmeer: Vor der libyschen Küste sind "wohl wieder mehr als 200 Menschen ertrunken", wird heute gemeldet. "Die Nato hat uns gegen al-Gaddafi geholfen, und nun werden wir im Stich gelassen", wird der oben genannte Kommandeur weiter zitiert und das "im Stich lassen" ist imgrunde die große Überschrift zu Libyen. Ohne, dass es auf die Frage, wie der Westen in Libyen eingreifen könnte, eine überzeugende Antwort gibt.
Dem Land geht es schlecht
Einig sind sich alle im Alarm: Das Land sei in "großer, großer Gefahr", sagt der U.N.-Menschenrechtssprecher Rupert Colville, die Regierungen der USA, Deutschlands, Großbritanniens, Italiens und Spaniens verurteilen die Gewalt im Land und befürchten das Schlimmste für Versorgung der Bevölkerung. Die Klammheit der Staatskassen wirke sich bereits auf essentielle Importe, wie etwa von Weizen, aus.
Die Ölproduktion ist durch die Kämpfe stark reduziert, sie liegt gegenwärtig bei 340.000 Fass Rohöl pro Tag. V or 2011 waren es 1,6 Millionen Barrel täglich. Zur schwachen Produktion kommen die niedrigen Preise. Zudem sind die Produktionsstätten umkämpft. Westliche Firmen wie die deutsche Wintershall haben aus Sicherheitsgründen aufgegeben.
Bemühung der UN und die grobe große Front
Die UN versucht zwischen den Parteien zu vermitteln, macht aber so gut wie keine Fortschritte, weil es zu viele Fraktionen, Fronten und unterschiedliche Interessen gibt. In der breiteren Öffentlichkeit versucht man das chaotische Bild mit der gängigen Trennungslinie zu ordnen: Die dem Westen nahestehenden Gruppen gegen die "Islamisten/Terroristen".
Wie auch das eingangs genannte Zitat illustriert, versuchen beteiligte Parteien Kapital aus dieser Großfrontzeichnung zu ziehen. Nur stimmt sie so nicht, wie zum Beispiel ein Bericht des US-Magazins Atlantic zeigt.
Dort berichtet der Reporter Frederic Wehrey aus Misrata. Die Stadt, die während des vom Westen unterstützten Aufstands gegen Gaddafi im Jahr 2011 eine große Rolle spielte, wurde zuletzt im Zwei-Fronten-Schema der Newsberichte dem "islamistischen, terroristischen Lager" zugeschrieben. Das Stichwort für die terroristische Fraktion ist die Gruppe Ansar al Scharia, für die Mischung aus islamistisch-terroristisch steht die Kampfallianz verschiedener Milizen, "Morgendämmerung" genannt, die mit der Regierung in Tripolis verbunden ist.
Da die Ansar al-Scharia auch bei der "Morgendämmerung" bedeutend mitmischt, geraten Vorwürfe, wonach Gruppen in Misrata "mit der Morgendämmerung in Tripolis gemeinsame Sache machen", wie sie Hackensberger von Kämpfern zitiert, zur Gleichungsetzung von Misrata und Terrorismus.
Folgt man dem Wehrey-Bericht aus Misrata, so werden Abgrenzungen zwischen Gruppen, die in Misrata zuhause sind und der Ansar al-Scharia deutlich: Dort ist sogar von tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Ansar al-Scharia und Gruppen aus Misrata die Rede. Und dazu von einem weiteren verwirrenden Phänomen: dass Gruppen in Misrata Uniformen der libyschen Armee tragen und sich als Soldaten des "wahren Libyens" verstehen.
Dem gegenüber stehen Verbände der libyschen Armee, die mit General Haftar kooperieren, wie auch die Kämpfer, die Hackensberger schildert. Sie haben den Vorzug, dass sie mit der Regierung im Osten des Landes, mit dem Repräsentantenhaus in Tobruk, verbunden sind. Sie genießt die offizielle Anerkennung der UN und führender westlicher Staaten. "Operation Würde" heißt der Name der Kampfallianz unter Haftar, die als Kampf gegen die Islamisten/Terroristen plakatiert wird - unter Absehung des machtpolitischen Ehrgeizes des dubiosen Generals mit CIA-Verbindungen und verwandten politischen Karriere-und Machtgelüsten seiner Mitstreiter.
Der as-Sisy-Effekt
Ihr Vorteil ist, dass sie vom benachbarten Ägypten unterstützt werden. Nicht nur ganz konkret, indem Ägypten Startbahnen für Luftangriffe auf die Gegner der "Operation Würde" zur Verfügung stellt, sondern auch ideologisch. As-Sisys Ägypten steht für das derzeit erfolgreichste Modell für einen Staat, der dem Islamismus trotzt. As-Sisy wird umworben von den USA, von Russland, von Frankreich etc.
Bislang wird "nur" politische Repression als Preis für as-Sisys Putschregime genannt, als einzige Schattenseite in der öffentlichen Bewertung. Und diesen Preis hält man angesichts des Horrors, den Dschihadisten in der Region verbreiten, für bezahlbar. Von einer befürchteten Radikalisierung der unter as-Sisy als Terroristen gebrandmarkten Muslimbrüder ist auch noch nichts allzu Schmerzhaftes bekannt geworden.
Auch Haftar begann seinen Kampf mit einem Putschversuch gegen das damals legitime Parlament, dem Neuwahlen folgten. Er rechtfertigte dies mit der Gefahr der Unterwanderung Libyens durch die Muslimbrüder und andere Islamisten. Weswegen sich Proteste in der Regierung in Tobruk gegen Haftar auf Distanzierungen beschränkten, die auf diplomatischer Ebene gefordert werden, in Wirklichkeit aber kaum relevant sind, außer dass sie zur Vorsicht mahnen, etwa beim Eingestehen von Verbindungen zwischen Teilen der Regierung und Verbänden der ehemaligen libyschen Armee mit dem General.
Die Rebellen-Gruppen in Misrata dagegen misstrauen Haftar, weil er wie as-Sisy den "tiefen alten Staat" zurückholt, gegen den die Rebellen kämpften. Das ohnehin komplizierte Geflecht wird nicht einfacher mit dem Auftreten von IS-Milizen.
IS-Dschihadisten: "They pretty much own Libya"
Ein aktuelles Video zeigt die typischen Bilder einer triumphalen Pick-up-Prozession mit schwarzen Dschihadfahnen von IS-Milizen in Naufalija, bei Ben Dschawad.
Bereits im Oktober letzten Jahres berichtete der Dschihad-Beobachter Aaron Y. Zelin, dass der IS im Begriff sei, eine Art Kolonie in Libyen, in Derna, an der Mittelmeerküste, aufzubauen. Darauf basierend warnen US-Generäle davor, dass IS-Milizen Gebiete in Libyen unter ihre Kontrolle gebracht hätten. Im typischen US-Proklamationsstil wird die Gefahr nicht gerade untertrieben: "They pretty much own Libya."
Bei Al-Arabija kommt der US-Botschafter in den Vereinigten Arabischen Emiraten mit der Einschätzung zu Wort, dass die IS-Dschihadisten bereits in sieben libyschen Stätten aktiv seien. Der Guardian berichtete Mitte Januar von Entführungen von Christen in Libyen, für die sich der IS als verantwortlich bekannte. Auch bei einem kürzlichen Anschlag auf ein Luxus-Hotel, bei dem mehrere Personen ums Leben kamen, waren angeblich IS-Milizen beteilgt.
Was die Frage aufwirft, mit welchen islamistischen Gruppierungen der IS in Libyen kooperiert. Ansar al-Scharia ist dafür Kandidat Nummer 1. Allerdings weiß man dort auch um den Dominanzanspruch des IS: Es wird keine Gruppe Ansar al-Scharia neben dem IS geben.
Es heißt, dass sich islamistische Gruppen in Misrata gegen den IS verbündet haben. Aber auch hierzu gibt es dem widersprechende Behauptungen.
Wie der Westen auf das sich verschlimmernde Schlamassel in Libyen reagieren wird, ist noch völlig offen.