Libyen: "Sintflut der Würde" gegen den "Vulkan des Zorns"
Seite 2: Frankreich und Italien als "Schutzpatrone"
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Nicht zuletzt sind auch die westlichen und anderen Großmächte über ihr Verhältnis zum Konflikt in Libyen gespalten. Innerhalb der EU stehen sich vor allem Frankreich einerseits und Italien andererseits als Schutzpatrone jeweils einer Fraktion gegenüber. Laut Angaben der italienischen Tageszeitung La Repubblica wurden Emissäre Khalifa Haftars am 04. April, nur Stunden vor dem Angriffsbefehl ihres Chefs, zu Gesprächen in Paris empfangen.
Am folgenden Tag soll es laut derselben Quelle zu Verhandlungsrunden der französischen und der italienischen Regierung sowie einer Delegation aus Benghazi gekommen sein, zunächst in Rom und dann in Paris, wo konträre Standpunkte eingenommen wurden. Das französische Präsidentenamt im Elysée-Palast hat diese Information bestätigt.
Der dortige Amtsinhaber Emmanuel Macron hatte Khalifa Haftar als erster westlicher Staatsmann empfangen, im Juli 2017 zu einem Gipfel zusammen mit Fayez el-Sarraj in La Celle-Saint-Cloud bei Paris und ihn dadurch diplomatisch immens aufgewertet. Haftar wurde auch in Frankreich medizinisch behandelt. Aber schon vor dem Präsidentenwechsel von François Hollande zu Emmanuel Macron lag die französische Exekutive auf dieser Linie.
Im Juli 2016 stürzte ein Hubschrauber der Haftar-Armee ab, dabei starben auch drei französische Elitesoldaten, die für den französischen Auslandsgeheimdienst DGSE arbeiteten. Drei weitere DGSE-Mitarbeiter kamen im Oktober 2016 beim Unfall eines Aufklärungsflugzeugs beim Start von Malta nach Ostlibyen ums Leben. In Paris musste man damals zugeben, mit Haftar und seiner Truppe nachrichtendienstlich verstrickt zu sein. Hollandes Verteidigungsminister war damals Jean-Yves Le Drian, er ist heute Macrons Außenminister.
Dieser Positionierung Frankreichs ist man sich auch in Tripolis bewusst. Dort bestellte Premierminister el-Sarraj am 06. April die französische Botschafterin Béatrice Le Fraper du Hellen ein und verlangte "Erklärungen" von ihr. Zwölf Tage später gab das Innenministerium der GNA unter Fathi Bachagha seine Entscheidung bekannt, jegliche sicherheitspolitische Kooperation mit Frankreich einzufrieren.
Aber auch Teile der Zivilbevölkerung machen sich den Protest zu Frankreich zu eigen. Jeden Freitag kommt es zu Demonstrationen von Zivilisten in der Hauptstadt Tripolis gegen die Militäroffensive. Am 19. April erschienen viele Teilnehmer - in gelben Westen und mit Plakaten gegen Macron und Haftar.
Umgekehrt empfing Italiens Premierminister Giuseppe Conti am 16. April in Rom den Berater von GNA-Premierminister el-Sarraj, Ahmet Meetig, sowie den katarischen Außenminister Mohammed bin Abdrulrahman al-Thani, was eine klare Präferenz für eine andere Fraktion im libyschen Bürgerkrieg widerspiegelt.
Dort, wo man an Frankreichs Staatsspitze davon ausgeht, es sei realistisch, auf Haftar als künftigen "starken Mann" zu setzen, und die Terrorismusbekämpfung liege bei ihm in guten Händen, zieht man es in Italiens Regierung vor, auf die Rolle der offiziell durch die "internationale Gemeinschaft" anerkannten GNA als Partnerin bei der Migrationsabwehr und der Zurückhaltung von Flüchtlingen zu setzen.
In der derzeitigen Situation schürt man in Kreisen der italienischen Regierung, und vor allem bei der an der Koalition beteiligten extremen Rechten, zugleich Panik vor zu erwartenden "Flüchtlingsströmen" aus oder über Libyen. Am 16. April erließ Rechtsaußen-Innenminister Matteo Salvini folglich einen neuen Erlass. Dieser schreibt Hilfsorganisationen im Mittelmeer zwingend vor, die "legitimen Koordinierungsbefugnisse ausländischer Autoritäten" zu respektieren. Konkret gemeint ist mutmaßlich die libysche Küstenwache.
o Diese, durch die EU ausgebildet und ausgerüstet, hat vorliegenden Zahlen zufolge im Jahr 2018 insgesamt 15.000 Migrationswillige oder Fliehende von offener See zurück nach Libyen transportiert, wo Menschen in solcher Situation auf unbestimmte Zeit in Haftzentren unter Kontrolle der GNA-Behörde Department for combatting illegal migration (DCIM) eingesperrt werden.
Derzeit sind laut UNCHR-Angaben 5.700 Menschen in Libyen unter solchen Umständen interniert, darunter 3.000 in Tripolis. Als besonders bedenklich gilt die Lage in den Haftzentren Ain Zara und Qasr bin-Ghashir, südlichen Vororten von Tripolis, die in Kampfzonen liegen - in Ain Zara wurde bei jüngsten Schusswechseln etwa eine Schule zerstört - und wo die Haftzentren für Migranten Nahrungs- und Wassermangel aufweisen, da das Wachpersonal zum Teil floh.
Am 12. April forderte das UNHCR die Freilassung aller in diesem Kontext inhaftierten "illegalen Migranten". Zuvor hatte die UN-Behörde versucht, 728 Migranten, darunter auch Frauen und Kinder, aus Qasr bin-Ghashir nach Zintan, 170 Kilometer südlich von Tripolis, zu transportieren, um sie wenigstens aus der Kampfzone zu bringen. Die Betreffenden weigerten sich jedoch vehement, mit der Begründung, sie wollten schlicht aus Libyen heraus.
Nicht nur Paris und Rom rivalisieren miteinander vor dem Hintergrund der Ereignisse in Libyen sowie der Afrikapolitik. Im UN-Sicherheitsrat scheiterten wiederholte Versuche einer Einigung, seitdem am Abend des 05. April eine nach Beginn von Haftars Offensive eilig einberufene Sitzung keine Ergebnisse brachte. Sowohl Deutschland, das als nicht-ständiges Mitglied im Sicherheitsrat derzeit dessen Vorsitz innehat, als auch das Vereinigte Königreich, das einen Resolutionsentwurf einbrachte, drängten auf einen Aufruf zum Waffenstillstand und zur Verurteilung militärischer Offensiven.
Ein Konsens scheiterte zunächst an Russland, das die Resolution als zu einseitig gegen Khalifa Haftar gerichtet bezeichnete, obwohl Letzterer nicht einmal explizit erwähnt wird. Doch das Außenministerium in Moskau pochte darauf, alle Seiten müssten, sozusagen ausgewogen, ermahnt werden.
Die USA und Russland
Die Linie der USA unter ihrem Außenminister Mike Pompeo betrachtete diese Linie zunächst als unakzeptabel. Doch dann vollzog sich ein Kurswechsel der US-Administration, in dessen Verlauf Pompeo durch seinen Chef Donald Trump desavouiert wurde.
Am 19. April publizierte das Weiße Haus ein Pressekommuniqué, das darüber informierte, Trump habe bereits vier Tage zuvor, also am 15. April, mit Khalifa Haftar telefoniert, und er unterstreiche dessen Rolle bei der Terrorismusbekämpfung und bei der "Sicherung der Erdölreserven" in Libyen.
Zugleich blockierten die USA und Russland nunmehr gemeinsam einen erneuten britischen Versuch im UN-Sicherheitsrat, einen am 15. April neu eingebrachten Resolutionsentwurf gegen eine militärische Eskalation in Libyen durchzubringen. Die deutsche Diplomatie ließ laut Jeune Afrique ihre "Frustration" zum Ausdruck kommen.
Die französische Regierung unterstützte ihrerseits die britisch-deutschen Bemühungen im UN-Sicherheitsrat - hintertrieb jedoch ihrerseits einen Versuch bei der Europäischen Union, dort eine Resolution zu verabschieden, um die Offensive unter Khalifa Haftar zu kritisieren.
Die UN und alle Bemühungen ihrer Diplomatie werden auf diese Weise marginalisiert. Dies liegt vollkommen im Interesse und im Kalkül Khalifa Haftars, denn dessen Offensive war auf eine Weise getimed, die systematisch Deeskalationsbemühungen der UN zu Libyen torpedieren und zum Scheitern bringen sollte.
Vom 03. bis zum 05. April weilte UN-Generalsekretär Antonio Guterres in Libyen, wo er auch sowohl el-Sarraj als auch Haftar - am letzten Tag seines Besuches, im Militärcamp von Rajma in 25 Kilometern Entfernung von Benghazi - traf. Doch Letzterer startete seine Militäroffensive während des hochrangigen UN-Besuchs. Guterres flog laut eigenen Worten "mit schwerem Herzen und tief beunruhigt" aus Libyen ab.
Die Blitzoffensive versandet
Vom 14. bis zum 16. April sollte darüber hinaus im südwestlibyschen Ghadamès eine "nationale Konferenz" von Libyern unter Vermittlung der UN stattfinden, die innenpolitische Konsensbemühungen befördern und die Abhaltung von Wahlen vor Jahresende 2019 ermöglichen sollte.
Das Ereignis war durch den UN-Sondervermittler zu Libyen, den libanesischstämmigen Ghassan Salamé, mit zahlreichen Bemühungen eingefädelt worden. Doch am 09. April musste Salamé es aufgrund der aktuellen Sicherheitslage auf unbestimmte Zeit vertagen, also faktisch absagen.
Khalifa Haftar rechnete ursprünglich mit einem Blitzsieg, nicht nur aufgrund überlegener Waffenkraft, sondern auch, weil er - mit Geld und dem Versprechen von Posten sowie eine Engliederung in eine künftig aufzubauende Armee - lokale Milizen eingekauft hatte, wie etwa die "Siebte Brigade" in Tarhouna, einem Vorort von Tripolis. Durch diese Allianzenwechsel glaubte er, freie Fahrt bis vor die Tore von Tripolis und darüber hinaus vorzufinden.
Doch darin täuschte er sich. Bislang zerstrittene oder jedenfalls nicht zusammenarbeitende Milizen wie die von Misrata, Zawya und Zintan wurden durch seine Offensive mobilisiert und schlossen sich gegen den gemeinsamen Feind zusammen.
Seine geplante Blitzoffensive versandete. Nun ist möglicherweise mit einem längeren Stellungskrieg zu rechnen. Der Premierminister der GNA, Fayez el-Sarraj, warnte Haftar am 06. April vor einem "Krieg ohne Gewinner". Jedenfalls an diesem Punkt könnte er eventuell, zumindest vorläufig, Recht behalten.