Libyen: Spezialkommando schießt auf Migranten
Aufgrund ihrer Erfahrungen in den Lagern weigerten sich aus Seenot Gerettete von Bord eines Containerschiffes in Misrata zu gehen. Die Küstenwache und Behördenvertreter entschieden sich für den Einsatz von Gewalt
Beim EU-Außengrenzen-Schutz, der sich an Libyens Küste abspielt, geht es hart zu. Gestern feuerten libysche Spezialkräfte in Kooperation mit der Küstenwache mit Gummi ummantelte Geschosse ("rubber bullets") auf Migranten, die sich zuvor mehr als 10 Tage lang geweigert hatten, im Hafen von Misrata (auch: Misurata) von Bord des Schiffes Nivin zu gehen. Bei der Aktion kam es zu Verletzten, die ins Krankenhaus gebracht wurden.
Nach Angaben der freien italienischen Journalistin Francesca Mannocchi meldete das Krankenhaus in Misrata 11 Verletzte, darunter drei mit schweren Verletzungen. Nun sind diese Angaben, wie fast alle aus dem von unklaren Verhältnissen, einem Gewirr an Interessen und entsprechend kalibrierten Aussagen geprägten Libyen mit Vorsicht zur Kenntnis zu nehmen. Dazu kommt im konkreten Fall, dass die Sicherheitskräfte die Aktionszone absperren ließen. Journalisten wie auch humanitären Organisationen war der Zutritt verboten.
Daran, dass hart durchgegriffen wurde, gibt es aber keinen Zweifel. Das bestätigt der zuständige Kommandant der Küstenwache Taufiq Esskair gegenüber dem Reuters-Journalisten Laessing: "Ein gemeinsames Team stürmte das Containerschiff und benutzte Gummigeschosse und Tränengas, um Zwang auszuüben."
Die italienische Journalistin Francesca Mannocchi hält sich ihren Bericht, der gestern auf der Website von Middle East Eye erschien, mit genauen Angaben zum Hergang und der Zahl der Verletzten zurück. Dort schreibt sie lediglich, dass laut Berichten einige Personen ins Krankenhaus eingeliefert wurden, aber die genaue Zahl und die Verfassung der Verletzten seien unklar.
Insgesamt befanden sich bis zum späten gestrigen Vormittag, als die Sicherheitskräfte das Schiff enterten, - niedrig angesetzt - über 70 Personen an Bord des Containerschiffes Nivin, das unter der Flagge Panamas fährt. Das Schiff hatte ursprünglich 95 aus Seenot Gerettete an Bord.
Gerettet und zurück nach Libyen gebracht
Am 6. November waren die 95 Personen, darunter 28 Minderjährige, von der Küstenstadt Khoms aus aufgebrochen, um an eine europäische Küste zu gelangen. Stunden später, so der Bericht Francesca Mannocchis, hätten sie bemerkt, dass sie in Gefahr geraten sind, und suchten Hilfe von vorbeifahrenden Schiffen.
Sechs fuhren weiter. Die Nivin nahm sie auf und brachte sie laut Mannocchi am 9. November zurück an die libysche Küste nach Misrata, wohin die Geretteten aus Bangladesch, Eritrea, Pakistan, Somalia, dem Südsudan und Sudan auf keinen Fall wollten. Manche von ihnen waren in Libyen im Lager gewesen und beteuerten, so Mannochi, die Kontakt zu den Migranten erlangt hatte, dass sie lieber sterben würden, als in Libyen von Bord zu gehen.
Mannochi veröffentlichte auf Twitter kurze "Gesprächsprotokolle" von Verhandlungen mit den Behörden, die von den Migranten aufgenommen wurden, Bilder von den Verhältnissen an Bord und Statements.
Migranten werden als "Piraten und Entführer" eingeordnet
Es kamen Unterhändler an Bord, es gab tagelange Verhandlungen, einige verletzliche Personen durften von Bord gehen: eine Frau mit Baby und 12 andere, so Mannochi. Der Rest blieb stur. Die libyschen Vertreter, darunter auch ein Staatsanwalt, wurden ungeduldig. Dann veränderten sie ihre Vorgehensweise. Die Küstenwache würde die Migranten von nun an als Entführer behandeln und als Piraten, zitierte die italienische Journalistin einen Kommandeur der Küstenwache namens Anwar el Sharif.
Ihm zufolge war damit nicht mehr die Küstenwache zuständig, sondern das Innenministerium und Spezialkräfte. Das Passagiere an Bord, die sich weigerten das Schiff zu verlassen, waren damit Kriminelle. Das ist die Begründung für die Härte beim Stürmen des Schiffes.
Die Menschenrechtsorganisation HRW spricht von der "schlimmstmöglichen Folgerung aus den verzweifelten Bitten der Menschen an Bord der Nivin, die unbedingt eine Inhaftierung in den libyschen Lagern unter unmenschlichen Bedingungen vermeiden wollten".
Dass es zu dieser Situation gekommen sei, sei Folge der italienischen und EU-Politik, die der libyschen Küstenwache alle Macht zugesprochen und die NGOs vor der Küste vertrieben habe. Man bestehe darauf, dass Auskunft über den Verbleib der von Bord gegangenen Migranten gegeben werde.
Komplizierte Wirklichkeit
Nun laufen solche Geschehnisse in Wirklichkeit weitaus komplizierter ab, als es Statements oder Berichte wiedergeben. Eine Ahnung davon gibt etwa die Aussage des UNHCR-Sondergesandten Vincent Cocherel, die einmal andeutet, dass der Begriff "Migranten" für die Menschen an Bord oder in den libyschen Gefängnissen ganz bequem für Staatsvertreter sein kann, weil er die Ursachen der Flucht verdrängt.
Zum anderen deutet er an, dass Personen an Bord andere davon abhielten, das Schiff zu verlassen - womit die Anklage auf Entführung einen Grund finden würde. Darüber hinaus, so die in diesem Beitrag hauptsächlich zitierte Francesca Mannocchis (weil sie die meisten Informationen zum Fall nach außen gab), soll der Kapitän des Container-Schiffes mit der brachialen Aktion des Einsatzkommandos einverstanden gewesen sein, was ebenfalls auf größere Spannungen an Bord schließen lässt.
... und eine miese Informationslage
Auffallend bei allem ist eine unglaublich schlechte Informationslage. Als ob alles in einem Sandsturm stattfinden würde. Das fängt bei den einfachsten Fakten an, z.B. den Zahlen der Migranten an Bord bis zu den Daten der Rettungsaktion des Schiffes - nahezu jeder Bericht liefert seine ganz eigenen Fakten.
Bei Reuters mussten 90 Migranten von Bord gehen, wo es doch längst nur mehr 81 waren, von denen die UN-Organisation OCHA berichtet, die nicht wie bei Mannocchi am 9. November im Hafen in Misrata ankamen, sondern erst am 10. November. Bei Mannocchi wurden 78 Migranten von Bord gezwungen.
Das ist symptomatisch. Noch viel schwieriger wird es dann mit genauen Informationen etwa darüber, wo die Migranten hingebracht werden. Nach Informationen von Mannocchi ist die Rede davon, dass Migranten, die nicht ins Krankenhaus kamen, in die al-Kararim-Haftanstalt für Migranten gebracht wurden. Wie dort die Bedingungen sind, ist nicht leicht zu ermitteln.
Laut dem oben genannten UNHCR-Sondergesandten Vincent Cochetel sind die libyschen Lager in einer "tragischen Verfassung". Der Zugang für UNHCR in die Lager ist schwierig. Sie werden zum großen Teil von Milizen kontrolliert, die daraus ihr eigenes Geschäftsmodell machen.
Der Skandal
Maria Ribeiro, der UN-Nothilfe-Koordinator, zeigt sich in einem Statement "traurig" über die Ereignisse in Misurata.
Man kann es ohne Übertreibung als beschämenden Skandal bezeichnen, dass die europäischen Länder nicht einmal den ersten Schritt zu einer Verbesserung der Lage der Migranten in Libyen hinbekommen - dass sie dort menschenwürdig untergebracht sind.