"Liebe EU, es ist zu spät"
Mitten in der Pandemie fühlt sich Italien im Stich gelassen, die Ressentiments gegen die EU wachsen. Dabei liegt vieles nur an schlechter Kommunikation
Sprache ist mächtig, sie bildet die Realität nicht nur ab, sie schafft Realität. Das gilt ohne Abstriche auch für die Bühnenwelt der Finanzmärkte, zumal bei entscheidenden Auftritten. Noch so geringfügige Nuancen und Akzentuierungen können dann ein Erdbeben auslösen, das die Börsen auf Talfahrt schickt.
Die tragische Figur hieß am 12. März Christine Lagarde. Die Erwartungen an die EZB-Chefin waren hoch, die Enttäuschung nach ihrer Absage an monetäre Maßnahmen zur Bewältigung der Krise fiel nur umso größer aus und die Buh-Rufe schallten laut, besonders aus Italien. Für Dramatik hat der Stiefelstaat naturgemäß einen ausgeprägten Sinn, aber der Börsencrash, den Lagardes Worte auslösten (minus 17 Prozent an der Mailänder Börse an einem einzigen Tag), ging dann doch zu weit.
Zwar rauschten nach der EZB-Krisensitzung die Börsen weltweit in die Tiefe, auch der DAX verlor zwischenzeitlich rund 12 Prozent, in Italien aber nahm man Lagardes Absage persönlich. Ein "Whatever it takes 2.0" werde es nicht geben, sagte die EZB-Chefin und enttäuschte so den italienischen Premierminister Giuseppe Conte, der auf eine Neuauflage des expansiven EZB-Kurses Mario Draghis gehofft hatte. "Wir sind nicht hier, um die Spreads zu schließen", fügte Lagarde noch hinzu, eine Aussage, die sich tatsächlich direkt an Italien richtete.
Unter "Spread" versteht man in Italien die Zinsdifferenz zwischen deutschen und italienischen Staatsanleihen. Je näher man am deutschen Zinssatz liegt, desto besser. Die deutschen Zinsen liegen nämlich auf notorisch niedrigem Niveau, der Risikoaufschlag ist gleich null. Italien mit seinen Staatsschulden von über 130 Prozent des BIP zahlt für seine Zinsen hingegen jährlich rund 65 Milliarden Euro, das ist so viel, wie der Staat für das gesamte Schulwesen ausgibt.
Dementsprechend feindselig fielen in Italien die Reaktionen aus. Giorgia Meloni, Vorsitzende der nationalkonservativen Fratelli d’Italia (FdI), wandte sich in einem auf sozialen Medien millionenfach geteilten "J'accuse"-Video an die italienischen Bürger und beschuldigte Lagarde, den Mailänder Börseneinbruch bewusst herbeigeführt zu haben. Unter völligem Verschweigen der Tatsache, dass die Leitzinsen der EZB bereits auf Null liegen und deshalb für weitere Senkungen kein Spielraum besteht, bezichtigte Meloni die EZB der Untätigkeit und forderte Zinssenkungen nach amerikanischem und britischem Vorbild. Weil dies aber nicht gewährt worden war, argwöhnte Meloni finstere Machenschaften auf Kosten Italiens. "Sie wollen Italien in die Knie zwingen", polterte die Frau, deren Beliebtheitswerte im Februar bereits gleichauf mit Matteo Salvini lagen und deren Partei in Wahlumfragen zuletzt 13 Prozent der Stimmen erhielt.
Das unterjochte Italien
Die Absage der EZB ist nur eines mehrerer Ereignisse, die sich in den letzten Tagen im Zuge der Coronakrise nahtlos in ein Narrativ einfügten, welches Italien als ohnmächtigen Spielball der "poteri forti", also übermächtiger Eliten, und einer deutsch-französischen EU darstellt. Ausgerechnet in Italien, das bis zur Finanzkrise 2008 noch zu den enthusiastischsten Befürwortern der europäischen Integration gehörte, ist diese Sichtweise nach über zehn Jahren wirtschaftlicher Stagnation zur dominierenden Erzählung geworden, die inzwischen fast alle Medien und Parteien übernommen haben. Auch die Protestbewegung der "Cinque Stelle" richtet ihre Kritik kaum noch gegen die "casta", die privilegierte und oft korrupte italienische Politikerklasse, sondern hauptsächlich gegen ein überhebliches und unsolidarisches Europa.
Dieses Narrativ erlebte in den letzten Jahren immer wieder neuen Aufschwung: Nachdem die "gnadenlose Sparpolitik Brüssels" die italienische Wirtschaft jahrelang so gehemmt habe, dass das BIP pro Kopf heute noch immer unter jenem aus dem Jahr 2000 liegt, sei Italien auch in der Flüchtlingskrise vom Rest Europas im Stich gelassen worden.
Natürlich ist an beiden Vorwürfen auch etwas dran: Das Leitprinzip der Austerität hat der italienischen Wirtschaft in der Tat schwer zugesetzt und die umstrittene Dublin-Regulierung führte dazu, dass Italien über lange Zeit hinweg mit den Flüchtlingsströmen aus Libyen allein fertig werden musste. Kaum diskutiert wird aber die Tatsache, dass Korruption, Mafia und überbordende Bürokratie die italienische Wirtschaft weitaus mehr schädigen, als die aus Brüssel verordneten Sparmaßnahmen. Auch die Schwierigkeiten mit Flüchtlingen waren weniger auf die deutsch-französisch dominierte EU zurückzuführen, wie Salvini, Meloni & Co. behaupten, sondern vielmehr auf verbündete nationalistische Regierungen wie Polen und Ungarn, die sich gegen eine faire Aufteilung der Flüchtlinge von Anfang an gewehrt haben.
Für viele Italiener, die sich dem rechten Weltbild angeschlossen haben (aber nicht nur für sie), ist die Coronakrise jetzt nur ein weiterer Beweis dafür, dass die EU in Wirklichkeit nichts anderes als ein hohler Bürokratenverein ist, den stärkere Mitgliedsstaaten wie Deutschland oder Frankreich dazu nutzen, eigene Interessen durchzusetzen. Wie sonst wäre das tage-, ja wochenlange Schweigen der EU-Institutionen zu erklären gewesen, während Italiens Nachbarstaaten Anfang März einseitig Grenzen schlossen und manche Staaten wie Deutschland sogar den Export von medizinischem Material in bedürftige EU-Staaten untersagten und somit faktisch das europäische Prinzip des freien Warenverkehr unterwanderten? Erst am 11. März, sobald auch andere Staaten zunehmend vom grassierenden Virus angeschlagen waren, kritisierte die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen die Exportverbote und rief dazu auf, solche Praktiken zu unterlassen.
Apropos Deutschland: Das steht in Italien aufgrund seines Umgangs mit dem SARS-CoV-2-Virus besonders in der Kritik. Verdächtig sind den Italienern vor allem die deutschen Zahlen: Wie ist es möglich, dass in Deutschland 6.012 laborbestätigte COVID-19-Fälle (Stand 16. März) bekannt sind, während sich die Todesfälle bislang nur auf 13 beliefen? Heruntergerechnet ergäbe das eine Mortalität von rund 0,2 Prozent. Italien hat währenddessen mit 27.980 bestätigten Krankheitsfällen zu kämpfen, von denen 2.158 bereits gestorben sind. Daraus würde eine Letalität von 7,7 Prozent resultieren, 38 Mal (!) höher als in Deutschland.
Erklärbar wären die kuriosen Unterschiede eigentlich nur dadurch, dass Deutschland mindestens 38 Mal mehr Tests als Italien durchführt. Das ist aber unwahrscheinlich - und auch kaum zu überprüfen, da Deutschland als einer der wenigen Staaten die Anzahl der durchgeführten Tests nicht zentral erfasst und veröffentlicht.
Europa-Abgeordnete der FdI vermuten hinter der krassen Disparität deshalb ein System und reichten vor einer Woche eine entsprechende Anfrage ein, um Klarheit über das Rätsel zu gewinnen, wobei sie sich die Antwort kurzerhand selbst lieferten: "Es besteht der Verdacht, dass man in Deutschland zwar an Covid-19 erkrankt und stirbt, aber dass dies die Behörden nicht wissen - oder dass sie es nicht sagen".
Die EU braucht mehr Symbolpolitik
In dieser Misere und von den europäischen Partnern im Stich gelassen, eilte Italien ein unwahrscheinlicher Retter zur Hilfe. Ausgerechnet ein Ärzteteam aus China landete am 12. März am Flughafen in Rom und hatte über 30 Tonnen an medizinischem Material, samt Masken und Reanimationsgeräten, im Gepäck.
Die Aktion wurde schon mehrere Tage zuvor vom Außenminister Luigi Di Maio medienwirksam angekündigt und schlug unmittelbar hohe Wellen: "Freunde erkennt man in der Not" titelte das Online-Portal OPEN des linken Starjournalisten Enrico Mentana. "Danke! Im Gegensatz zu Europa zeigt ihr euch solidarisch!", war in den Kommentaren unter einem entsprechenden Facebook-Post der chinesischen Botschaft zu lesen.
Während Di Maio die Lieferung als solidarische Hilfsmaßnahme der chinesischen Regierung propagierte und diese Version von zahlreichen italienischen Medien genauso aufgegriffen wurde, deckte die mitte-rechts positionierte Zeitung IL FOGLIO auf, dass die Lieferung aus China in Wirklichkeit über die Vermittlung privater Stiftungen vom italienischen Staat beauftragt und gezahlt wurde. Chinas Wohlwollen gegenüber Italien bestand allenfalls darin, es als erstes zu beliefern - zeitgleich mit Italien hatte nämlich auch Frankreich Schutzmasken und medizinisches Material angefragt. Abgesehen davon, so stellte Il Foglio fest, handele es sich bei den betreffenden Lieferungen gemessen am Gesamtbedarf um allenfalls symbolische Mengen.
Doch zu spät: Die Richtigstellungen gingen in der italienischen Berichterstattung unter und China bereitet im Moment schon den nächsten PR-Streich vor: Rund 400 Ärzte und Krankenpfleger sollen demnächst nach Norditalien geflogen werden, um die italienischen Kollegen und Kolleginnen zu unterstützen. Gut für China, schlecht für das Image der EU.
Da ist es eigentlich kaum noch relevant, dass sich am 11. März die EU-Kommissionschefin Von der Leyen erstmals umfassend zu Italiens Lage geäußert hat, und zwar sogar auf Italienisch: "In questo Momento in Europa siamo tutti italiani" (Jetzt sind wir in Europa alle Italiener). Dazu versprach sie angesichts der kritischen Lage mehr Flexibilität in Hinsicht auf Bilanzdefizite und stellte 25 Milliarden an Hilfsgeldern in Aussicht, um betroffene Mitgliedsstaaten im Kampf gegen das Virus zu unterstützen.
Die Reaktion der Italiener? Verhalten, wenn nicht sogar feindselig. In den Kommentarspalten unter den entsprechenden Berichten überschlugen sich - unabhängig von der politischen Färbung des jeweiligen Mediums - skeptische und hämische Kommentare: "Verarschen die uns jetzt? Der Patient Null kam aus Deutschland, daraufhin verheimlichen sie ihre Fälle, damit wir letztendlich als die Verseuchten dastehen, und jetzt machen sie sich auch noch lustig." Oder etwas sachlicher: "Liebe EU, es ist zu spät. Wir sind schon seit 15 Tagen in Quarantäne und mussten uns allein durchschlagen. Noch nie zuvor haben wir uns so im Stich gelassen gefühlt. Aber wir werden wieder auferstehen - mit oder ohne Sterne auf blauem Hintergrund."
Zweifellos sind Milliarden Hilfsgelder aus der EU und flexiblere Richtlinien bezüglich der Staatsausgaben in ihrer Konsequenz hilfreicher als die eher symbolischen Hilfslieferungen aus China. Aber solange das nicht auch wirksam kommuniziert wird, ist für die europäische Zukunft wenig gewonnen. Jeder ernstzunehmende Ökonom weiß, dass Italien ohne EU-Mitgliedschaft wirtschaftlich ruiniert wäre. Das ist auch der Grund, weshalb rechtsradikale Politiker wie Matteo Salvini im Wahlkampf erst den EU-Austritt fordern und sich dann, sobald sie in der Regierung sind, auf Rhetorik beschränken. Wenn aber jetzt im Zuge der Coronakrise das PR-Feld gänzlich der chinesischen Regierung und einheimischen Rechtspopulisten überlassen wird, könnte das für den Status Italiens innerhalb der EU noch unvorhergesehene Folgen haben.