Liefert der Plattformkapitalismus das Ferment einer neuen Vorkriegszeit?

Seite 2: Meinungsmärkte

Würden Sie denn auch das Phänomen Trump darauf zurückzuführen? Der ist ja über Twitter groß und bekannt geworden und hat alle Unterschiede verschwimmen lassen: Spricht er die Wahrheit, lügt er, schwindelt er? Es war ihm auch offenbar vollkommen egal, Hauptsache, er konnte mit dem Gesagten das Publikum beeinflussen.

Joseph Vogl: Also Trump interessiert mich da weniger als ein Phänomen, das über längere Zeit hinweg verfertigt wurde und in dieser eigentümlichen Gestalt eine Verkörperung gefunden hat. Aber wichtig ist schon, dass dazu bestimmte Bedingungen gehörten, die nicht beiläufig sind. Eine wichtige technologische, aber auch wichtige juristische Bedingung ist Mitte der 1990er-Jahre in den Vereinigten Staaten ein neues Informationsgesetz zur radikalen Privatisierung der digitalen Netzarchitektur gewesen.

Privatunternehmen und deren Investoren wurden unter der republikanischen Regierung und aber auch unter den demokratischen Regierungen radikal gegenüber öffentlichen Dienstleistungen bevorzugt. Ein zweiter Punkt ist der inzwischen berühmte Paragraf 230 des Communication Decency Act, was eine interessante, man kann fast sagen eine groteske Angelegenheit in den Vereinigten Staaten gewesen ist.

Das Ganze geht zunächst auf die Sorge der Republikaner in den Vereinigten Staaten zurück, dass im Internet nur noch Pornografie vertrieben werde. Also haben sie ein Gesetz zur Begrenzung der Pornografie in digitalen Netzwerken eingereicht, das aber natürlich vom Supreme Court mit dem Hinweis auf das First Amendment, also auf Meinungs-, Versammlungs- und Redefreiheit, kassiert wurde.

Es gab dann eigentümliche Gerichtsentscheidungen, die sich widersprochen und keinen gemeinsamen Nenner gefunden haben. Es gab etwa einen Internetprovider, der wegen Verleumdung angezeigt und verurteilt wurde, weil er selbst redaktionelle Eingriffe in die eingestellten Inhalte vorgenommen hat. Ein anderer Internetprovider wurde wegen Verleumdung angezeigt und deswegen freigesprochen, weil er keinerlei redaktionelle Bearbeitung geleistet hat.

Vor diesem Hintergrund wurde ein neues Gesetz von Republikanern und Demokraten zusammen gemacht. Dieses Gesetz war ein wichtiger Stein, der auch sichtbar macht, dass kleine rechtliche Entscheidungen durch bestimmte technologische und ökonomische Katalysen große Effekte haben können. Dieses Gesetz besagt, dass Internetprovider keine Verleger sind, sondern bloße Zwischenträger oder Intermediäre. Sie tragen selbst keinerlei Verantwortung für die von Dritten bei ihnen eingestellten Inhalte.

Damit wurde eine völlig neue Öffentlichkeit erzeugt, die man vielleicht aphoristisch so zusammenfassen könnte: Wer publiziert, trägt keine Verantwortung, wer aber Content verantwortet, publiziert nicht. Das ist die neue Situation, man kann sie mit dem Begriff des Haftungsprivilegs bezeichnen. Facebook nennt sich selbst den größten Publisher der Welt, hat aber keinerlei rechtliche Verantwortung gegenüber dem, was dort tatsächlich publiziert wird.

Vor diesem Hintergrund, d.h. vor einer Radikalisierung des Meinungshaften auf diesen Plattformen, sind dann mit bestimmten technologischen Bedingungen, mit bestimmten Feedback-Loops, die eingerichtet worden sind, sofort diese Meinungsmärkte entstanden, deren Auswirkungen Sie am Beispiel von Trump etwa angedeutet haben.

"Nicht jede Vorkriegszeit muss in eine Kriegszeit übergehen"

Jetzt noch zu Ihrem letzten Satz in dem Buch, der aber nicht weiter ausgeführt wird. Sie schreiben: "Es ist nicht ausgeschlossen, dass es" - also der Plattformkapitalismus mit seinen Folgen - "das Ferment einer neuen Vorkriegszeit liefern wird." Was wollen Sie damit andeuten?

Joseph Vogl: Zunächst ist es eine rhetorische Figur, die sich atropäisch nennt. Atropäische Figuren sind Feststellungen, die den Zweck haben, dass das Gegenteil dessen, was gesagt wird, eintritt. So ist es konzipiert und nicht zuletzt deswegen auch der letzte Satz, auf den ich zwangsläufig immer wieder angesprochen werde.

Das andere ist, dass man sich natürlich die Frage vor dem Hintergrund dessen, was wir diskutiert haben und darüber hinaus, stellen könnte: Was würde eigentlich Vorkriegszeiten kennzeichnen? Ich spreche nicht von Kriegszeit und nicht jede Vorkriegszeit muss in eine Kriegszeit übergehen. Ich habe dabei indirekt auf einen der interessantesten Romane der Vorkriegszeit Bezug genommen, der die Vorkriegszeit analysiert, nämlich Robert Musils Mann ohne Eigenschaften.

Kurz vor dem Satz, den Sie zitierten, kommt übrigens ein verdecktes Zitat wiederum aus Musil vor, das sagt: Es könnte gut sein, dass in Kakanien, also in Österreich-Ungarn, die Abneigung aller gegen alle nicht nur zu einem Geschäftsmodell, sondern auch zu einem neuen Gemeinschaftsgefühl geworden ist. Das charakterisiert eine Vorkriegszeit in einer gewissen Weise.

Aber was würde noch dazu gehören? Zu Vorkriegszeiten würden sich zuspitzende Nationalismen gehören. Das kann man im Augenblick beobachten. Zu Vorkriegszeiten würden galoppierende Rüstungsentwicklungen und eine Zuspitzung von militärischen Konflikten gehören. Das kann man im Augenblick beobachten. Zu Vorkriegszeiten würde gehören, dass lange gültige internationale Verträge oder Organisationen gekündigt werden.

Das kann man im Augenblick beobachten - vom Klimaabkommen bis hin zur EU und den Austrittsbewegungen. Zu Vorkriegszeiten würde gehören, dass sich Gesellschaften einer eigentümlichen Neigung zur Tribalisierung hingeben, also sich gewissermaßen partikularisieren. Das kann man beobachten.

Die Verbreitung von politischen Schismen aller Art unter der Bedingung des Verlustes eines Horizonts an Gemeinsamkeit ist jedenfalls selbst zu einem Gegenstand der öffentlichen Diskussion geworden. Deswegen, glaube ich, lässt sich dieser Satz unmittelbar im Vollzug dessen, was die Gegenwart an sich selbst beobachtet, wiederentdecken. Nicht mehr und nicht weniger.

Also mir fiel dazu auch auf, dass seit einigen Jahren der Begriff der Desinformation nicht nur als Bestandsaufnahme zirkuliert, sondern dass man auch aktiv versucht, Desinformation zu bekämpfen. Es herrscht eine Art Vorkrieg um die Köpfe. Man spricht ja auch entsprechend von einer Munitionierung der Information.

Joseph Vogl: Das ist ein ganz wichtiger Punkt, dass gezielte Desinformation zur Signatur des Kriegs und der Kriegsführung gehört. Im Grunde seit es Kriege gibt und theoretisch seit Clausewitz. Dass hier kriegerische Informationstechnologien im zivilen Bereich radikal und rabiat angewendet werden, ist ein weiteres Indiz. Da haben Sie völlig recht.