Liefert der Plattformkapitalismus das Ferment einer neuen Vorkriegszeit?
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Interview mit Joseph Vogl über Finanzkapitalismus, Big Data, Fakes, Kybernetik und die Konsequenzen der Verwandlung von Welt in Information
Joseph Vogl ist ein Literatur- und Medienwissenschaftler mit großem Horizont. Seine Analysen der Gegenwart finden viel Beachtung, da er Machtverhältnisse und Entwicklungen mit einem ungewöhnlichen und scharfem Blick untersucht, dem ein weitgefächertes Wissensfeld zugrunde liegt. Florian Rötzer sprach mit ihm über Finanzkapitalismus, Big Data, Kybernetik und der Konsequenzen der Verwandlung von Welt in Information.
Wie würden Sie denn die Ökonomie vom Kapitalismus grundsätzlich unterscheiden? Das ist ja auch für Ihr neues Buch entscheidend, wo Sie zeigen, wie sich das Ökonomische in den Kapitalismus und schließlich in den Finanzkapitalismus verwandelt.
Joseph Vogl: Der Begriff des Kapitalismus selbst ist sehr spät geprägt worden, er taucht bei Marx noch nicht auf, sondern erst später bei Max Weber oder Werner Sombart Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Dieser Begriff des Kapitalismus bezieht sich, wo er zum ersten Mal einigermaßen terminologisch genau verwendet wird, nicht einfach nur auf ein rätselhaftes Verhältnis zur Welt oder eine bestimmte Form der Rationalität, auch nicht nur auf bestimmte Geschäftsmodelle oder auf bestimmte Bereiche, Dynamiken, Unternehmensformen oder Rechtssysteme, sondern auf ein sehr heterogenes Konglomerat der unterschiedlichsten Faktoren, in dem aber beispielsweise Mentalitäten oder Affekte eine eminente Rolle spielen.
Interessant ist, dass diejenigen, die anfingen, über den Kapitalismus nachzudenken, gleichzeitig auch immer auf bestimmte Irrationalitäten dieses Akkumulationssystems Bezug nahmen. Bei Max Weber ist es der protestantische Geist, bei Werner Sombart ist es eher der Katholizismus der oberitalienischen Stadtstaaten. Und wenn man weiter zurückgeht, wird selbst bei Karl Marx der Kapitalismus, der von ihm noch nicht so genannt wird, also dieses Bereicherungs- und Akkumulationssystem, immer wieder in Anleihen an religiöse Termini beschrieben: Gott, Geldgott oder der Warenfetisch etc.
Das wäre eine erste wichtige Differenzierung, dass das, was man Kapitalismus nennt, bestimmte Irrationalitäten hervorbringt, ohne diese wäre die systemimmanente Unvernunft eigentlich nicht begreifbar.
Kybernetik: neuer wissenschaftlicher Taktgeber
Sie sagen, der Finanzkapitalismus sei erst durch die Kommunikationstechnologie, also durch die digitale Technik, zum Durchbruch gekommen. Das ist dann wohl so in den 1970er-Jahren geschehen. Da gab es auch eine interessante Episode in Chile unter Allende. Dort wurde ein erster Versuch gemacht, über ein Computer- und Fernschreibersystem eine Planwirtschaft in einem bestimmten Bereich herzustellen, also den Markt auszuschalten. Wenn der Markt ausgeschaltet ist, sollte der Kapitalismus nicht mehr funktionieren können. Das Experiment wurde 1973 mit dem Putsch von Pinochet mit Unterstützung der Neoliberalen aus den USA beendet, selbst das Gebäude, in dem sich die Zentrale des Systems befand, wurde zerstört. Ist das vielleicht eine symbolische Episode dafür, wie sich der Finanzkapitalismus durchsetzen und entwickeln konnte?
Joseph Vogl: Zunächst einmal ist die Verbindung von Informations- und Kommunikationstechnologien auf der einen Seite und Kapital und Finanzmärkten auf der anderen Seite eine sehr alte Verknüpfung. Sie entstand bereits im ausgehenden Mittelalter mit dem Handelskapitalismus, als die großen Stadtstaaten wie Genua, Venedig oder dann Florenz zu großen Kreditgebern geworden sind. Seit dieser Zeit kann man eine parallele Entwicklung des Finanzwesens auf der einen Seite und der Kommunikationstechnologien auf der anderen Seite bemerken.
Das geht von Postreitern und Brieftauben über die optische, elektrische und elektromagnetische Telegrafie und die Telefonie bis hin zur Freigabe des World Wide Web für Finanztransaktionen. Diese Symbiose ist dem ganz einfachen Sachverhalt geschuldet, dass ein Zeitvorsprung gleichzeitig ein Informationsvorsprung ist und Profitmöglichkeiten bietet.
Die Entstehung von Finanzzentren auf der einen Seite läuft parallel zur Entstehung von Pressezentren auf der anderen Seite. Am deutlichsten konnte man das beispielsweise in London und später in New York bemerken. Diese Verbindung ist sehr eng, befruchtet sich wechselseitig und hat auch dazu geführt, dass nicht zuletzt Bankiers, Handelshäuser und Börsen wichtige Propagatoren für kommunikationstechnische Innovationen gewesen sind. Das reicht bis zu heutigen Plattformunternehmen, die neue Unterseekabel, beispielsweise Glasfaserkabel, finanzieren.
Dieses durchaus interessante Experiment in Chile, unter anderem ja von Stafford Beer, einem britischen Kybernetiker mitorganisiert, ist zunächst einer anderen Konjunktur geschuldet, die später durchaus in das Finanzwesen Einzug hielt, nämlich die große Konjunktur der Kybernetik seit den 1950er- und 60er-Jahren. Von dieser Konjunktur waren die sozialistischen Länder genauso infiziert wie der Westen. Ein Beispiel war eben die Allende-Regierung und der Versuch, den Warenfluss und damit die Produktionskapazitäten zu erhöhen.
Ähnliches ist durchaus auch in der DDR passiert. Die Neue Ökonomische Planwirtschaft unter Ulbricht hat versucht, eine technologische Innovation in den Kreislauf zwischen Produktion und Konsumtion einzubauen. Eine der großen Kybernetiker, Georg Klaus, ist DDR-Hochschullehrer gewesen. In der DDR sind auch reihenweise Bücher über die Kybernetik in der Pädagogik, in der Psychologie etc. erschienen.
Es gab mit der Kybernetik einen, wenn man so will, neuen wissenschaftlichen Taktgeber. Die Kybernetik reichte von der Militärtechnologie, also beispielsweise Radarsystemen und Abschusssystemen über die unterschiedlichsten biologischen, psychischen und sozialen Systeme bis hin eben zur Frage der Regulierung und der Steuerung der Ökonomie. Diese Projekte sind ephemer geblieben.
In Chile waren es der Putsch von Pinochet und mit den Neoliberalen aus Chicago das Auftauchen einer ganz anderen Wirtschaftsordnung, die das erste Mal Tabula rasa mit Gewalt geschaffen haben. In der DDR ist das klanglos untergegangen, nicht unbedingt zum Vorteil der DDR-Wirtschaft. Aber das waren zunächst einmal unterschiedliche Konjunkturen.
Auf der einen Seite ein hochentwickeltes Finanzwesen und dessen Suche nach kommunikationstechnologischen Innovationen und auf der anderen Seite ein neues wissenschaftliches Paradigma, das auch für die sozialistischen Staaten zur technokratischen Optimierung von Steuerungssystemen relevant geworden ist.
Die Verwandlung von Welt in Information
Es gab in den letzten Jahren Überlegungen von chinesischen Wissenschaftlern, die sagen, dass beim jetzigen Stand der Dinge, wo wir in Echtzeit Milliarden von Menschen, Dingen und Produktionsfaktoren zusammenschalten können, die Möglichkeit bestünde, eine marktlose Gesellschaft oder Wirtschaft aufzubauen, also den Kapitalismus endgültig zu überwinden. Würden Sie denn das auch so sehen?
Joseph Vogl: Das sind sehr erfreuliche Feststellungen, die natürlich radikal dystopischen Charakter haben. Ein erster wichtiger Schritt, damit diese Fantasien, die ja dabei sind, aus dem embryonalen Zustand in den Verwirklichungszustand zu treten, die beste aller möglichen Informationsquellen beispielsweise, ist die Verwandlung der Welt in Information.
Zweitens, und das ist in autoritären Staaten wie China nicht so sehr viel anders wie in radikal kapitalistischen Ländern wie den USA, geht es dabei um die Verwandlung von öffentlichen Infrastrukturen in unternehmerische Infrastrukturen auf der Basis von Weltinformationslagen.
Und in einem dritten Schritt, und das ist gewissermaßen die dystopische Eskalation des Ganzen, funktioniert das Ganze unter der Voraussetzung, dass Big Data zusammen mit der Verwandlung von Sozialstrukturen in Unternehmensstrukturen dazu führt, dass jedes mögliche soziale Problem eine unternehmerische Lösung erhalten kann. Das heißt also eine Verfahrensweise, die man inzwischen auch Solutionismus nennt.
Die sogenannte Politik der Solution geht davon aus, dass Gesellschaft über Informationstechnologien und über unternehmerische Strukturen so transparent gemacht werden kann, dass sich jedes auftauchende Problem mit der Bewältigung von Big Data und deren Korrelationen auflösen lässt.
Das setzt aber die Quantifizierung von allem voraus.
Joseph Vogl: Das setzt die Verwandlung von Welt in Information voraus.
Wie verstehen Sie Information? Information als digitale Information von 0 und 1 oder als etwas, was darüber hinausgeht?
Joseph Vogl: Wichtig ist ja, dass unter dieser Bedingung das, was man in einem weichen und breiten Begriff von Information auch News oder Nachrichten, aber auch Wissen nennen könnte, nur unter der Bedingung implementiert werden kann, dass es tatsächlich den informationstechnologischen Standard in Nullen und Einsen in irgendeiner Weise gehorcht. Information ist das Zusammenschalten von Äußerungsformen jeder möglichen Art unter der Bedingung, dass sie technologisch operativ analysierbar sind.
Und da bleibt zuletzt etwas übrig, was man die Überraschungsdifferenz nennen könnte. Information in dieser Hinsicht ist die Irritation von Erwartungshaltungen, in einem technischen System genauso wie in einem psychischen System. In einem technischen System ist Information das, was Differenz erzeugt.
Gregory Bateson sagte, das ist die Differenz, die eine Differenz macht. Und in psychischen Systemen ist es das, was überrascht, ganz platt gesagt. Vor diesem Hintergrund hat natürlich die Aussage: "Die Erde ist platt wie eine Pizza" einen höheren Informationswert als die seltsame Vermutung, die Erde könnte rund sein.
Hochfrequenzhandel: Risikofrei Gewinne machen
Offenbar ist das Prinzip der Geschwindigkeit dabei ganz entscheidend. Je schneller Daten verarbeitet werden, desto besser können Profite erzielt werden. Diese Maschinen mit ihren Algorithmen arbeiten gegeneinander und erzeugen so einen neuen Markt, der nicht mehr von Menschen kontrolliert wird. Wer profitiert denn eigentlich davon? Das ganze Konstrukt ist doch sehr seltsam und bizarr.
Joseph Vogl: Sie meinen jetzt die Eskalation der Finanzmärkte?
Ja, genau. Die Hochfrequenzmärkte, wo es ganz schnell in Millisekunden geht und die Menschen nicht mehr mitentscheiden können und ihre Handlungs- und Entscheidungsmacht abgegeben haben.
Joseph Vogl: Na gut, in dem Fall ist die Antwort sehr einfach. Es geht um ausgefeilte, man könnte auch sagen strategisch oder kriegerisch ausgefeilte Technologien der Bereicherung. Wer näher an der Wall Street sitzt, macht schneller das, was man heute ajutage nennt, einen Gewinn, der gewissermaßen risikofrei ist. Die großen Rechenzentren befinden sich eben in New Jersey, damit die Leitungen kürzer sind und man auch noch physikalische Vorzüge in Rechnung stellen kann. Und Hochfrequenzhandel ist zum Beispiel eine der Branchen, in denen man risikofrei Gewinne machen kann.
Verschwinden der Tatsachen
Sie stellen auch die These auf, dass mit dem Finanzkapitalismus und der Spirale, die daraus entstanden ist, sich ein Verschwinden der Tatsachen ergibt. Wir landen in einer Welt, in der es keine Tatsachen mehr gibt, in der wir nichts mehr begründen müssen, in der wir nicht mehr erklären müssen, sondern in der wir Hypothesen setzen und schauen, was dabei rauskommt. Das ist ein bisschen so wie der Spruch: Fake it, till you make it. Was ist denn Ihre Erklärung, dass wir immer mehr in diese Fake-News-Spirale hineingeraten und der Wahrheitsanspruch verschwindet? Ist es das, was Sie sagen wollen?
Joseph Vogl: Nicht genau. Ich beziehe mich zunächst auf eine Geschichte in der Entwicklung der Finanzökonomie selbst, verbunden mit der Frage, unter welchen Bedingungen sich so ein Überkreuzverhältnis ergeben konnte, also eine Informatisierung der Finanzökonomie einerseits und andererseits eine Finanzialisierung der Information. Dazu gehören bestimmte dogmatische Bedingungen. Zum Teil haben wir das bereits angesprochen.
Wichtig scheint mir zu sein, dass in den 1960er- und 1970er-Jahren gerade in den Finanzmarkttheorien der Begriff des Wissens eher zurücktritt, selbst bei Autoren wie Friedrich Hayek. Demgegenüber treten ganz in der Konjunktur dieser Zeit, also auch der kybernetischen Kultur, Informationsbegriffe in den Vordergrund und wird der Finanzmarkt als ein perfektes Informationsverarbeitungssystem beschrieben.
Das heißt, was man nicht vergessen darf, dass damit ältere Unterstellungen fortleben, also dass der Markt unter idealen Bedingungen einen Ausgleich oder ein Gleichgewicht produziert, dass aber gleichzeitig die Finanzökonomie auf andere Formen der Recherche oder Erkenntnis dessen, was ein Finanzwert ist, verzichten kann.
Die These ist also, dass bei diesen Theorien, die man meistens mit dem Begriff der effizienten Markthypothesen zusammenfasst, alle zirkulierenden Preise, die für Finanzprodukte sichtbar werden, alle Informationen zu ihrem Wert und ihrer Wertentstehung enthalten. Sie enthalten alle Einschätzungen von Marktteilnehmern, die Einschätzungen von Einschätzungen etc..
Man braucht also nichts als den Preis zu kennen und hat ein perfektes Informationspaket vor sich und entscheidet dann mit einem Kauf, der wiederum den anderen Marktteilnehmern Information liefert, nämlich meine eigenen Vorzüge in diesem Markt.
Diese Theorien sind Voraussetzung, dass Finanzmärkte mehr und mehr automatisiert werden können. Zunächst geschah dies durch elektronische Handelssysteme, die noch mit Telefon funktionierten, dann spätestens seit den 1990er-Jahren auch in der digitalen Infrastruktur. Und wichtig ist, um der Beantwortung Ihrer Frage näherzukommen, dass diese Preise die Information sind, dass Preise gleich Information ist, und dass deswegen auf alle anderen Begründungsverfahren verzichten werden kann, zum Beispiel auch auf das, was die Ökonomen Fundamentalanalyse nennen.
Was macht ein guter Buchhalter, wenn er wissen will, wie sich eine Aktie entwickeln könnte? Dann schaut er sich die Aktiengesellschaft an, welche Kapitalbestände, welche fixen Kapitalien sind da, welche Kapitalreserven gibt es? Wie ist die Kaufkraft in einem bestimmten Umfeld? Wie sieht diese Kaufkraft aus? Gibt es Lohnentwicklungen, die für oder gegen das Unternehmen sprechen? Gibt es Standortvorteile und -nachteile? Und so kommt plötzlich dieser Buchhalter vom Hundertsten ins Tausendste, um eventuell dann die Prognose abzugeben: Die Aktie musst du kaufen.
Dieses konservative Modell, das ja durchaus einen gewissen dogmatischen Stand in den Wirtschaftswissenschaften hat, wird gewissermaßen eingeklammert zugunsten einer Bewertungslogik, die ausschließlich von Finanz- und Börsenmärkten herrührt. Und da spielt die Differenz zwischen einem Faktum und einer Meinung, zwischen einer Nachricht und dem, was in der Nachricht steht, zwischen einem Gerücht oder einer wissenschaftlichen Feststellung keine Rolle mehr. Ich sage gerade nicht, dass Fakten, Wissen oder Recherchen keine Rolle mehr spielen, sondern dass in diesem Begriff der Information der Unterschied nicht mehr gemacht wird.
Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Meine These in diesem Buch ist, dass diese Bewertungslogiken, die automatisiert, algorithmisiert und maschinisiert werden können, ein Weichbild für das darstellen, was später in den sogenannten Meinungsmärkten, das heißt auch in sozialen Medien und deren Algorithmisierung von Äußerungsformen, geschieht.