Literaturnobelpreis für Bob Dylan
Dylan erhält den Preis "für seine poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Songproduktion
Zugegeben, der Text von Tom Appleton war bereits am 7.10.2010 auf Telepolis veröffentlicht worden. Damals unter dem Titel: "Hat wieder nicht geklappt mit dem Nobelpreis für Bob Dylan". Appleton fügte hinzu: "Schade! Es wäre jedenfalls mal was Neues gewesen." Jetzt hat sich die Schwedische Akademie zu dem Neuen durchgerungen und Bob Dylan den Literaturnobelpreis verliehen: for having created new poetic expressions within the great American song tradition". Appletons Würdigung von 2010 passt nun erst recht. Dazu auch vom selben Autor: Ach, Bob. Die Redaktion
Ein krächzender älterer Herr mit Willy DeVille Schnurrbärtchen und Zwei-Gallonen Cowboy-Hut, der, statt vor dem Papst, nun eben vor König Carl Gustav von Schweden aufspielt. Zusammen mit seiner nicht ganz echten bucharest tsigane Truppe1. Fake natürlich, pures Theater. Es sollte eben alles nur so haidukenhaft wirken.
In dem das Album begleitenden Interview mit dem Musik-Journalisten Bill Flanagan, das sich auf Dylans Webseite findet sagt Dylan eine Menge zitierenswerte Dinge, die ihn als einen zitierenswerten Herrn mit ernsthaften Ansichten vorführen. Er hat sogar Barack Obamas einfühlsames Selbstportrait, "Dreams from My Father" gelesen und dafür gute Worte gefunden. Das ganze klingt wie eines jener berühmten Literaten-Interviews aus dem Paris Review. Es wird also wirklich Zeit, dass er ihn bekommt. Wer? Dylan. Wen? Den Preis.
Natürlich nicht, wie ich meine, für die graue Autobahnmusik, die er in den letzten anderthalb Jahrzehnten dahingepludert hat. Songs zum Immerwieder-WEG-Hören. Cut-up-Texte, hingeraffelt, nicht: "wie im Schlaf" sondern tatsächlich "im Vollschlaf". Ohne jedes Wachbewusstsein.
Nein. Wofür Dylan seinen Lyrik-Nobelpreis verdient, verdient hätte2, es wird immer klarer, ist: für sein erstaunliches Jugendwerk, das seine Haltbarkeit seit nunmehr 50 Jahren unter Beweis gestellt hat.
Soeben hörte ich beispielsweise - erstmals einigermaßen vollständig - das Folksinger's Choice Album, eine Aufnahme, die nun, wie auch der Spiegel zu berichten wusste erstmals offiziell und legal als CD erscheint wie überhaupt so manches von Dylan - in diesen Tagen.
"Folksinger's Choice" ist eine Aufnahme, die kurze Zeit nach seinem ersten Album entstand, am 11. März 1962. Dylan war damals gerade 20 Jahre alt. Das Interview für die New Yorker Radio Station WBAI-FM führte die Folksängerin Cynthia Gooding. Sie war zu diesem Zeitpunkt 37 und hatte bereits eine Karriere mit mehreren Schallplatten hinter sich. Zufällig fanden sich unlängst auf einer Webseite ein paar Leute zusammen, die ihre Erinnerungen an diese Frau und sogar ein Foto von ihr von irgendwoher hervorkramten. Gooding scheint mit einem Perser oder Türken verheiratet gewesen zu sein, denn ihre beiden Töchter - auch das brachten die ehemaligen Nachbarn zu Tage - hießen Ayshe und Leyla. Gooding starb 1988, an Krebs. Heute wäre sie 85, wenn sie noch lebte.
Das Schöne an diesem Interview ist, einerseits, dass Cynthia Gooding wirklich "vom Fach" ist, und sofort kapiert, dass sie es hier mit einem Ausnahme-Talent zu tun hat. Ihre Bewunderung für Dylan ist echt, ihre Ermunterung warmherzig und humorvoll. Daneben schwingt allerdings auch ein erotisches Gekicher mit, in diesem kalten Studio - Dylan beschwert sich sogar einmal, dass ihm die Finger steif werden - und die ganze Szene erinnert durchgängig ein wenig an einen Comedy Sketch, "At the Doctor's", von Elaine May und Mike Nichols. Leider findet sich keine Aufnahme davon bei Youtube, aber was den Humor der beiden auch Jahrzehnte später noch ausmachte, kann man an dieser Aufnahme erkennen.
Bei der alten May & Nichols Aufnahme geht es darum, dass ein Patient sich bei einer Ärztin untersuchen lässt, aber er ist kerngesund. Die Ärztin sagt, "Ich kann nichts finden, was Ihnen fehlt. Aber wenn Sie ganz sicher sein wollen, kommen Sie doch noch mal zu einer Nachuntersuchung. Sagen wir - in einer halben Stunde?" Und ein sehr ähnliches Element schwingt auch mit in dieser Studio-Aufnahme zwischen Bob Dylan und Cynthia Gooding.
Damals, als Dylan's erste Platte erschien, unter dem lapidar schlichten und zugleich bombastischen Titel "Bob Dylan" hatte sie auf viele Folksänger in England und Amerika eine durchaus unglaubliche Wirkung - so als ob eine Bombe in ihren Hinterhöfen eingeschlagen wäre. Oder in ihren Hinterköpfen. Das Erlebnis lässt sich heute, knapp 50 Jahre später, nicht mehr ganz in der gleichen Weise nachempfinden. Aber das Cynthia Gooding Tonband erlaubt uns einen Einblick, wie Dylan zu diesem Zeitpunkt auf viele seiner Zuhörer gewirkt haben mag. Es war ein pures Erstaunen. Reine Begeisterung.
Am 26. Oktober 1963, also anderthalb Jahre später, tritt Dylan live in der Carnegie Hall in New York auf3. Rund die Hälfte dieses Konzerts ist seitdem häppchenweise auf verschiedenen legalen Scheiben erschienen. Auf den seit Jahrzehnten zirkulierenden Bootlegs hört man die fehlende Hälfte und das Ganze eher im Zusammenhang. Es ist eine ganz offensichtlich zur Veröffentlichung gedachte Aufnahme vor größerem Publikum gewesen, bei der Dylan den Rapport mit seinen Zuhörern aktiv suchte und fand, er hatte seine Technik verfeinert, und sein Repertoire komplett im Griff. Warum diese Aufnahme damals nicht erschienen und bis heute nicht komplett vorgelegt worden ist - darüber lässt sich bestenfalls rätseln.
Vielleicht verhinderte die einen Monat später, am 22. November 1963, erfolgte Kennedy-Ermordung eine Veröffentlichung. Oder vielleicht meinte man, einer amerikanischen Öffentlichkeit damals - ein Jahr nach der Kuba-Krise vom 22. Oktober 1962 - nicht eine Schallplatte zumuten zu können, auf der Dylan an einer Stelle lobende Worte für Kuba fand? Und wo - schrecklicher noch - das Publikum an genau der Stelle, als das Wort "Kuba" erwähnt wurde, begeisterter Beifall ertönte! Nun, dann hätte man eben diesen einen Song ("Who Killed Davey Moore?") heraus schneiden müssen. Doch gerade dieser Song erschien 30 Jahre später problemlos auf einer der offiziellen "Bootleg"-Sammlungen, andere Songs dagegen nicht. Für mich gehört der gesamte Carnegie Hall-Auftritt zu den unverzichtbaren Kostbarkeiten seiner Diskographie. Das Publikum war offensichtlich und sehr zu Recht komplett begeistert. Der Beifall an manchen Stellen des Konzerts, etwa nach "The Lonesome Death of Hattie Carrol" ist geradezu wahnwitzig in seinem überbordenden Enthusiasmus.
Hier hört man, nicht zum ersten Mal, aber nun als klares Element eines Stils, diese verlangsamte und verzerrte Diktion, die ein (in meinen Ohren) sehr persisches Element im Vortragsstil Dylans darstellt - was man übrigens zur gleichen Zeit auch sehr extrem bei der jungen Nina Simone hören kann - dieses Sprechen oder Singen in Zeitlupe - was sich dann auf "Blonde On Blonde" bei Dylan zu einem eigenständigen Manierismus auswachsen sollte.
Vielleicht war auch Cynthia Gooding nicht ganz ohne Wirkung geblieben? Das Band lässt den Schluss auf eine nachfolgende Intimität zu, weswegen die Aufnahmen von "Folksinger's Choice" zu Lebzeiten der Interviewpartnerin als "zu intim" oder "zu verräterisch" angesehen und unter Verschluss gehalten wurden. Ob die Aufnahme tatsächlich jemals im Radio gesendet wurde, lässt sich heute nicht mehr eruieren.
Ich denke hier aber auch an jene Schränke voller Schallplatten der verschiedensten Art, über die sich junge, hungrige Musiker hermachen, die sich dann die unterschiedlichsten Sachen reinziehen, die ihnen irgendwie taugen. Vielleicht besaß Cynthia Gooding nicht nur einen persisch-türkischen Vater für ihre Töchter, sondern auch eine iranisch-türkoide Cimelien-Sammlung, mit ein paar "arabischen" Trommeln noch dazu?4
Die Ähnlichkeiten zwischen persischer Musik und Dylans quasi-rezitativem Duktus dieser frühen Jahre sind jedenfalls manifest. Hier kann man sich beispielsweise in die iranische Sängerin Sima Bina hinein hören - die einen durchaus ähnlich gelagerten, dylanesken Gesangsstil pflegt. Um aus solcher Musik einen "Dylan" zu basteln brauchte es kaum mehr als einen Tonart-Wechsel.
Freilich konnte auch Dylan, genau wie Joan Baez, einfach in einen Text schlüpfen, als Mann die Figur einer Frau singen, ohne übertriebene Rollenspiele, ohne Falsettstimme, z. B. in "North Country Blues", und eine amerikanische "industrielle Ballade" vortragen - mit so viel Schmerz und abgeklärter Melancholie, als sei er selber eine fünfzigjährige Minenarbeiterswitwe. Da hatte Pete Seeger, die Graue Eminenz der amerikanischen Folk Music, ihm 30 Jahre an Alter und Erfahrung voraus. Aber Dylan rührte in zwei Minuten an die Herzen.
Das Carnegie Hall-Konzert liegt zwischen den beiden Alben, "The Freewheelin' Bob Dylan" und "The Times They Are A-Changin'" - es greift die Songs auf, die bei der einen Platte rausgeworfen wurden, und greift der nächsten Scheibe bereits vor.
Interessant ist beispielsweise wieder, wie "Don't Think Twice, It's All Right", zwischen der ersten Aufnahme - einer melancholischen, fast genuschelten Absage an eine frühere Geliebte auf "The Freewheelin' Bob Dylan" -
im Konzert eine neue Form erwirbt, in der Art, die Dylan seither immer wieder praktiziert hat, dass er seine Lieder fast komplett umkrempelt. Immer noch melancholisch, die Trauer in der Mundharmonika, aber darüber eine im hohen Bogen höhnisch über den Text hinweg fliegende Stimme. Wo hat Dylan das gelernt? Wer sonst sang zu seiner Zeit jemals in dieser Art? Kein Kingston Trio, kein Josh White, kein Pete Seeger, kein Woody Guthrie. Aber Dylan hatte bei Columbia einen neuen Producer, der ihn in direkter Linie zu "Like a Rolling Stone" führen sollte, Tom Wilson. Ein Schwarzer, der Sun Ra (einen der aktivsten schwarzen Bürgerrechtler im Jazz) produziert hatte, und dem kaum die ebenso in kosmischen Sphären schwebenden Columbia-Künstler Oscar Brown Jr und Nina Simone entgangen sein dürften. Oscar Brown Jr hatte bis dahin zwei der eindrucksvollsten Alben der Sechzigerjahre abgeliefert ("Sin & Soul" und "Between Heaven and Hell") während Nina Simone mindestens ein halbes Dutzend Platten für Colpix, einen Seitenarm von Columbia aufgenommen hatte. Nina Simones Einfluss reichte bis in Donovans "Season of the Witch" und Julie Driscoll & Brian Augers "Streetnoise" (1969).
Gerade Julie Driscoll, die Nina Simone abgöttisch verehrte, brachte Dylan und Simone auf einen Nenner in ihrer Fassung von "This Wheel's On Fire" - die man regelmäßig im Abspann der britischen Comedy-Serie "Absolutely Fabulous" (AbFab) hören konnte. Im Carnegie Hall Konzert hört man Dylan im Umbruch, seine Einflüsse sind noch nicht klar sortiert. Heute können wir - fast 50 Jahre später - diese Künstler, Dylan, Oscar Brown Jr, Nina Simone, Julie Driscoll, oder eben auch die hinreißende Sima Bina - Seite an Seite hören.
Ich habe zufällig in meinem Computer verschiedene Varianten von "Don't Think Twice". Einerseits die beiden Dylan Versionen, die ich eben erwähnte, auf "Freewheelin'" und "Carnegie Hall", dann eine britische Fassung von der britischen Sängerin Maggie Bell von der Gruppe "Stone the Crows", die oft als "der weibliche Rod Stewart" apostrophiert wird. So bluesig ihre Darbietung auch ist, es zeigt sich doch, dass selbst die Änderung eines einzigen Wortes einem Dylan Song bereits den Todesstoß versetzen kann.5
Auch der damals schon recht betagt wirkende amerikanische Folk Music Ober-Guru, Burl Ives hatte Mühe mit dem Text an sich, und scheinbar auch mit seinen "Dritten", was dem Song einen parodistischen Drall unterjubelte. Und die Sängerin Odetta brachte 1965 eine Dylan Tribute-Platte heraus, die wahrscheinlich bis heute als eine der besten Sammlungen von Dylan-Covers gelten muss. Odetta, von Haus aus eine gelernte Opern-Sängerin, gehörte damals zu den ganz großen im Folk-Geschäft, ihre Platten erreichten Millionen-Auflagen. Sie war die schwarze Folk Queen jener Zeit, zusammen mit dem gleichzeitig regierenden Harry Belafonte dem King des Calypso.
Zufällig hatte Odetta den gleichen Manager wie Dylan, Albert Grossman, und so enthält ihre Platte mit Dylan-Covers auch etliche Songs, die erst Jahre später auf Dylan-Bootlegs erscheinen würden, also für damalige Verhältnisse Dylan-Neuland darstellten. Dennoch gewinne ich den Eindruck, dass Odetta die Dylan-Aufnahmen eher als lästige vertragliche Pflichtaufgabe angesehen hat. "Don't Think Twice" klingt so, als hätte sie den Text erst Minuten vor der eigentlichen Aufnahme in die Hand bekommen, und bei anderen Songs ändert sie bewusst die "fehlerhafte" Grammatik, derer sich Dylan bedient. Trotz dieser lieblosen (oder vielleicht auch nur konträren) Herangehensweise ist Odettas Dylan-Scheibe ein wahres Juwel.
Auf Joan Baez' Sammlung von Dylan Songs - sie hat durchgängig immer wieder einmal einen "Dylan" in ihre Schallplatten hineingestellt, und nach rund 40 Jahren kam dann ihre Plattenfirma auf die Idee, alle diese Songs auf einer CD zu vereinigen - klingt "Don't Think Twice" wie eine klare, saubere, aber irgendwie seelenlose Darbietung6..
"Her sin is her lifelessness," hatte der Sänger in "Desolation Row" bereits über seine (?) Ophelia angemerkt und wenn man sich ein Foto des seinerzeitigen "Paares" Dylan/Baez betrachtet, kann einem Dylan leicht als ein fieser kleiner Hamlet erscheinen. Als Teilnehmer in einer lieblosen Romanze. Die eine Hälfte eines Karriere-Pärchens. Soll er bei ihr bleiben oder nicht? Das ist hier die Frage.
Dass Dylan, das Songschreibergenie der Folk-Szene, mit der weißen Queen der Folksänger-Szene verkuppelt werden würde, hatte damals eine gewisse Zwangsläufigkeit. Auch in der Pop-Musik wurden ständig echte oder imaginäre Verbindungen zwischen den Marktführern der Zeit konstruiert, ebenso wie in der Film-Industrie. Joan Baez hatte auf ihren ersten vier LPs einen besonders "schönen" und absolut nervtötenden Stil kreiert, der ihr sofort zu astronomischen Verkaufsziffern verhalf. Kaum verwunderlich, dass sie auf ihrer fünften LP dann eine Arie aus Heitor Villa-Lobos' Bachianas Brasileiras brachte, die Note für Note von Clara Rockmores historischer Aufnahme mit dem Theremin abgekupfert war. Oder so wirkte. Was für die Tochter eines Physikers kaum verwunderlich schien. Nur, dass das Theremin dabei noch um eine Spur warmherziger klang.
Freilich war und blieb Baez eine wesentlich politischere Sängerin als der vorgebliche Protest-Sänger Dylan, und ihr politisches Engagement trug ihr eine der hinterfotzigsten - und zugleich vergnüglichsten - Gesangs-Parodien ein, die ich kenne, Pull the Triggers, Niggersmit einem bitterbösen Text des britischen Satirikers Tony Hendra. Eine Joan Baez zum Verwechseln ähnlich klingende Sängerin (namens Diane Reed) fordert darin die "Niggers" zum bewaffneten Widerstand im Knast auf: "Wir stehen voll hinter euch - hier drüben auf der anderen Seite der Bucht."
Der reale Vorfall, um den es dabei ging, diente Bob Dylan zum Anlass, um sein Comeback als Protest-Sänger zu lancieren, mit dem Song Lord, Lord, They Cut George Jackson Down. George Jackson war ein Mitglied der Schwarzen Panther, das Gefängnis war San Quentin, und die Bucht war die Bucht von San Francisco.
San Francisco figurierte auch prominent auf Joan Baez' allererster LP - die seitdem völlig unbeachtet geblieben ist, jener Scheibe, die Joan Baez bereits als 17-Jährige aufgenommen hatte - 1958. Es zeigte sich, dass sie zu diesem frühen Zeitpunkt technisch alles drauf hatte, ja sogar etliche Tricks kannte, die sie später komplett fallen ließ.
Dazu gehörte eine erstaunlich rockige Version des Leiber-Stoller-Songs Young Blood den die Coasters 1957 aufgenommen hatten, den die Beatles später, in der Zukunft, am 1. Juni 1963, live in der BBC spielen würden, und den man sicher nicht von Joan Baez erwartet hätte. Aber sie hatte voll das Zeug zu einem weiblichen Elvis. Oder einer Janis Joplin. Man spürt förmlich, wie das Mikrophon Mühe hat, nicht zu zerspringen. Hier, lange bevor sie je von einem "Bob Dylan" gehört hatte, der zu dieser Zeit noch in Hibbing, Minnesota, die High School besuchte und davon träumte, einmal in den Spuren von Little Richard zu wandeln und ein wilder Rocker zu werden - sang Joan Baez mit rauer Stimme "Annie Had A Baby". Sie schaffte einen Calypso (Man Smart, Woman Smarter) ganz in der Art der "Tarriers" - hier zu sehen in einem Film-Trailer von 19567 - ohne jegliche Belafonte-Humorigkeit, und sang zuletzt sogar noch eine spanische Rock-Nummer, La Bamba, die man sonst eher von dem Chicano-Rocker Ritchie Valens kennt - der damals noch am Leben war und der möglicherweise seine Version des Songs erst aufgenommen hat, nachdem er die Fassung dieser jungen Frau gehört hatte. Kurzum: Eine rundum schöne Scheibe, und fast völlig frei von jenem hoch-sonoren Vibrato, das dann ab 1960 zu ihrem Markenzeichen wurde.
Übrigens gehörte Joan Baez eindeutig der gehobenen Mittelklasse an, "Folk Music" - Music der einfachen Leute - begegnete ihr also nur auf der Schallplatte. Auch das hört man hier, sie kann überhaupt nicht grammatisch fehlerhaft sprechen. Dylan bedient sich des Tonfalls eines Woody Guthrie und anderer vermeintlicher Hinterwäldler auch nur als künstlerischer Masche. Aber San Francisco strahlte bis nach London, und Jesse Fuller's Frisco Bay Blues komplett mit Fuller's Spezialkonstruktion, der footdella, erschien, perfekt kopiert, auf Donovan's allererster Scheibe, die auch über 30 Jahre im Giftschrank verschwunden blieb. Donovan Sixty Four zeigt den 18-Jährigen als perfekten Dylan-Clon, der aber noch um einiges mehr drauf hatte als Dylan mit 18.
Vor allem hatte er einen gesunden Sex-Appetit, den ihm sein Management für seine nächste Scheibe ausredete. Donovan hatte eindeutig Talent, und in seiner Anfangsphase bediente er sich vieler Tricks, die er bei Dylan abgeschaut hatte, er sang sogar mit Joan Baez zusammen, und so hat er von Anfang einen Karriereschwerpunkt in Amerika gehabt, während umgekehrt die Briten von Anbeginn unverbrüchlich zu Dylan hielten - selbst durch seine unsägliche religiöse Phase hindurch. Sixty Four ist allerdings eine schöne, wenn auch mit 29 Minuten recht kurze Scheibe, mit dem Höhepunkt London Town von Tim Hardin, den die meisten Zuhörer wohl nur in einer rockigen Version der frühen Pretty Things kennen dürften
Sosehr ich Donovan auch bewundere, ich erwähne ihn hier nur um zu zeigen, dass er tatsächlich viel von Dylan gelernt hat, aber auch, dass er mit 18 schon ein voll ausgereifter Künstler von eigenen Gnaden war. Nun noch die Frage, hat es einmal einen Sänger gegeben, der das genaue Gegenteil von Dylan war?
Ja, es hat ihn gegeben, und gibt ihn immer noch. Er heißt Dan Hicks und auf den vier LPs seiner klassischen Periode, 1969-1973, als Dan Hicks mit seiner Gruppe, The Hot Licks, auftrat, konnte man sagen, war er auf seine Weise so einzigartig und unnachahmlich wie Dylan - und dabei komplett anders. Zunächst einmal spielten die Hot Licks fast immer in einem swingenden Tempo und in einem Stil, der sehr an Django Reinhardt und das Quintette du Hot Club de France erinnerte. Mit anderen Worten, die Musik zischte ständig ab wie eine Rakete, und Dan Hicks sang seine Texte dazu in einem fast Be-Bop artigen Tempo, dem man rein akustisch kaum folgen konnte.
Zudem hatte Hicks in seiner Truppe stets ein oder zwei unglaublich lässige Background-Sängerinnen, die gewöhnlich im Vordergrund postiert waren und entweder mit der Geige oder mit Hicks um die Wette und ihm gewöhnliche eine Spur voraus sangen. Die Texte seiner Songs bedienten sich bei den trivialsten ebenso wie den tiefschürfendsten Themen, dennoch musste man nie, wie bei Donovan oder Dylan recht häufig, "Aua!" schreien. Es gibt für mich, gewissermaßen, nie einen Tag, wo ich nicht in der Stimmung wäre, eine Dan Hicks Nummer aufzulegen (oder anzuklicken, hier Evenin' Breeze - er lebt heute in meinem Computer.) Hier noch eine zweite Hörprobe, zum Angewöhnen - "My Old Timey Baby" von der LP Last Train to Hicksville (1973)
Die Frauen, die "Lickettes", die mit Dan Hicks im Dialog mitsingen, haben oft jene verführerische Stimmlage, die man von Maria Muldaur aus ihrem alten Hit "Midnight at the Oasis" kennt. Aber Maria Muldaur ist seit damals auch ein paar Jahre älter geworden, und so ist recht interessant, sie auf einer CD zu hören, wo sie nun, mit dieser älteren Stimme, fast wie ein weibliches Gegenstück zu dem heute auch gealterten Dylan, ein Dutzend seiner Songs zum Besten gibt. Hier hört man, neben Odetta und Joan Baez eine dritte Allround-Künstlerin, die ebenso mit den Blues-Songs einer Sippie Wallace oder Victoria Spivey klar gekommen ist, wie jetzt mit einem Querschnitt durch Dylans gesamtes Repertoire, allerdings mit der Beschränkung auf Liebeslieder. Und es funktioniert.
Bryan Ferry der Frontmann von Roxy Music, hat auch eine Sammlung von Dylan-Songs vorgelegt, unter dem Titel "Dylanesque". Obwohl ich mir schon vor Jahren geschworen habe, nie eine Dylan-Scheibe anzurühren, auf der "Knockin' on Heaven's Door" erscheint, mache ich hier eine Ausnahme, obwohl auch Ferry mit den Texten nicht immer klar kommt. Aber es ist einfach erfrischend, diese Songs mal von jemand anderem zu hören, noch dazu von jemandem, der diesen abgelutschten Kamellen neues Leben einhauchen kann. "All Along the Watchtower" muss nicht immer nur in der Hendrix-Version daher kommen. Aber auch Ferry beschränkt sich, bis auf einen Song, auf Dylan's Repertoire vor 1975, die eine Ausnahme, "Make You Feel My Love" eine Dylan-Komposition aus dem Jahr 1997, verweist auf Dylan's Schwenk von Woody Guthrie zu Woody Allen, Musik für einen Film-Abspann, und Ferry hat hier auch eine Art Theremin in den Hintergrund eingesetzt, der wieder stark an die Musik für Flughäfen seines Ex-Roxy-Kumpels, Brian Eno, gemahnt. Auch Bryan Ferry muss das Recht haben, sich seine Dylan-Songs so zurecht zu legen, wie sie ihm passen.
Interessant bleibt, dass die unzähligen Songs, die Dylan einfach als objektivierte Arbeitsproben, als Kompositionen für andere Vortragende schrieb - und die Anzahl der Dylan-Covers ist mittlerweile fast unüberschaubar geworden - dass also sein bewusste Arbeit als Song-Schreiber für Andere - erst jetzt, in diesen Tagen, offiziell und nachträglich, und sehr verspätet, auf einer entsprechenden CD-Edition gewürdigt wird. Diese frühen Aufnahmen - ich kenne sie zu diesem Zeitpunkt, während ich dies jetzt schreibe, nur von den Bootleg-Ausgaben, die nun schon seit Jahrzehnten zirkulieren - gehören zu jenem Bodensatz, dem Humus und Fundus des Dylanschen Werks, aus dem sich seine Bedeutung als Dichter und Liederschreiber definiert. Und dabei sind hier noch mindestens 100 Songs aus dieser Zeit nicht berücksichtigt worden, die es ebenso verdienen, offiziell veröffentlicht zu werden...!
Der 24-Jährige, der am 19. Juni 1965 noch einmal, aus Respekt vor der Autorität einer britischen Institution, live vor einem Studio-Publikum der BBC auftrat - allein, ohne elektrische Band, nur mit Gitarre und Mundharmonika, wie in seinen Anfangstagen, und doch markiert diese Aufnahme das Ende der akustischen Periode in Dylans Schaffen. "If You Gotta Go, Go Now" hat jenen anzüglichen Tonfall drauf, mit dem ein junger Mann einer jungen Frau mitteilt, "Wenn du gehen willst, dann geh doch, oder sonst bleibst du jetzt die ganze Nacht." Da kommt Dylan schon eng an die Grenze dessen, was die BBC über den Äther laufen lassen wird. Und es fehlt ganz klar das schneidende Geräusch einer E-Gitarre im Hintergrund. Den Rest des Materials schrammelt Dylan dahin, wie jemand, der noch rasch eine Straßenbahn erwischen muss. Wenige Wochen später, am 25. Juli 1965 tritt er bereits in Newport voll-elektrisiert auf, bis ihm Pete Seeger den Stecker rauszieht.
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