Lob der Oberflächen
Medientheorie als Oberflächenanalyse - zu Norbert Bolz' neuem Buch "Die Konformisten des Andersseins. Ende der Kritik"
Wer "a" sage, müsse auch "b" sagen, lautet ein gängiges Vorurteil, das eine zumindest zweiwertige Logik voraussetzt. Wer von "Form" spricht, müsse auch über deren "Inhalt" nachdenken, lautet eine konkrete Variante des Denkschemas; die Rede vom "Schein" setze die Möglichkeit des "Seins" voraus, lautet eine andere. Daß es auch anders geht, haben eindrucksvoll die Romane von Bret Easton Ellis vorgeführt. Patrick Bateman im "American Psycho" konnte auch nach intensiver Suche hinter den austauschbaren Oberflächen und in den Innereien der postmodernen Yuppie-Kultur nichts finden, was den Namen Tiefe verdient hätte; und sein neuer Roman "Glamorama" führt vor, dass sich hinter der Glitzerwelt medialer Illusionen und Simulationen nichts anderes verbirgt als weitere Illusionen und Simluationen. Für Victor Ward gibt es nur ein Diesseits der Sets und Skripts, kein Jenseits, nur Surfaces und Screens, keine Substanz. Dahinter ist immer nur, was auch schon davor war.
Ein solcher Blick irritiert unsere Erwartungen, und vielleicht fühlt man sich auch mit Medientheorien wohler, deren Analysen durch die Simulakren und Simulationen hindurch auf etwas Substanzielles zugreifen, auf Hardware und Algebra etwa, wie die Theorie Friedrich Kittlers, auf den "Mangel" oder das "Begehren", das die Entwicklung der Medien voran und uns an die Bildschirme treibt, wie die Hartmut Winklers, oder auf den "ultrastabilen", binären Code von Information und Nicht-Information, wie die Niklas Luhmanns. Der Trost, den diese Ansätze zu gewähren vermögen, ist ihre - freilich je verschiedene - Auskunft über die Funktion der Medien, denn diese Funktionsangaben verleihen jeder noch so chaotischen medialen Erscheinung einen hintergründigen Sinn. Die Oberflächen erhalten eine Tiefe, die ihren Zweck verrät: etwa im Dienste militärtechnischer Evolution zu stehen, einer "Wunschkonstellation" zu entsprechen oder der Selbstbeobachtung und Selbstirritation der Gesellschaft zu dienen.
Norbert Bolz hat dagegen schon vor zehn Jahren kund getan, er interessiere sich für "Effekte", verstanden als "Wirkungen ohne Ursachen". Den Blick "hinter" die Medien erklärt er für überflüssig, ja für paranoid, um statt dessen für eine genaue Beobachtung ihrer Oberflächen zu plädieren. "The better you look, the more you see", würde Victor Ward dazu sagen. Und was wir sehen, wohin wir auch schauen, sind die Interfaces der Technologien und Bildschirme der Medien, für deren Tiefe wir uns Gottseidank nicht zu interessieren brauchen.
"Ein benutzerfreundlicher Computer läßt mich vergessen, dass ich es mit einem Rechner zu tun habe; sein Interface-Design schirmt mich ab gegen die posthumane Technologie des Digitalen. Man kann ein ganzes Leben lang am Computer arbeiten, ohne auch nur ein einziges Mal unter die Benutzeroberfläche, das User Interface, schauen zu müssen."
Das "Design" der Medien, mit denen es ihr Benutzer immer nur zu tun hat, fasst Bolz als die "Rhetorik der Medientechnologie". Eine Nietzsche- und Blumenberg-Lektüre führt die Tradition dieser Rhetorik vor, deren Tropen seit langem schon die Dinge distanzieren und vereinfachen. "Rhetorik ist die Apparatur, mit der wir uns die tödliche Unmittelbarkeit des Realen vom Leib halten." Dasselbe versucht die "Rhetorik des Cyberspace", deren stets vorwegeilende "Benutzerfreundlichkeit" uns in der Sicherheit einer permanenten "Vertrautheitsselbsttäuschung" wiegt. Desktop, Papierkorb, Ordner - das alles kennen wir doch je schon. Die Oberflächen decken "den Abgrund des Nichtverstehens" zu: "So emanzipiert sich das Gebrauchen vom Verstehen." Wer hier noch "dahinter" schauen will, etwa in den protected mode, um die "Versklavung der Welt durch MS-DOS" zu ergründen, wird der "Verschwörungstheorie" zugeschlagen.
Während Friedrich Kittler laut Bolz mit "Formeln" wie "Es gibt keine Software" zu "provozieren" verstehe, sei es tatsächlich möglich, "Computer funktional zu beschreiben, ohne auf Hardware Rücksicht zu nehmen." What you see, is what you get. So genau man auch hinschaut, man bekommt nie mehr, als man sieht: alles Design.
Bolz ist häufig als "affirmativer" Autor bezichtigt worden, Winkler bezeichnet ihn in einem Telepolis-Gespräch als jemanden, der "kalt berechnet" habe, dass "diese Republik einen Medienfuzzi braucht", der ihr "sagt, was sie hören will" (auch in: Docuverse, Regensburg 1997, S. 364). Dies trifft insofern zu, als Bolz die Oberflächen lobt, die er beschreibt. Was die üblichen Kulturkritiker als Kultur- und Bewusstseinsindustrie, Kitsch oder Kommerz geißeln oder entlarven, findet sein Gefallen. Bolz sagt "JA!" zu Harald Schmidt, zu Jeff Koons, zur Werbung, zur Mode, zu kurzlebigen Trends, zum Funsport. Und er hat recht: "Die kritischen Bewußtseine ärgern sich, wenn man die Wirklichkeit beschreibt, ohne zu warnen, zu mahnen und Betroffenheit zu zeigen; das gilt dann als affirmativ und positivistisch."
Vor diesem Kontext bekommt man den Einsatz des neuen Buches gut in den Blick: "Die Konformisten des Andersseins" sind eine Abrechnung mit der Kritik und den Kritikern der Oberflächen, deren bedingte Reflexe Bolz selbst kritisch vorzuführen sucht. Vor allem die 68er Generation und ihre theoretischen Monitore müssen sich nachweisen lassen, dass auf seiten der Theorie ihre Kritik zu rhetorischen Gesten des "Hinterfragens" und "Entlarvens" erstarrt ist und sie mit nachgerade mittelalterlichem Gehorsam den "Autoritäten" und Autoren der neuen heiligen Schriften folgten, während ihre "Praxis" des "Protests" die Geborgenheit und Sicherheit verheißende Form des "Rituals" revitalisierte. "Kritik" wie "Protest" kompensierten gleichermaßen die als unerträglich oder unabsehbar empfundene Komplexität der modernen, funktionsdifferenzierten Gesellschaft.
"Heute wissen wir natürlich, dass auch diese Aufklärer [...] mit dem Wort 'Krise' die hohe Komplexität der modernen Gesellschaft simplifizierten und politisierten... Man protestierte, weil man sich kein Bild von der modernen Gesellschaft machen konnte. Nur im Protest gegen 'das System' schien sich die Gesellschaft noch als Einheit darzustellen."
Den Verlust der "großen Narrationen" (Lyotard), die Unmöglichkeit eines archimedischen Standortes, von dem die Gesellschaft so zu beschreiben wäre, wie sie "wirklich" ist (Luhmann), gleichen Kritik und Protest aus durch ihr Dagegen-Sein. So konnten die großen Erzählungen - des Kapitalismus oder Spätindustrialismus, des Imperialismus oder Postkolonialismus - weitererzählt werden, so konnte "das Bestehende" derart beschrieben und kritisiert werden, als stünden die Kritiker "außerhalb" der Gesellschaft und blickten von einem omnicient point of view aus auf ihre Makel. Der "Automatismus" des "Hinterfragens" und "Entlarvens" vermochte so die Vielgestaltigkeit der Oberflächen hinter sich zurückzulassen und zu den immergleichen Essentials durchzudringen. Bolz spiegelt der Kritik ihre Vorwürfe zurück und spricht von der "affirmativen Anwendung der Unterscheidung kritisch/affirmativ". Mit dieser Kritik der Kritik trifft Bolz sicherlich ins Schwarze, wenn auch, wie er selbst anmerkt, "die Diagnose nicht neu ist". Bolz hat sich viel ausgeliehen, im Detail der Formulierungen vor allem von Luhmann, für seine Generalthese alles bei Arnold Gehlen, dessen Theorie der Kompensation sich wie ein roter Faden durch die thematisch doch sehr heterogenen Kapitel zieht.
Eine Kritik an Bolz' Lob der Oberflächen wäre wohl unangemessen, denn sie verfiele seinem Verdikt, die Kritik suche im Dagegensein nach neuen, einfachen Wahrheiten. Tadellos kommt mir dagegen eine Haltung vor, die den Philosophen der Trends und Moden an deren Kriterien zu messen versucht: Ist das neu, was Bolz uns anbietet, ist es trendy? Das Meiste leider nicht. Wenn Bolz beispielsweise Politik als "Medienästhetik" beschreibt, deren Entscheidungen im Feed back mit Quoten und Meinungsbildung der Medien entstehen, wenn er das Parlament als "Alibi" bezeichnet, das die Herrschaft der veröffentlichten Meinung nur verdeckt, wenn er Politik als Medienmarketing faßt, Politiker als Schauspieler und beides dem Code in/out unterordnet, dann ist das alles nicht so neu und so provokant, wie Bolz es sich wünschen mag. Die "Mahner, Warner und Bedenkenträger" und "das Feuilleton" der Moralisten und politisch Korrekten, gegen die er anschreibt, müssen daher gleichsam erst als Popanz aufgebaut werden, damit der dann tatsächlich provoziert werden kann.
Neu oder alt? Frank Böckelmann zum Beispiel hat schon 1984 beschrieben, wie die deutsche Politik im "Fernsehraum" funktioniert ("Hunger nach Begrenzung. Die letzten Jahre der Bundesrepublik", in: "Deutsche Einfalt", München 1999). Böckelmann macht in einer "Zeit der Ratlosigkeit" zwei Strategien der Politik aus, mit Kontingenzen und Komplexität umzugehen. Zum einen werde die "Öffentlichkeit" zunehmend "ausgeschlossen", allerdings nur, "um zu verbergen, dass hinter den Kulissen das gleiche gesagt wird wie draußen, nur stupider." Die oft vertretene These der Arkanpolitik, die ihre Entscheidungen in Hinterzimmern fällt, kontert Böckelmann mit der Unterstellung des genauen Gegenteils. Gerade auf der Hinterbühne verlaufe alles ganz einfältig und bieder, denn es gehe ja auch um ganz schlichte Interessen. Was man etwa in der medialen Aufbereitung des Flick-Skandals "hinter" den Kulissen zu sehen bekam, waren "dieselben vertrauten Handreichungen" derselben "Personen", die auch schon vorher "deutlich sichtbar zusammenstanden". Zum anderen wird in den Massenmedien - und der Skandal ist ein gutes Beispiel - die Komplexität des Politischen personalisiert und so vereinfacht. Bolz schreibt: "Massenmedien moralisieren die Probleme, indem sie auf Entscheider und Betroffene, auf Täter und Opfer reduzieren."
Bei Böckelmann finden wir es so: "Das Geheimnis der Medien-Demokratie" bestehe darin, dass Politiker "transhumane Prozesse auf plausible, d.h. persönliche Motive und Gruppeninteressen zurückgeführt" werden. Die Medien reduzieren jede noch so komplexe Lage auf eine einfache Entscheidung zwischen Dafür- und Dagegensein, auf die Frage "Zustimmung und Ablehnung". So sieht es auch Bolz, doch 15 Jahre später. Eine bekannte Wahrheit wird zwar durch Wiederholung nicht falsch, aber unsexy. Und gerade eine Theorie der Oberflächen sollte da attraktiver sein.
Norbert Bolz: "Konformisten des Andersseins. Ende der Kritik", Fink Verlag, München 1999, 202 S., 38,- DM.