Long Covid und die Schläfer-Viren
Seite 2: Wenn die Nerven blank liegen ...
- Long Covid und die Schläfer-Viren
- Wenn die Nerven blank liegen ...
- Auf einer Seite lesen
Diese Aktivierung, etwa in Blutzellen, könnte direkt für viele pathologische Merkmale der Krankheit bzw. Krankheitsfolgen verantwortlich sein, um die es hier geht.
Professor Patrick Küry ist Co-Autor der Studie. Er arbeitet als Leiter der Arbeitsgruppe für Neuroregeneration am Universitätsklinikum Düsseldorf und sagt:
YSars-CoV-2 kann das endogene Retrovirus wecken. (…) Wenn das endogene Retrovirus HERV-W geweckt wurde, dann bedeutet das Ärger.
Kölner Stadt-Anzeiger, Wissenschaft, 2. Mai 2022, a.a.O.
Küry und sein Team haben das Retrovirus seit einiger Zeit im Blick. Mit seinem toxischen Hüllprotein ENV kann es Zellen angreifen und so schädigen, dass buchstäblich Nerven blank liegen. Dabei, so Küry, wird die Myelin-Schicht, die normalerweise als Schutzschicht um die Nerven liegt, degeneriert und abgebaut.
In der Medizin ist das Retrovirus aus mehreren Gründen schon lange kein ganz Unbekannter. Endogene Retroviren sind auch bei Multipler Sklerose (MS) aktiv. Lange hielt man die humanen HERV-Kandidaten für weitgehend harmlos. Immerhin acht Prozent des menschlichen Erbguts bestehen nach Schätzungen aus archaischer viraler DNA.
Pathogenes Protein bei MS-Patienten
Wie Forscherteams schon um die Jahrtausendwende entdeckten, ist HERV bei MS aktiv. Die Ärztezeitung informierte Anfang 2014 über diese interessante Forschung und sprach mit Blick auf die Schläfer von einem "Viralen Jurassic Park". Gelingt es den Retroviren, ihr Erbgut in Keimzellen einzuschleusen, werden sie von Generation zu Generation weitervererbt.
Die Degeneration der Schutzschicht von Nervenfasern liefert nun eine Erklärung dafür, dass Long Covid mit Symptomen einhergeht, die auch bei MS vorkommen. Bei Covid-Patienten konnten deutlich größere Mengen des pathogenen Proteins ENV gefunden werden als bei MS-Patienten.
Zu den Symptomen gehören Sensorikausfälle, Kribbeln am ganzen Körper, überbordende Müdigkeit und anhaltende Schwächezustände.
Dies berichten immer wieder Patienten nach einer Sars-CoV-2-Infektion. Und es trifft, wie oben gezeigt, nicht gerade wenige. Das "Erwachen" der schlummernden Retroviren macht mitunter das Leben anhaltend schwer. Wenn auch - gegenüber MS-Erkrankten - über einen begrenzteren Zeitraum.
Impuls für die Forschung
Das Hüllprotein von HERV-W konnte in der Lunge, im Herzen, im Gehirn und in der Nasenschleimhaut nachgewiesen werden. Das sind auch die Organe und Punkte, an denen sich eine Coronainfektion besonders manifestiert. Weitere Spätfolgen und -schäden, so Studienautor Küry, könnten sich bei Corona-Betroffenen erst in fünf, zehn oder noch späteren Jahren zeigen.
Der Nachweis, dass Sars-CoV-2 jenes endogene Retrovirus weckt, das im Verdacht steht, die Degeneration der Myelin-Schicht bei Multipler Sklerose zu verursachen, gibt der Forschung aktuell neue Impulse.
In klinischen Tests untersucht die biopharmazeutische Firma GeNeuro (Sitz in Genf) die Wirkung von spezifischen Antikörpern in der Behandlung von MS-Kranken. Dabei kommt Temelimab zum Zug, ein monoklonaler IgG4-Anti-Human-Retrovirus-Antikörper.
Möglicherweise ein Hoffnungsschimmer auch für diejenigen, die nach einer Corona-Erkrankung mit dem Phänomen der Neurodegeneration zu kämpfen haben.