Lost and Found
Metropolis ist wieder da
Heute, am 12. Februar 2010, wird Filmgeschichte geschrieben. Heute abend passiert etwas, das man nicht mehr für möglich gehalten hätte: Bei der Berlinale steht die Welturaufführung der restaurierten, nun (fast) wieder kompletten Fassung von Fritz Langs Metropolis auf dem Programm. Arte überträgt das Ereignis live im Fernsehen. Was bisher geschah, und warum die feierliche Aufführung des berühmtesten aller deutschen Filme nur ein Anfang sein kann und kein Ende.
Wenn ich meine schönsten Kinomomente nennen sollte, wäre auf jeden Fall die Wiederentdeckung des deutschen Stummfilms mit dabei. Ich hatte das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Man glaubt es kaum, aber damals war das tatsächlich München. Enno Patalas, der Leiter des dortigen Filmmuseums, hatte damit begonnen, Klassiker von Fritz Lang oder Friedrich Wilhelm Murnau zu restaurieren, die ich entweder nur aus Lotte Eisners Buch Die dämonische Leinwand kannte, oder in grotesk verstümmelten Fassungen, die von der Firma Atlas vertrieben wurden. Bis in die 1970er Jahre hinein hatte sich kaum jemand Gedanken darüber gemacht, wie Nosferatu, Metropolis oder Die Nibelungen einmal ausgesehen hatten – geschweige denn versucht, sie so gut als möglich in ihrer ursprünglichen Form wiederherzustellen.
Das Schweigen der Pioniere
Wenn Enno Patalas die neuesten Ergebnisse seiner Arbeit präsentierte, durfte man das Gefühl haben, an einer Pioniertat beteiligt zu sein. Das Pioniersein war nicht immer leicht. Bevor ich zum ersten Mal Tabu sehen durfte, Murnaus letzten Film, wurde darüber abgestimmt, was vorgeführt werden sollte: eine zu schnell laufende Fassung mit „schrecklicher Hawaiimusik“ (Patalas) oder eine Fassung in (vermutlich) korrekter Projektionsgeschwindigkeit, die ganz stumm war. Wer es wagte, die Hand für die Hawaiimusik zu heben, zog sich die mitleidigen bis verachtungsvollen Blicke der Puristen zu. Wer nicht nur ein Ignorant, sondern auch empfindsam war, konnte leicht den Eindruck gewinnen, er solle sich hier besser nicht mehr blicken lassen. Über das Ergebnis solcher Abstimmungen konnte es nie einen Zweifel geben. Das war Demokratie nach Art des Filmmuseums. Man hatte nur scheinbar eine Wahl, durfte sich dafür aber als Mitglied einer verschworenen Gemeinschaft fühlen.
Wer einmal in einem Kinosaal saß, in dem vor andächtig schweigendem Publikum ein stummer Film gezeigt wird, weiß genau, was mit dem Begriff „hellhörig“ gemeint ist. In einem solchen Saal hört man jeden Ton. Ein Räuspern kann wie eine Explosion wirken. Stressfrei ist diese puristische Art des Filmgenusses nicht. Tabu war nicht so schlimm, weil die hawaiimusikfreie Version nur 80 Minuten lang war. Schwieriger wurde es bei Langs Die Nibelungen. Der Film hat zwei Teile, jeder Teil dauert etwa zweieinhalb Stunden und besteht aus sieben „Gesängen“. Meiner Erinnerung nach wurde es jeweils um den fünften Gesang herum kritisch. Viele von denen, die nun schon deutlich mehr als eine Stunde lang versuchten, möglichst still dazusitzen und andächtig zu sein, fanden es immer schwerer, ein albernes, aus der Situation geborenes Kichern zu unterdrücken.
Als Nicht-Ignorant brauchte man dann eine schier übermenschliche, dem Heroismus der Ritter auf der Leinwand in nichts nachstehende Selbstbeherrschung, um nicht mit einzufallen. Der letzte Gesang des zweiten Teils heißt „Der Nibelungen Ende“. Es dauert dann aber noch eine halbe Stunde, bis sich die letzten Helden gegenseitig umgebracht haben. Das war zuviel. Ich erinnere mich noch, wie fast alle mitmachten, als jemand beim soundsovielten Angriff der Hunnen hysterisch losprustete. Und ich kenne Leute, die bis heute nicht zugeben können, damals mitgelacht zu haben. Es war aber kein Lachen über den Film. So löste sich die in der Stille aufgestaute Anspannung.
Natürlich sind Stummfilme nicht dafür gemacht, dass man sie in völliger Stille sieht. Als man sie wiederentdeckte, gab es unterschiedliche Versuche, dem Rechnung zu tragen. Ich habe noch alte VHS-Kassetten aus Amerika mit grell überbelichteten, zu schnell laufenden Filmen, denen irgendeine klassische Musik unterlegt ist. Meistens sind es „Die vier Jahreszeiten“ von Vivaldi – und zwar ganz unabhängig davon, ob gerade gemordet wird wie in Schatten oder ob in einem bankrotten Operettenstaat die Revolution ausbricht wie in Die Finanzen des Großherzogs. Zum Glück gab es auch Virtuosen wie den leider kürzlich verstorbenen Aljoscha Zimmermann, die von Patalas und anderen restaurierte Filme live am Klavier begleiteten und die Bilder dabei nicht mit standardisierten Musikschnipseln zudröhnten, sondern diese behutsam kommentierten und ergänzten.
Barbaren im Tempel der Hochkultur
Je mehr man über die Stummfilme erfuhr, desto klarer wurde auch, wie wenig man eigentlich über sie wusste. Wie sie wiederentdeckt wurden, hing auch wesentlich von der Zeit ab, in der das geschah; man geht besser davon aus, dass sich daran wenig geändert hat. Als erster deutscher Schwarzweißfilm gilt heute Von morgens bis Mitternacht, eine Produktion von 1920. Die anderen Filme waren koloriert. Wenn man das in den 1950ern einem Cineasten erzählt hätte, wäre man mit großer Wahrscheinlichkeit ausgelacht worden, oder man hätte einen Glaubenskrieg entfacht.
Technische Entwicklungen haben immer auch ästhetische Folgen. Als Ende der 1920er der Tonfilm eingeführt wurde, machte sich bei vielen Kinofreunden Weltuntergangsstimmung breit, weil sie fürchteten, die Dialoge würden die visuellen Ausdrucksmittel des Mediums zerstören. Ähnliche Ängste gab es in den 1950ern, als die Filmindustrie im großen Stil dazu überging, auf Farbe umzustellen. Wer nun schon wieder die Filmkultur bedroht sah, wollte nicht unbedingt etwas davon hören, dass bereits in der guten alten Stummfilmzeit farbige Bilder gezeigt worden waren. Es dauerte eine geraume Weile, bis sich diese Einsicht durchzusetzen begann.
Enno Patalas versuchte nicht nur, aus den erhaltenen Fragmenten eine möglichst vollständige Version von Nosferatu zusammenzustellen, er färbte seine Version auch so ein, wie er dachte, dass es früher gewesen sein könnte. In den 1980ern war das eine völlig neue Seherfahrung. Vieles, was einem bis dahin komisch vorgekommen war, ergab plötzlich einen Sinn. Am Ende zerfällt der Vampir im ersten Licht der Sonne. Aber vorher trägt er – in der Schwarzweißversion – tagsüber seinen Sarg spazieren. Wenn man die Bilder blau einfärbt, wird aus Tag – der damaligen Konvention nach – Nacht, und Nosferatu macht sich nicht mehr lächerlich.
Auch aufführungstechnisch näherten sich die Stummfilme in den 1980ern wieder dem an, was einmal gewesen war. In München erstürmten die Hunnen eine Trutzburg der Hochkultur, als die von Patalas restaurierten Fassungen von Die Nibelungen, Metropolis und Nosferatu mit Orchesterbegleitung im Kulturzentrum am Gasteig gezeigt wurden. Die Filme von Fritz Lang profitierten davon ganz besonders. Beim Massaker an Etzels Hof lachte jetzt niemand mehr. Für Die Nibelungen und Metropolis hatte Gottfried Huppertz die Musik geschrieben. Huppertz lernte in den frühen 1920ern durch den Mabuse-Darsteller Rudolf Klein-Rogge die Drehbuchautorin Thea von Harbou kennen, damals noch die Gattin Klein-Rogges und später von Fritz Lang. Das führte dazu, dass er zu Langs Monumentalfilmen kongeniale Kompositionen besteuerte.
Zeitzeugen bestätigen, dass Huppertz nicht etwa die Musik zu einem fertigen Film komponierte, sondern von Lang schon sehr früh in den Herstellungsprozess mit einbezogen wurde. Er spielte dem Regisseur und der Autorin auf dem Klavier seine Entwürfe vor, die dann diskutiert wurden. Manche Szene wäre anders geschrieben und inszeniert worden, wenn von Harbou und Lang bei der Arbeit nicht bereits im Ohr gehabt hätten, was im Kino zu den Bildern zu hören sein würde. Huppertz’ Musik ist also ein integraler Bestandteil dieser Filme. Und sie spielte eine wichtige Rolle beim Versuch, Metropolis zu rekonstruieren. Doch der Reihe nach.
Eine Kapitulationserklärung namens Parufamet-Vertrag
Dreh- und Angelpunkt vieler Filme der frühen Weimarer Republik ist das Geld. Das ist kein Wunder. Deutschland litt unter den Folgen einer Hyperinflation. Erich Kettelhut, einer der genialen Architekten des deutschen Kinos, erzählt in seinen Memoiren, dass die Ufa-Zentrale jeden Vormittag in Waschkörben Geld nach Babelsberg schickte, wo 1922 Die Nibelungen gedreht wurden:
Der Buchhalter fertigte jeden Tag eine Liste an, auf der nach dem Kursstand des betreffenden Tages errechnet war, was der einzelne Arbeiter, Angestellte und so weiter seinem Grundgehalt nach zu bekommen hatte. Erst waren es Millionen, bald danach Milliarden Mark. […] Die Schwierigkeit bestand darin, dass wir jede Menge Millionen- und Milliardenscheine hatten, aber keine Tausend- oder Hundertmarkscheine. So mussten wir zwei oder drei Mann zu einer Gruppe zusammenfassen und auszahlen. Sie sollten versuchen, das Geld beim Einkaufen unter sich aufzuteilen. Also stellten wir die Gruppen nach ihrem Wohnsitz zusammen, weil die Leute sofort mit dem Geld zum Hoftor eilten, wo die Frauen schon warteten. Genauso beeilten sich die Frauen mit ihren Einkäufen, denn gegen Mittag waren die Noten schon weniger wert als am Morgen.
Für die Filmindustrie und das dort verbreitete Denken hieß das: Geld spielte eine untergeordnete Rolle, weil es sowieso keinen Wert mehr hatte. Exporte wurden durch die schwache Währung erleichtert. Und man produzierte für einen Inlandsmarkt, den man fest im Griff hatte, weil er wegen der Inflation für die internationale Konkurrenz uninteressant geworden war. Als 1923 die Stabilisierung der Währung gelang, trennten sich viele Firmen nur zögerlich von ihren inflationsbedingten Geschäftsmodellen. 1926 war die Ufa – der größte und mächtigste europäische Filmkonzern – so verschuldet, dass sie bei der Paramount und der Metro (die spätere MGM) einen Kredit in Höhe von 4 Millionen Dollar (knapp 17 Millionen Reichsmark) aufnehmen musste. Das war die Kapitulation vor den Amerikanern, denen man den Rang als Weltmarktführer hatte ablaufen wollen.
Die Paramount, die Ufa und die Metro-Goldwyn-Corporation gründeten einen gemeinsamen Verleih namens Parufamet, der je zur Hälfte dem deutschen und den amerikanischen Vertragspartnern gehörte. Die Ufa verpflichtete sich, ihren beiden Partnern jeweils 20 Filme pro Jahr abzunehmen und diesen 75% (später 50%) der Spielzeit in den Kinos zu reservieren, die direkt oder indirekt zu ihrem Imperium gehörten. Die Paramount und die Metro sagten dafür zu, je 10 Ufa-Filme jährlich in ihr Programm aufzunehmen – allerdings ohne garantierte Spielzeiten und unter der Voraussetzung, dass diese den „geschmacklichen Bedürfnissen“ des amerikanischen Publikums entsprachen. Anders gesagt: Die Amerikaner bestimmten darüber, wie der Publikumsgeschmack zu sein hatte und behielten sich vor, deutsche Filme ihren Vorstellungen nach umzuschneiden. Ohne den Parufamet-Vertrag wäre die Metropolis-Geschichte anders verlaufen.
Himmel der Kreativen
Fritz Langs Karriere wäre auch anders verlaufen, wenn es Erich Pommer nicht gegeben hätte. Pommer war der wichtigste Produzent der Weimarer Republik. Unter seiner Leitung entstanden viele Meisterwerke von Regisseuren wie Lang, Dupont und Murnau, die dazu beitrugen, das deutsche Kino weltberühmt zu machen. Pommer hatte ein Gespür für Talente, die er zu unschlagbaren Kreativteams zusammenfasste, wie man heute sagen würde. Er stellte sicher, dass die Regisseure, an die er glaubte, mit den besten Autoren, Kameraleuten und Produktionsdesignern zusammenarbeiten und sich die Zeit nehmen konnten, die sie brauchten. Lang machte von diesen Möglichkeiten ausgiebig Gebrauch. Dazu gehörten umfangreiche Vorarbeiten.
Bei Fritz Lang denkt man heute an einen egomanischen Regie-Tyrannen, der mit dem Megaphon Anweisungen gibt, die seine Untertanen zu befolgen haben. Erich Kettelhut zeichnet in seinen Memoiren ein anderes Bild. Bevor die Dreharbeiten beginnen konnten, traf sich Lang mit seinem Stab (Drehbuch, Kamera, Musik, Maske, Bauten, Produktionsdesign, Technik, Requisite) zu Regiesitzungen, die sich zum Beispiel bei den Nibelungen über drei Monate erstreckten. Diese Treffen begannen meistens um 4 Uhr nachmittags und endeten zwischen 1 und 3 Uhr nachts:
Jede Dekoration und jedes Detail, jede Stellung, jeder Gang eines Darstellers wurden genau besprochen und diskutiert. Lang gab erst dann den Auftrag zur Ausführung von Entwürfen und technischen Zeichnungen, wenn alle einverstanden waren. […] Zwei Tage nach der Besprechung legten alle ihre Arbeiten vor, die nochmals geprüft und diskutiert wurden, um dann angenommen, verändert oder von Lang abgelehnt zu werden. Im letzten Fall fing die ganze Prozedur wieder von vorne an.
Wer heuer nur ein Filmbuch lesen will, sollte Kettelhuts Der Schatten des Architekten in Betracht ziehen. Metropolis, meinte 1927 der junge Luis Buñuel, „müsste namenlos sein, wie eine Kathedrale“, weil so viele Menschen „am Bau dieser monumentalen Kathedrale des modernen Kinos“ beteiligt gewesen seien. Kettelhuts Memoiren machen deutlich, wie sehr Dr. Mabuse, Die Nibelungen, Metropolis und auch andere Klassiker wie Asphalt von Joe May das Resultat einer kollektiven Anstrengung sind. Wer wie und unter welchen Umständen die heute noch faszinierenden Spezialeffekte erfand oder weiterentwickelte, wie es war, in Siegfrieds Drachen zu stecken, wie Lang ein Heer von Statisten in Bewegung setzte und wie er die Brüste der Frau Eiermann choreographierte: bei Kettelhut erfährt man es.
Die Dreharbeiten zu Metropolis begannen am 26. Mai 1925, ein Jahr nach der ersten Ankündigung des Projekts, und endeten am 30. Oktober 1926. Die Ufa startete eine begleitende Werbekampagne, die fast wöchentlich mit neuen Superlativen aufwartete, bis endlich die Premiere stattfinden konnte. Als gesichert darf gelten, dass ein Budget von eineinhalb Millionen Reichsmark eingeplant war (etwa das Dreifache einer durchschnittlichen Produktion), das bald aufgestockt werden musste und dann weiter anstieg. Offenbar gab es keine wirkliche Finanzkontrolle, weshalb auch schwer zu sagen ist, was der Film tatsächlich gekostet hat. Metropolis und Murnaus Faust (1925/26), zwei von Pommer verantwortete Großproduktionen, sollen zusammen 10 Millionen Reichsmark verschlungen haben. Es kann aber gut sein, dass bei dieser Summe auch Kostenüberschreitungen bei ganz anderen Ufa-Projekten mit eingerechnet wurden. Angesichts eines nicht immer mit feinen Mitteln geführten Machtkampfes ist das sogar sehr wahrscheinlich.
Abschied vom Qualitätsfilm
Pommers Strategie, mit (teuren) Qualitätsfilmen den internationalen Markt zu erobern, geriet zunehmend unter Beschuss. Gezielte Indiskretionen gab es wohl auch. Im November 1925 konnte man in der Presse lesen, dass die Ufa überschuldet sei. Mitten in den Dreharbeiten zu Metropolis, am 31. Dezember 1925, wurde das Parufamet-Abkommen unterzeichnet. Im Januar 1926 wurde berichtet, dass Erich Pommer, ein Gegner des Abkommens, seine Führungsposition bei der Ufa aufgeben werde. Lang verlor damit seinen wichtigsten Fürsprecher in der Chefetage – den Mann, der ihm den Rücken freigehalten hatte. Kettelhut erzählt von Auseinandersetzungen auf dem Set von Metropolis, die man auf Langs schwierigen Charakter zurückführen kann oder darauf, dass er zunehmend unter Druck geriet.
Viele deutsche Filmkünstler gingen damals nach Hollywood. Bei der Ufa gab es eine Entlassungswelle. Bei den Einsparungsmaßnahmen wurde wenig Rücksicht darauf genommen, ob das gefeuerte Personal gerade bei einer laufenden Produktion gebraucht wurde oder nicht. Im März wurden in der Fachpresse erste Gerüchte über Budgetüberschreitungen bei Metropolis kolportiert. Die Rede war von Produktionskosten in Höhe von drei, dann vier, dann fünf und dann sechs Millionen. Manche Filmhistoriker, die Gerüchte als Fakten wiedergeben und dabei auch noch Murnaus Faust übersehen, kommen auf zehn Millionen.
Am 13. November 1926 gab die Filmprüfstelle in Berlin eine Version von Metropolis frei, die eine Länge von 4189 Metern hatte. Das ergibt eine Dauer von etwa zweieinhalb Stunden, wobei nicht ganz klar ist, wie schnell der Film vorgeführt wurde (vermutlich mit 26 Bildern in der Sekunde, aber darüber lässt sich trefflich streiten). Wahrscheinlich war er nicht koloriert, aber auch das ist umstritten. Kettelhut erinnert sich an eine gelungene Premierenfeier am 10. Januar 1927 im Ufa-Palast am Zoo, mit Szenenapplaus. Besonders Lang und seine Hauptdarstellerin Brigitte Helm wurden anschließend immer wieder vor den Vorhang gerufen.
Nach der Premiere wanderte der Film in den Ufa-Pavillon am Nollendorfplatz (600 Plätze). Als er am 13. Mai abgesetzt wurde, hatten ihn etwa 15 000 Menschen gesehen. Dann wurden die 40 Kopien, die der Parafumet-Verleih hatte ziehen lassen, vernichtet. Das war der Beginn der filmreifen Geschichte von der Verstümmelung von Metropolis und von einer detektivischen Spurensuche, die zur stückweisen Wiederherstellung des ersten Films führte, der von der Unesco – sogar als Torso – in das „Weltdokumentenerbe“ aufgenommen wurde (im November 2001).
Wie damals üblich, wurden ursprünglich drei Negative von Metropolis montiert: eines für die Kinoauswertung in Deutschland, eines für die Paramount, eines für den internationalen Markt unter Ausschluss der USA. Keines dieser Negative war identisch mit den beiden anderen; alle drei bestanden aber aus den mehr oder weniger gleichen Einstellungen, die hintereinander oder parallel mit mehreren Kameras gedreht worden waren. Alle drei Negative waren vermutlich von Lang autorisiert. Als Perfektionist gab er sich erst zufrieden, wenn man von jeder Einstellung drei Versionen hatte, die er für gut befand. Das relativiert die Berichte über die Unmengen von Material, das Lang angeblich belichtete. Und es macht die Leistung von Brigitte Helm noch größer, die sich in ihrem ersten Film so lange von Rotwang durch die Katakomben und über die Dächer der Kathedrale jagen lassen, die so lange am Glockenseil hängen und so lange auf dem Scheiterhaufen ausharren musste, bis es von jeder Einstellung drei Versionen gab, mit denen Lang zufrieden war. Die nun rekonstruierte Fassung ist aus den Fragmenten der drei Negative zusammengesetzt, die Lang damals ablieferte. Wir müssen ihm also für seinen Perfektionismus dankbar sein – und seiner Hauptdarstellerin für ihren Mut und für ihr Durchhaltevermögen.
Alles für den Publikumsgeschmack: Metropolis wird verstümmelt
Die Paramount erhielt ihr Negativ im Dezember 1926 und reichte es zur Bearbeitung an den Bühnenautor Channing Pollock weiter. Falls sich Pollock in seinem 1943 erschienenen Buch Harvest of My Days richtig erinnert, verstand er nicht, worum es in Metropolis ging. Jedenfalls kürzte er den Film um ein Viertel. Im Zentrum von Langs und von Harbous Original steht Hel, die tote Mutter des Helden. Der Erfinder Rotwang hat Hel geliebt und an Joh Fredersen verloren, den Herrscher über Metropolis. Hel ist bei der Geburt ihres Sohnes Freder gestorben. Als Ersatz für die tote Geliebte hat Rotwang einen Maschinenmenschen geschaffen. Pollock war das unheimlich. Er entfernte Hel und bemühte sich eigenen Aussagen nach, stattdessen eine Frankenstein-Geschichte aus dem Film zu machen (den Roman von Mary Shelley kannte er entweder nicht, oder er hatte ihn auch nicht verstanden). Damit schnitt er das emotionale Zentrum aus dem Film heraus.
Weitere Änderungen: Pollock entfernte Elemente, die er für kommunistisch hielt. Szenen mit Nebenfiguren wie dem Arbeiter Nr. 11811 und dem Schmalen, einem Geheimagenten Fredersens, wurden auf ein Minimum reduziert. Der Mönch Desertus und die Gotiker, eine apokalyptische Sekte, fielen ganz weg. Pollock stellte auch Szenen um, straffte die Handlung und entfernte Parallelmontagen, die er dem amerikanischen Publikum wohl nicht zumuten wollte. In der nun rekonstruierten Fassung müsste das wieder enthalten sein. Nr. 11811 wird wieder das Vergnügungsetablissement Yoshiwara besuchen, der Schmale wird wieder als Agent der Repression durch Metropolis schleichen, die Nebenfiguren werden vielschichtiger werden, es wird wieder ein Geflecht aus Haupt- und Nebensträngen geben (Thea von Harbou war sehr gut beim Konstruieren von komplexen Geschichten), und hoffentlich wird man auch wieder nachvollziehen können, wie Lang diese Stränge miteinander verband. Was inhaltlich in den gekürzten Fassungen fehlt, weiß man seit Jahren ziemlich genau. Aber einem von Langs Markenzeichen, dem Schaffen neuer Bedeutungsebenen durch visuelle Symmetrien, kann man sich nur durch das Einfügen der entfernten Bilder wieder annähern, nicht durch Inhaltsangaben.
Rotwang wird kein Irrer mehr sein, sondern ein Mensch mit einem nicht bewältigten Trauma. Er wird wieder eine Tote lieben, und man wird verstehen, warum er – vor einem Vorhang stehend – außer sich gerät. Hinter dem Vorhang befindet sich Rotwangs Heiligtum, ein in Stein gemeißelter Kopf von Hel. Bei Pollock, der Hel gestrichen hat, fuchtelt der Erfinder mit den Händen in der Luft herum, weil Mad Scientists das eben so machen. In der rekonstruierten Version wird Rotwang wieder einen Grund für sein überspanntes Gestikulieren haben und auch dafür, seinen Maschinenmenschen mit Brüsten auszustatten. In der Pollock-Version sind die weiblichen Attribute des Geschöpfs absurd, weil da für die unterirdischen Fabriken von Metropolis ein Arbeitsroboter gebaut werden soll.
Im April 1927 wurde in Deutschland beschlossen, Metropolis vorerst abzusetzen und im August neu zu starten: in einer gekürzten Version, in der die „Betitelung mit kommunistischer Tendenz“ beseitigt sein würde. Auf Wunsch des Ufa-Vorstands sollte sich die neue Fassung an Pollocks US-Version orientieren, aber „die in Amerika hineingebrachten pietistischen Stellen“ sollten wieder entfernt werden. Die umgeschnittene, um 948 Meter kürzere, mit 53 neuen oder umformulierten Titelkarten versehene Version (87 Titel blieben unverändert) wurde am 5. August 1927 freigegeben. Der Kritiker „Balthasar“ (Roland Schacht) hatte im Januar eine „fabelhafte“ Premiere miterlebt. Aber jetzt: „Dies Metropolis ist gar nicht mehr, auch entfernt nicht mehr, der Film, den wir vor dreiviertel Jahren im Ufa Zoo gesehen haben.“ „Die Musik von Gottfried Huppertz“, hatte der Mabuse-Erfinder Norbert Jacques geschrieben, „reißt im Mitstürmen die Ereignisse auf, sie ist groß, klar und stark.“ Davon war nicht viel geblieben, als die neue Fassung von Metropolis Ende August mit 70 Kopien in die Kinos kam. Roland Schacht dazu:
Von der auch jetzt noch als solche angekündigten Musik von Huppertz sind ein paar Motive stehen geblieben, im übrigen ist man zu dem bewährten Potpourri aus Chopin, Freischütz und Traviata nebst Schlagern aus der Kinothek übergegangen.
Ob und wie Lang versuchte, die Verstümmelung des Films zu verhindern, ist unbekannt. Er sprach nicht gern über Metropolis, und wenn doch, dann meistens abfällig. Aber das tat er bei allen seinen Filmen, die ein geschäftlicher Misserfolg waren und dadurch seine Position als Regisseur schwächten. Festzuhalten bleibt, dass im März 1927 der stramm konservative Hugenberg-Konzern die Kontrolle über die Ufa übernahm. Das alte Direktorium brauchte einen Sündenbock. Im Mai gab der Bankier von Stauß bei der Generalversammlung der Ufa zu Protokoll, dass Metropolis fünf Millionen gekostet und damit entscheidend zur finanziellen Schieflage des Unternehmens beigetragen habe. Die Information wurde auch der Fachpresse zugespielt.
Lang verlangte erfolglos, durch ein Schiedsgericht die wahren Kosten ermitteln zu lassen. Inzwischen schrieb die Presse bereits von sieben oder acht Millionen. Lanciert wurden auch Gerüchte, denen zufolge sich Lang durch falsche Spesenabrechnungen bereichert habe. Das Ganze erinnert an das, was Orson Welles bei der RKO erlebte. Als das Studio wegen finanzieller Probleme eine neue Führung erhielt, wurde Welles zum Sündenbock gemacht. Die RKO ließ The Magnificent Ambersons, sein zweites Meisterwerk nach Citizen Kane, kürzen, umschneiden und mit einem neuen Schluss versehen. Welles, der als Regisseur – anders als Lang – ein Vorbild an Sparsamkeit war, wurde zeitlebens den Ruf des Verschwenders nicht mehr los. Die aus Ambersons entfernten Teile sind verschwunden. Die neuen Bosse der RKO sollen Anweisung gegeben haben, sie wie Giftmüll im Meer zu versenken.
Von der Reichsfilmkammer zur Postmoderne
Zurück zu Metropolis. Es gibt eine Bestandsliste der Reichsfilmkammer von 1934, in der ein Negativ mit einer Länge von 2589 Meter aufgeführt wird (ohne Zwischentitel). Das dürfte die (nicht mehr vollständige) Version gewesen sein, die Ende August 1927 neu gestartet worden war. Iris Barry, die für das Museum of Modern Art eine Filmsammlung aufbaute, bereiste 1936 Europa und bat um eine Kopie. Das, was 1937 beim MoMA eintraf, war noch einmal um 600 Meter kürzer. Auf die eine oder andere Weise beruhen die meisten Versionen, die in den folgenden Jahrzehnten zu sehen waren, auf dieser MoMA-Fassung. Mitte der 1960er kam der Film zurück nach Deutschland. In westdeutschen Kinos lief eine vertonte, 92 Minuten lange Version – basierend auf einer Kopie der British Film Library, die diese 1938 vom MoMA bekommen hatte. 1971 zeigte die ARD eine offenbar 93 Minuten lange Fassung.
Ebenfalls einen Torso, aber einen etwas anderen, gab es im Osten. Die Bestände des Reichsfilmarchivs waren bei Kriegsende den Russen in die Hände gefallen. Ende der 1960er versuchte das Staatliche Filmarchiv der DDR, die in Ost und West vorhandenen Bruchstücke zusammenzuführen. Das erwies sich als sehr schwierig, weil es kaum Hinweise gab, was bei Lang wie montiert gewesen war. In den 1970ern reiste Gero Gandert von der Deutschen Kinemathek in Berlin nach Oberbayern, besuchte die Witwe des Komponisten Gottfried Huppertz und brachte die handschriftliche Originalpartitur sowie das einzige erhaltene Drehbuch mit zurück. Werner Sudendorf, Leiter der Sammlungen der Deutschen Kinemathek, schreibt dazu in einem Artikel für die Welt:
Lange Zeit freute [Gandert] sich allein über den Fund, denn für Filmarchivare ist Papier minderes Begleitmaterial – es zählt nur der Film. Erst mit Verspätung erkannten die Experten, dass auch das Drehbuch interessante Informationen enthält und in der handschriftlichen Partitur alle Szenen und ihre Abfolge notiert sind. Nun konnten in jahrelanger Arbeit wenigstens die Szenenumstellungen rückgängig gemacht, die Originaltitel wieder eingesetzt und die Bildqualität verbessert werden.
Die Abneigung der Experten gegenüber dem Papier scheint weit verbreitet gewesen zu sein. Wenn man Metropolis-Artikel aus den 1970ern liest, hat man selten den Eindruck, dass die Autoren einen Blick in den Roman Thea von Harbous geworfen haben; für manche Experten gilt das bis heute (von Harbous schwülstiger Stil macht die Lektüre auch nicht unbedingt zum Genuss).
„Metropolis“, schrieb Buñuel 1927 in seiner Kritik, „ist nicht ein Film. Metropolis sind zwei Filme, am Bauch aneinandergeklebt, aber mit unterschiedlichen, extrem antagonistischen geistigen Ansprüchen.“ Buñuel hätte auch von fünf oder zehn aneinandergeklebten (oder besser: sich durchdringenden) Filmen sprechen können. Metropolis ist alles gleichzeitig: die Geschichte einer amour fou; ein Rachedrama; ein Experimental- und ein Monumentalfilm; eine Anti-Utopie; ein Science-Fiction- und ein Horrorfilm; Expressionismus und Neue Sachlichkeit; Kitsch, Kunst und Kommerz; politisch-religiöses Traktat und aus den Fugen geratenes Melodram; wüste Kolportage, Revolutionsfilm, Gesellschaftsanalyse (wirtschaftliche und politische Macht sind identisch) und Beschwichtigungsversuch auf dem Niveau von Kalendersprüchen. Kurzum: Fritz Lang war seiner Zeit voraus.
Die Metropolis-Rezeption war lange von dem Bemühen geprägt, die Filme zu isolieren, die einem hehren Kunstanspruch genügten und auszusondern, was man nicht haben wollte. Das „gute“ Metropolis wurde dabei Fritz Lang zugeschrieben, das „schlechte“ der Hitler-Verehrerin Thea von Harbou (wobei wohl auch der Sexismus eine Rolle spielte). Es bedurfte der Postmoderne, um diese wilde Mischung endlich als Ganzes würdigen zu können – oder wenigstens als das, was vom Ganzen übrig war. Rotwangs künstliche Hand taucht bei Kubrick am Arm von Dr. Seltsam wieder auf. Metropolis ist nicht umsonst ein zentrales Referenzwerk für das Verständnis von Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow. Queen (Radio GaGa) und Madonna (Express Yourself) schlachteten den Film für ihre Musikvideos aus, wie der Film die abendländische Kunstgeschichte ausgeschlachtet hatte. Giorgio Moroders neu montierte Metropolis-Version von 1985 ist ein einziger, 80 Minuten langer (und dabei dem Original gegenüber nie respektloser) Musikclip, und ohne Metropolis-Zitat kann auch Kevin Kostner Whitney Houston nicht retten (The Bodyguard). Inzwischen ist man sogar so weit, die Möglichkeit zuzulassen, dass der dämliche Sinnspruch, mit dem der Film beginnt und endet („MITTLER ZWISCHEN HIRN UND HÄNDEN MUSS DAS HERZ SEIN“), nicht ernster gemeint ist als viele Texte in den Sprechblasen der Comics.
Explosiver Nitrofilm
Enno Patalas und seine Mitarbeiter im Münchner Filmmuseum waren also ganz auf der Höhe der Zeit, als sie zwischen 1984 und 1988 versuchten, alle Metropolis-Bruchstücke, die sie irgendwo finden konnten, in der ursprünglichen Reihenfolge anzuordnen und die in andere Sprachen übersetzten und dann rückübersetzten Zwischentitel textgetreu wiederherzustellen. Leider muss hier auch eine Chronologie der Ereignisse erwähnt werden, die die Redaktion der Welt dem bereits erwähnten Artikel von Werner Sudendorf beigegeben hat und in der eine Bombe versteckt ist. Dort heißt es:
1988: Bei der Murnau-Stiftung in Wiesbaden werden 30 Rollen mit altem Nitrofilm vernichtet, nur fünf davon wurden vorher kopiert. Es gibt Spekulationen, dass es sich um das Originalnegativ von „Metropolis" handelte.
Schwarz auf Weiß steht da ein Gerücht, das schon länger die Runde macht. Wer der Welt das wohl gesteckt hat, und mit welcher Absicht? Geschichten über potentiell unwiederbringliches, in irgendeinem Archiv voreilig entsorgtes Material gibt es viele. Oft werden sie verbreitet, wenn es Umbesetzungen beim Personal des jeweiligen Archivs gibt. Wahrscheinlich ist das bei anderen Betrieben auch nicht anders. Manchmal stimmt das Gerücht, manchmal hat es einen wahren Kern, manchmal ist es frei erfunden. Ich habe bei der Murnau-Stiftung angefragt und bisher keine Antwort erhalten. Das muss nichts heißen. Bestimmt ist man in Wiesbaden angesichts des Tohuwabohus um die Welturaufführung sehr beschäftigt. Vielleicht ist die Antwort verlorengegangen. Das ist schon wichtigeren Leuten als mir passiert (siehe unten).
Einstweilen weiß ich nur, dass nicht näher spezifizierte Filmrollen nach dem Zusammenbruch der Nachkriegs-Ufa an die Murnau-Stiftung abgegeben wurden, „wo das Material lange unerkannt schlummerte. 1988 wurde ein Rest von fünf Rollen umkopiert und das Ausgangsmaterial anschließend vernichtet.“ Das schreibt Martin Koerber, der zusammen mit Enno Patalas die Metropolis-Rekonstruktion leitete, die 2001 vorgestellt wurde und aktuell auf DVD vorliegt. Alle drei Originalnegative der ungekürzten Fassung, die Fritz Lang der Ufa überreichte, sind verschollen. Könnte sich tatsächlich eines davon auf den ominösen Rollen befunden haben, die 1988 vernichtet wurden? Das ist eigentlich schwer vorstellbar, weil Metropolis damals durch Patalas’ Restaurierungsbemühungen in aller Munde war. Andererseits wird niemand bestreiten, dass in Archiven Dinge weggeworfen wurden (und noch werden?), von denen niemand genau wusste, worum es sich handelte. Das hat vielleicht mit der Gleichgültigkeit von Bürokraten zu tun, ganz bestimmt aber mit Geld.
Dröhnende Selbstbeweihräucherung
„Jetzt schwoll das Brausen der großen Orgel zu einem Dröhnen an, das sich wie ein aufstehender Riese gegen die Wölbung des hohen Raumes stemmte, um sie zu zersprengen.“ Das ist der erste Satz von Thea von Harbous Metropolis-Roman. Mit Harbou-typischem Bombast könnte hier beschrieben sein, was uns heute Abend erwartet. Die Welturaufführung der jetzt fast wieder kompletten Metropolis-Fassung wird nicht nur im Berliner Friedrichsstadtpalast stattfinden, sondern zeitgleich auch in der Alten Oper Frankfurt, begleitet von der Fernsehausstrahlung bei Arte und einer Public-Viewing-Veranstaltung am Brandenburger Tor. Das Ganze wird als Super-Mega-Event inszeniert.
Wenn die vielen Politiker, die sich eine Einladung gesichert haben, wirklich selber hingehen, wird ein beachtlicher Teil des Bundestages im Publikum sitzen. Mit allgemeinem Schulterklopfen ist fest zu rechnen. Arte hat eine 25-minütige Vorberichterstattung angekündigt. Ob da wohl jemand die schön klingenden EU-Richtlinien zum Schutz des audiovisuellen Archivguts erwähnen wird? Die BRD hat sie 2008 unterzeichnet. Kein Mensch weiß, woher das für die Umsetzung erforderliche Geld kommen soll. Angekündigt wurde damals ein Archivgesetz. Wenn ich richtig informiert bin, gibt es bisher nicht einmal einen Entwurf.
Nehmen wir an, das von der Welt kolportierte Gerücht beruht auf Fakten: Warum sollte ein Archiv wie das der Murnau-Stiftung, die gegründet wurde, um unser filmisches Erbe zu bewahren und allgemein zugänglich zu machen, 25 von 30 Rollen Nitrofilm vernichten, ohne vorher wenigstens nachzuschauen, was drauf ist? Bei alten Nitrofilmen ist das nicht so einfach. Meistens sind sie in einem miserablen Zustand. Sie müssen erst aufwendig restauriert werden, ehe man sie sichten kann. Das kostet Geld. Nitrofilme sind extrem brandgefährlich. Eine sachgerechte, sichere und dem weiteren Verfall vorbeugende Lagerung ist teuer. Solche Nitrofilme kann man nicht herumliegen lassen. Also muss eine Entscheidung getroffen werden. Alle deutschen Filmarchive sind seit Jahren unterfinanziert. Politiker, die sich jetzt an Metropolis berauschen, müssen sich fragen lassen, was sie – von wohlfeilen Sonntagsreden einmal abgesehen – dagegen unternehmen wollen. Es geht darum, ob unsere Unterschrift unter den EU-Richtlinien mehr wert ist als das Papier, auf dem sie steht. Die pompöse Metropolis-Aufführung wäre der geeignete Moment, diese Frage zu stellen. Hinterher wird wieder das große Desinteresse einsetzen.
Glückliches Buenos Aires
Rechtzeitig zur Berlinale-Premiere und zur begleitenden Ausstellung in der Deutschen Kinemathek (bis 15. April) ist im Belleville-Verlag ein grandioses Metropolis-Buch mit über 600 Abbildungen erschienen, von denen man die meisten so noch nie gesehen hat und die einen Eindruck davon vermitteln, warum der deutsche Film damals seine größte Zeit hatte (im selben Verlag gibt es auch Erich Kettelhuts Memoiren, Der Schatten des Architekten, und Daniel Semlers labor of love, die minutiös recherchierte und sehr empfehlenswerte Biographie Brigitte Helm - Der Vamp des deutschen Films). Mein Lieblingskapitel im Textteil von Fritz Langs Metropolis ist einem Gespräch mit Paula Félix-Didier gewidmet. Dort erfährt man, wie die schier unglaubliche Geschichte von der Wiederentdeckung von Metropolis weiterging.
Ganz wie in einem Film von Fritz Lang, beginnt dieser Teil der Geschichte in der Vergangenheit. In den 1920ern gab es im cinephilen Buenos Aires an die 3000 Kinos. Im Gegensatz zu anderen Ländern in Südamerika hatten die US-Studios den argentinischen Markt noch nicht erobert. Buenos Aires erbrachte den Beweis, dass der Publikumsgeschmack nicht unbedingt identisch mit dem sein muss, was Hollywood dafür ausgibt. In vielen Kinos wurden europäische und einheimische Produktionen gezeigt. Der argentinische Filmverleiher Adolfo Z. Wilson war 1927 in Berlin, sah Langs Fassung von Metropolis und beschloss, den Film nach Buenos Aires zu bringen, weil er wusste, dass er dort ein interessiertes Publikum finden würde. Wilsons Verleihkopie von Metropolis hätte nach der Auswertung vernichtet werden müssen. Aber irgendwie gelang es Manuel Peña Rodríguez, die Kopie für seine Sammlung zu bekommen. Das ist einer von den Fällen, in denen ein Film gerettet wird, weil ein Sammler etwas tut, das von der Industrie für illegal erklärt wurde.
Der Filmkritiker Peña Rodríguez war keiner von den Sammlern, die ihre Schätze horten und mit keinem teilen wollen. Er verlieh sie, zum Beispiel an den Cineclub Nucléo. Dort wurden sie von dem Filmkritiker Salvador Sammaritano vorgeführt. Beim Cineclub Nucléo war später auch der Sammler und Filmhistoriker Fernando Martín Peña beschäftigt. Sammaritano erzählte ihm, wie anstrengend die Vorführung von Metropolis gewesen sei. Die Kopie habe sich in einem sehr schlechten Zustand befunden. Mehr als zwei Stunden lang habe er mit dem Daumen auf den Filmstreifen gedrückt, damit er möglichst ruhig laufen konnte. Martín Peña machte das hellhörig. Die damals verfügbare Metropolis-Fassung war nur 90 Minuten lang. Also forschte er nach.
Anfang der 1970er war die Sammlung von Peña Rodríguez in den Besitz des Nationalen Kunstfonds von Argentinien übergegangen. Da es sich vor allem um 35mm-Kopien auf Nitrofilm handelte, die man beim Kunstfonds nicht lagern konnte, entschloss man sich, das gesamte Material umzukopieren – auf 16mm-Film, weil das am billigsten war. Dabei wurden alle in den vergangenen Jahrzehnten entstandenen Beschädigungen mitkopiert. In der nun rekonstruierten Fassung wird man die 25 neu hinzugekommenen Minuten gleich erkennen können, weil die Schäden beim heutigen Stand der Technik nur teilweise behoben werden können. Die neuen Stücke aus Buenos Aires erreichen nicht die Bildqualität der digital restaurierten Version von 2001. Das Ausgangsmaterial, Peña Rodríguez’ Nitrofilm, wurde vermutlich Anfang der 1970er in Buenos Aires verbrannt.
Fernando Martín Peña versuchte erfolglos, an die 16mm-Kopie des Nitrofilms heranzukommen, von dem ihm Sammaritano erzählt hatte. Im Januar 2008, als Paula Félix-Didier die Leitung des Museo del Cine übernahm, des Filmmuseums von Buenos Aires, waren da schon wieder annähernd 20 Jahre vergangen. Martín Peña, sagt Frau Félix-Didier diplomatisch, war an „bürokratischen Hürden“ gescheitert. Um einen Blick ins Archiv werfen zu dürfen, hätte er eine Genehmigung gebraucht, und die bekam er nicht. So etwas kann einem auch in anderen Städten passieren. Die Verwalter öffentlicher Archive vergessen hin und wieder, dass das, was ihnen anvertraut wurde, nicht ihre private Sammlung ist, über die sie nach Gutdünken verfügen können (zum Glück gilt das nicht für alle Archivare).
2008 war das Museo del Cine schon seit vier Jahren „vorübergehend“ geschlossen, das Archivmaterial war in einer Lagerhalle untergebracht. Fernando Martín Peña hatte der neuen Chefin von Sammaritano und seinem schmerzenden Daumen erzählt, als sie sich an eine Bestandsaufnahme machte. Es stellte sich heraus, dass die Sammlung von Peña Rodríguez seit 1992 im mehrfach umgezogenen und nur in Form einer Lagerhalle existierenden Museo del Cine verwahrt wurde. Die Metropolis-Kopie war ordentlich inventarisiert und lag an der richtigen Stelle im Regal. Jetzt bekam Martín Peña die Genehmigung. Nach der Entwicklung des 16mm-Negativs war klar, um welchen Schatz es sich da handelte.
Die beiden Finder versuchten, Kontakt mit Enno Patalas und mit der Murnau-Stiftung aufzunehmen. Ohne Erfolg. Die Stiftung, sagt Frau Félix-Didier, schickte eine Antwort, aber die E-Mail kam in Buenos Aires nie an (bestimmt hat man in Wiesbaden inzwischen Vorkehrungen getroffen, dass sich so etwas nicht wiederholen kann). Fernando nahm darauf eine VHS-Kopie des Films mit nach Spanien, wo er im Telefonbuch die Nummer des Murnau-Experten Luciano Berriatúa fand, der schon mit der Stiftung gearbeitet hatte (von ihm stammt die aktuelle Nosferatu-Restaurierung). Berriatúa war begeistert und meldete sich bei Martin Koerber in Berlin, der über eine befreundete Journalistin den Kontakt zum Zeit-Magazin herstellte. Das ist der Grund, warum Die Zeit die Information als erste hatte und damals einen großen Bericht in ihrem Magazin brachte. Paula und Fernando flogen mit einer DVD nach Berlin, wo das Material bei der Deutschen Kinemathek gesichtet wurde. Das führte dann zur Restaurierung, für die Martin Koerber und – für die Murnau-Stiftung – Anke Wilkening verantwortlich zeichnen.
Warten auf Dr. Caligari
Paula Félix-Didier nennt einige Faktoren, die zusammenkommen mussten, damit die verloren geglaubte Lang-Fassung von Metropolis wiederentdeckt werden konnte: Der Verleiher Adolfo Z. Wilson war nicht nur Geschäftsmann, sondern auch Filmliebhaber. Er kaufte 1927 die Metropolis-Kopie, weil er den üblichen Behauptungen über den „Publikumsgeschmack“ nicht glaubte, die oft nur eine Publikumsbeschimpfung sind, da so getan wird, als sei für den Durchschnittsbürger alles zu hoch, was über Rosamunde-Pilcher-Niveau hinausgeht. Wilson konnte mit seinem Verleih existieren, weil es in Buenos Aires statt eines verordneten Einheitsgeschmacks eine vielfältige Filmkultur gab und eine Kinolandschaft, in der nicht auf allen Leinwänden dieselben fünf Blockbuster liefen.
Peña Rodríguez begann schon in den 1930ern mit dem Sammeln und Archivieren von Stummfilmen, die anderswo weggeworfen wurden, er hielt sich nicht an die von der Industrie aufgestellten Regeln, und nur, weil er seine Filme zugänglich machte, konnte Sammaritano sie zeigen und Fernando Martín Peña davon erzählen. Der wiederum hatte an einer öffentlichen Filmhochschule studiert und erkannte die potentielle Bedeutung der Information. In Buenos Aires gab es auch eine öffentliche Einrichtung, die wenigstens über genug Mittel verfügte, um das 16mm-Negativ anfertigen und archivieren zu können (aber leider nicht die Nitrofilme, die wahrscheinlich besser zu restaurieren wären). Und mit Paula Félix-Didier kam schließlich noch eine Direktorin des Filmmuseums hinzu, die Martín Peña nicht als lästigen Bittsteller behandelte, dessen berechtigtes Anliegen man besser im Labyrinth der Bürokratie verschwinden lässt, weil das am wenigsten Arbeit macht. Daraus lässt sich sehr viel lernen.
In Buenos Aires wurde bis in die späten 1960er hinein die Lang-Fassung von Metropolis gezeigt, die im Rest der Welt als verschollen galt, und scheinbar fiel keinem etwas auf. Paula Félix-Didier hat dafür eine einfache Erklärung: Es gab weder Videokassetten noch DVDs, und kaum einem war klar, dass verschiedene Versionen existierten. Um etwas zu bemerken, hätte jemand, der die zweieinhalb Stunden kannte, zufällig in Europa die gekürzte Fassung sehen müssen. Das Bewusstsein dafür, dass ein Teil des Films als verloren galt, wurde erst durch Giorgio Moroders viel (und zu unrecht) gescholtene Disco-Fassung von 1985 geschärft. Damals wurden in Buenos Aires die alten Nitrofilme längst nicht mehr gezeigt, das 16mm-Negativ von Metropolis war im Archiv verschwunden.
Das lässt nur einen Schluss zu: Man muss zugänglich machen, was man hat. Möglichst bald und nicht erst, wenn sich die Bundesregierung dazu aufraffen kann, Absichtserklärungen durch konkrete Maßnahmen zu ersetzen. Der überwiegende Teil der Stummfilme – das ist ein Viertel unserer Filmkultur – ist verschollen. Aber niemand weiß, was noch irgendwo herumliegt. Wenn der gern bemühte Spruch stimmt, dass der Film unser kollektives Gedächtnis ist, fehlen uns in diesem Gedächtnis 30 Jahre. Die 2001 abgeschlossene Restaurierung von Metropolis beginnt mit einer traurigen Nachricht: „Über ein Viertel des Films muss als verloren gelten.“ Das Jahr 2008 hat gezeigt, was noch möglich ist.
In den vergangenen Jahrzehnten wurde viel an Rekonstruktions- und Restaurierungsarbeit geleistet – ein beachtlicher Teil davon durch die Murnau-Stiftung oder in deren Auftrag. Aber kaum einer der Filme ist vollständig überliefert. Durch ihre Verbreitung auf DVD steigt die Wahrscheinlichkeit, dass noch etwas gefunden wird. Das kann eine Minute aus Langs Die Nibelungen sein oder Friedrich Wilhelm Murnaus (vermeintliches) Meisterwerk 4 Devils, von dem nur Standphotos erhalten sind. Viele der Filme, die von der Murnau-Stiftung für uns restauriert wurden, gibt es leider nur in anderen Ländern auf DVD. Die Nibelungen kann man in Spanien, Frankreich und den USA kaufen, aber nicht bei uns. Phantom und Die Finanzen des Großherzogs von Murnau, der unserer Stiftung den Namen gegeben hat, sind kürzlich in den USA, Spanien und England erschienen, nicht in Deutschland. Das Cabinet des Dr. Caligari, einer der berühmtesten deutschen Filme überhaupt, kann bald zehnjähriges Jubiläum feiern – nicht der DVD-Veröffentlichung, sondern der Ankündigung, dass der Film auch hierzulande bald erscheinen wird. Dem sollten endlich Taten folgen.
Am Beispiel der restaurierten Fassung von Metropolis lässt sich nun neu belegen, dass sich der Aufwand lohnt. Man muss nicht der Meinung mancher Cineasten sein, dass das Kino seit den Tagen des Stummfilms nichts Besseres mehr hervorgebracht hat. Aber man muss vor den Stummfilmen auch keine Angst haben. Sie sind weder langweilig noch unverständlich. Ein Produzent hat einmal gesagt, ein Film müsse mit einem Erdbeben beginnen und sich dann langsam steigern. Metropolis kommt dem schon sehr nahe. Geboten wird das längste Furioso der Filmgeschichte. Seit damals hat es in Deutschland keinen Regisseur mehr gegeben, der das so konnte wie Fritz Lang.