Luftverschmutzung in Indien: "Esst Karotten"
Die Luftverschmutzung in Delhi ist schockierend, aber vor drei Jahren war sie noch schlimmer. Indiens Wissenschaftsminister hat einen besonderen Tipp für die Hauptstädter
In Indiens Hauptstadt Delhi gibt es überwiegend an ausgewählten Orten einen Eindruck davon, warum der Chief-Minister des Unionsterritorium Delhi die 29-Millionen-Einwohner-Metropole letzte Woche eine "Gaskammer" genannt hat: Schon vor dem Verlassen des Flughafens setzen Ausländer und wohlhabende Inder Atemmasken auf, von denen einige an Star Wars erinnern.
Dazu verteilte die Stadtregierung allein fünf Millionen Masken an die Schüler - für diese hieß es dann auch bis zum 5. November Zwangsferien. Doch schon am Hauptbahnhof New Delhi bedeckt so gut wie keine Maske die Gesichter Tausender Reisender. Auch in Old Delhi und den unzähligen Märkten des Kleinen-Mannes sind Atemmasken eine Seltenheit.
Dabei gab die Webseite des Union Ministry of Earth Sciences gegen Mittag des 3. Novembers den Mittelwert der Feinstaubwerte PM 2,5 mit 475 Mikrogramm per Kubikmeter an. Gemessen wurden dabei Partikel, die nicht größer als 2,5 Mikrogramm im Durchmesser sind. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt einen Wert von unter 25.
Die Feinstaubwerte PM 10 wurden mit 648 Mikrogramm angegeben. Mehr als ein Dutzend Messstationen der indischen Hauptstadt vermelden Echtzeitwerte von 999 - mehr zeigen die Messgeräte nicht an. Die Schadstoffmenge, die bei einem solchen Wert an einem Tag in die Lunge gelangt, entspricht der von 45 gerauchten Zigaretten.
Schon im letzten Jahr mahnte das Oberste Gericht in Delhi, dass das Leben in der Metropole wie in einer "Gaskammer" sei und forderte die Zentral- und Unionsregierung auf, einen detaillierten Plan aufzustellen, um die Luftverschmutzung zu reduzieren.
Der Karotten-Plan
Der Wissenschafts- und Technologieminister der Zentralregierung von Narendra Modi, Harsh Vardhan, twitterte den Menschen Delhis einen ganz speziellen Rat zu: Karotten enthalten viele Vitamine… und helfen auch gegen andere Krankheiten, die durch Luftverschmutzung ausgelöst werden. Bei so viel "tatkräftiger" Hilfe mögen eine Menge Hauptstädter froh sein, dass sie 2013 nicht Harsh Vardal zum Chief Minister von Delhi gewählt haben, sondern Arvind Kejriwal.
Der legte dann Mitte September einen 7 Punkte Plan vor. Dazu betonte Kejriwal, dass die Luftverschmutzung in den letzten drei Jahren in Delhi um 25 Prozent gesunken sei, während es im Rest des Landes keine Anzeichen für Besserung gibt.
So verbot die Kejriwal-Regierung Delhis auch diesen Oktober wieder den Verkauf von Feuerwerk für das Lichterfest Diwali, das bislang die gesamte Metropole für Tage in Rauchschwaden gehüllt hatte. Dazu werden mittlerweile bei erhöhten Feinstaubwerten die Arbeiten auf Baustellen eingestellt und alte Diesel-Laster nicht mehr in die Stadt gelassen. Diese und andere Notmaßnahmen sollen nun ab dem 1. Januar 2020 die Regel werden.
Dann dürfen Fahrzeuge die ganze Woche über nur im tagesweisen Wechsel auf Delhis Straßen fahren, entweder diejenigen mit ungerader Anfangszahl auf dem Nummernschild oder diejenigen mit gerader - das soll auch für alle Fahrzeuge von Regierungsangestellten gelten. Dieses System wurde 2008 in Beijing vor den olympischen Sommerspielen eingeführt. Eigentlich nur als kurzfristige Maßnahme gedacht, zeigte die Reduzierung des Autoverkehrs so viel Wirkung, dass das "Nummernsystem" später dauerhaft eingeführt wurde.
In Delhi ist bisher noch nicht entschieden worden, welche "Nummer" am Sonntag auf die Straße darf. Dazu ist die Maßnahme auf 15 Tage begrenzt, weil die Stadtregierung die Reaktion der Bevölkerung abwarten möchte. Bei den zahlreichen Probeläufen in den letzten Jahren gab es nach anfänglichen "Gemecker" überwiegend Zustimmung der Hauptstädter, da sie die positiven Auswirkungen der Fahrverbote gespürt haben.
Unbefristet wird dafür eingeführt, alle Laster nur in den Nachstunden den Zugang zu den Straßen Delhis zu gewähren. Dazu haben alle Fahrzeuge die Standards des Euro VI 2017 zu erfüllen. Auch ist beschlossen worden, das letzte aktive Kohlekraftwerk um Delhi still zu legen.
Optimismus
Die Expertin für Luftverschmutzung, Anumita Roychowdhury, vom Center for Science and Environment erklärt gegenüber über Telepolis, dass die jährliche, durchschnittliche Partikelverschmutzung in den letzten zehn Jahren in Delhi gegenüber dem Vorjahr gesunken ist.
Möglich wurde diese Reduzierung unter anderem durch die Stilllegung aller Wärmekraftwerke mit einer Leistung von bis zu 1245 MW, die Einführung sauberer Abgasnormen für Fahrzeuge und Kraftstoffe, die erhebliche Ausweitung des Erdgases im Industriesektor und das Verbot schmutziger Industriebrennstoffe sowie die Verringerung des Güterverkehrs. Aber auch nach dieser Reduzierung muss Delhi die Umweltverschmutzung noch um weitere 65 Prozent reduzieren, um die Standards für saubere Luft zu erfüllen.
Anumita Roychowdhury
Das sei eine 20 Jahre alte Schlacht, in der es mehrere Siege und Niederlagen gegeben habe.
Interventionen des Obersten Gerichtshofs haben schließlich zur Ausarbeitung eines umfassenderen sektorübergreifenden Plans und auch eines Notfallaktionsplans geführt. Die Umsetzung erfordert jetzt eine umfassende und strenge Durchsetzung, um die Ziele für saubere Luft zu erreichen.
Anumita Roychowdhury
Trotz der gewaltigen Herausforderung und des ehrgeizigen Ziels, das Delhi noch zu erfüllen hat, ist Anumita optimistisch und der Ansicht, dass es keinen Grund gibt, warum das nicht gelingen sollte, da die Metropole in der Vergangenheit gezeigt hat, dass sie sich verbessern kann. "Mit wachsendem Bewusstsein ist es möglich, die Unterstützung der Öffentlichkeit für eine Politik des Handels zu gewinnen."
Rivalitäten
Doch dafür müssten die Zentralregierung und die des Unionsterritorium Delhi zusammenarbeiten, weil sich die Zuständigkeitsbereiche in der Hauptstadt überschneiden - aber danach sieht es nicht aus: Arvind Kejriwal versprach einen besseren Service der Metro, doch erst im letzten Jahr verdoppelte die Zentralregierung in zwei Stufen die Preise, was zu einem Verlust von 300.000 Fahrgästen täglich führte und zu Protesten der Stadtregierung.
Auch sonst kommen sich beide Regierungen in fast allen Bereichen in die Quere, was so weit geht, dass Kejriwal der Bharatiya Janata Party (BJP) von Narendra Modi etwas theatralisch vorwarf, ihn ermorden zu wollen. Die BJP überhäuft Arvind Kejriwal mit Strafanzeigen.
Seine Aam-Aadmi-Partei (AAP) ist nicht nur ein Dorn im Auge der Bharatiya-Janata-Partei (BJP) von Premierminister Modi. Ein Blick auf die Wahlen im Februar 2017 im Punjab erklärt einiges: Als dort einen Tag vor der Stimmabgabe deutlich wurde, dass Modis BJP keine Chance auf einen Sieg haben würde, riefen die örtlichen Anführer der paramilitärischen, mit der BJP verbündeten RSS ihre Anhänger dazu auf, den vermeintlichen Erzfeind, die Kongresspartei, zu wählen, um Kejriwals Partei ein möglichst schlechtes Ergebnis zu bescheren.
Die AAP war im Jahr 2012 aus einer Antikorruptionsbewegung hervorgegangen und hatte bei den Wahlen 2015 in Delhi 67 von 70 Sitzen gewonnen.
Zweifel
Auch wer die Worte der aktuellen Zentralregierung an den Taten in Sachen Umweltschutz misst, bekommt Zweifel - nicht nur, wenn er an die Luftverschmutzung in Delhi denkt: Andauernd redet Narendra Modi vom Ausbau erneuerbaren Energien, wobei er vermeidet, dem westlichen Ausland zu sagen, dass er darunter auch Energie aus Atomkraftwerken versteht.
Doch selbst eine Studie des regierungsnahen Think Tanks National Institution for Transforming India (NITI Aayog) geht davon aus, dass im Jahr 2044 der Anteil der erneuerbaren Energien an der gesamten Energiegewinnung nur bei zehn bis 15 Prozent liegen wird.
Der Anteil aus Kohle würde dagegen bei 42 bis 48 Prozent liegen. Zwar entspreche das einem Rückgang des Anteils von Kohle um knapp 15 Prozent; aber da Indiens Energieverbrauch steigt, wird auch der Verbrauch von Kohle bis zum Jahr 2037 zunehmen und sich nahezu verdoppeln.
Dazu passt, dass mittlerweile nicht mehr 14 der 20 am meisten verschmutzten Orte der Erde in Indien liegen, sondern 15.
Auch kündigt Narendra Modi andauernd an, die Einfuhr- oder den Verkauf von Plastik zu verbieten, doch am Ende gab er den Forderungen der Wirtschaft nach. Kurz darauf, ließ Modi sich medienwirksam dabei filmen, wie er Plastik an einem Strand aufsammelte. Doch die Jugend Indiens ist nicht mehr so naiv und reagierte teilweise sarkastisch und humorvoll.
"Täglich kommen Patienten mit Kopfschmerzen"
Mit Blick auf das von der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgeschlagene Freihandelsabkommen mit Indien keimt wenig Hoffnung in Sachen Umwelt auf. Gerade Merkel hat es ihrem indischen Kollegen vorgelebt, wie man sich als Klimakanzlerin feiern lässt, obwohl die eigenen Taten eher bescheiden sind.
Für die Menschen in Delhi bleibt es bei der Tatsache, dass ihre Lebenserwartung wegen der Schadstoffbelastung um bis zu 10 Jahre geringer ist als im Landesdurchschnitt. Dazu wachsen Kinder in der Hauptstadt Indiens mit kleineren Lungen heran als ihre Altersgenossen im Westen.
Von Dr. A.K. Arun in Delhi möchte ich wissen, wie sich die Luftverschmutzung bei seinen Patienten bemerkbar macht: "Täglich kommen Patienten mit Kopfschmerzen und tränenden Augen. Eigentlich gesunde Menschen klagen über trockenen Husten und Brustschmerzen." Auf die Frage, warum so wenige Menschen Atemmasken tragen, antwortet Doktor Arun: "Obwohl wir auch heute knapp 300 Mikrogramm Feinstaub haben (PH 2,5) denken sie, alles ist in Ordnung, weil die Sonne wieder zu sehen ist."
Für das fehlende Bewusstsein macht er Regierungsmitglieder wie Harsh Vardhan verantwortlich, der so tut, als bräuchten die Menschen nur täglich ein paar Karotten essen und die Luftverschmutzung könne ihnen nichts mehr anhaben. "Ich rate meinen Patienten zwar, sich öfters die Augen zu waschen und verschreibe ihnen homöopathische Medizin wie Vanadium Metalicum. Aber ich sage ihnen klipp und klar, dass das alles nur kurzfristige Notfallmaßnahmen sind. Nichts hilft gegen Luftverschmutzung, außer sie zu beenden, und dafür müssen auch meine Patienten ihr Leben ändern."
Dass die Regierung die Umweltprobleme aus eigenem Antrieb löst, daran glaubt Arun schon lange nicht mehr: "Aber ich tue mein möglichstes, um meinen Patienten die Ursachen des Problems und seine Lösung bewusst zu machen. Dazu gehört auch, die Regierung mit Protest auf der Straße unter Druck zu setzen."
Dass die Sache mit der Bewusstmachung gar nicht so einfach wird, deutet der mehrfach ausgezeichnete Umweltjournalist Bharat Dogra gegenüber Telepolis an:
Ich habe früher regelmäßig für alle großen indischen Zeitungen geschrieben, doch seit ein paar Jahren werden meine Beiträge fast immer abgelehnt. Selbst unser ehemaliges Flaggschiff des Journalismus The Hindu wird immer regierungstreuer, weil Redakteure und Journalisten Angst um ihren Job haben.
Bharat Dogra
Wie ihm gehe es auch vielen andere Kollegen, die über Umweltzerstörungen schreiben und die Taten der Regierung kritisch sehen. Auch wissenschaftliche Mitarbeiter von Nicht-Regierungs-Organisation seien aus Angst vor Strafmaßnahmen der Regierung zahm geworden. Doch unterkriegen lässt sich Dogra davon nicht:
An die Presse als Antriebsfeder zur Veränderung glaube ich nicht mehr - aber daran, dass sich die Bürger in aller Welt miteinander vernetzten und den Protest auf die Straße trage.
Bharat Dogra
Er selber habe eine Kampagne gegründet, die zum Ziel habe, dass sich die Welt bis 2030 grundlegend ändere: "Abschaffung aller Atomwaffen und ein Stopp der Erderwärmung bei maximal 1,5° Grad Celsius." Als der 63-jährige meinen Gesichtsausdruck sieht, lacht er jugendlich ausgelassen: "Ich weiß, dass dies utopisch klingt. Aber zumindest meine Mitstreiter und ich werden tun, was wir können, damit es gelingt."