Lula - auch nur ein Genosse der Bosse?
ThyssenKrupp baut in Brasilien seit 2006 für Milliarden Euro ein riesiges Stahlwerk, das nach Kritikern die Lebensgrundlage von Fischern und die Umwelt bedroht
Wie wenig sich in Brasilien unter dem einstigen Hoffnungsträger Lula da Silva als Staatspräsidenten geändert hat, zeigt das Beispiel eines Stahlwerkbaus von ThyssenKrupp. Was von Lulas Regierung als industrielle Großtat gefeiert wird, bezeichnen Menschen aus der Region als Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz von rund 8.000 Fischern.
Seit September 2006 baut ThyssenKrupp zusammen mit dem brasilianischen Bergbaukonzern Vale an dem Stahlwerkkomplex im Bundesstaat Rio de Janeiro. ThyssenKrupp hält mit 73 Prozent die Mehrheit an der Companhia Siderúrgica do Atlântico (CSA) in der Bucht von Sepetiba. In Presseberichten ist die Rede von der größten deutschen Auslandsinvestition der letzten Jahre in Brasilien – bis zu 5,9 Milliarden Euro werden in das Projekt investiert.
Der gesamte Komplex setzt sich zusammen aus einem integrierten Stahlwerk mit einer Jahresproduktionskapazität von anfänglich 5,5 Millionen, später soll der Ausstoß auf bis zu zehn Millionen Tonnen ausgebaut werden. Der erzeugte Stahl ist zu 60 Prozent für die USA und zu 40 Prozent für Deutschland bestimmt.
Durch Baggerarbeiten wurden den Fischern und Umweltschützern zufolge giftige Stoffe freigesetzt, die eine Vorgängerfirma dort abgelagert hatte. Die Wasserqualität habe sich dadurch massiv verschlechtert, der Fischbestand sei deutlich zurückgegangen. Das Werk entstehe außerdem mitten in einem Naturschutzgebiet, für den Bau sei illegal der Wald gerodet worden. So die Kritiker.
In einer Stellungnahme von ThyssenKrupp sieht das ganz anders aus. Gegenüber Telepolis wies die Konzernpressestelle alle Vorwürfe als unbegründet zurück. In einer schriftlichen Stellungnahme heißt es:
Als Verbindung zum Hafen des Unternehmens wurde der Bau einer Fahrrinne notwendig. ThyssenKrupp CSA wandte hierfür eine moderne Ausbaggerungstechnik an, die zuvor noch nie in Brasilien verwendet worden war. Damit wurde die Verteilung der in den oberen Sedimentschichten der Sepetiba Bay abgelagerten Schwermetalle vermieden. In diesem kontaminierten Gebiet wurde ein Verfahren angewandt, das in Deutschland in einem ähnlichen Fall von Umweltschädigung im Rostocker Hafen aber auch in der Elbemündung bereits erfolgreich eingesetzt worden war.
In Abstimmung mit brasilianischen Fachleuten und den zuständigen Umweltbehörden schlugen Spezialisten der Universität Hamburg (Institut TU TECH) ein Dekontaminierungsverfahren vor und beaufsichtigten die entsprechende Durchführung. Dabei wurden die Rückstände entfernt und in Schichten innerhalb unterirdischer Höhlen sicher gelagert, ohne aufgewühlt zu werden. Das bedeutet, dass der kontaminierte Aushub nicht verklappt wurde, sondern umweltschonend mit hohen Kosten nachhaltig versiegelt wurde.
Diese Lösung erhielt die Zustimmung und die erforderliche Genehmigung durch die brasilianischen Umweltbehörden, die erstmals neue und strenge Auflagen erließen, um die Auswirkungen der Ausbaggerung der Fahrrinne im Hafengebiet so gering wie möglich zu halten. Sämtliche Auflagen wurden von ThyssenKrupp CSA in vollem Umfang eingehalten. Während und nach Durchführung der Ausbaggerung wurden die Wasserqualität sowie die Fauna und Flora ständig kontrolliert. Nach Abschluss der Arbeiten war in einigen Gebieten der Bucht ein Anstieg der Fischpopulation festzustellen…
ThyssenKrupp CSA
Angesichts solcher Darstellungen fragen sich die Fischer und die sie unterstützenden Umweltschützer, ob beide – der Stahlkonzern und die betroffenen Fischer – wirklich vom gleichen Projekt reden. Während für ThyssenKrupp alles paletti ist, berichten Umweltgruppen davon, dass der giftige Schlamm zum Teil auf ein benachbartes Kasernengelände der Streitkräfte geschafft wurde und dort offen lagert. Überprüfungen dieser Behauptung waren bisher nicht möglich – es handelt es sich um militärisches Sperrgebiet.
Mit der brasilianischen Armee ist die deutsche Rüstungsindustrie seit Jahrzehnten eng verbunden. Das Land gehört zu den Großabnehmern deutscher Rüstungstechnologie bis hin zur Raketentechnologie. In den 80er Jahren wurde mit Brasilien darüber hinaus ein Atomvertrag geschlossen, der den gesamten Brennstoffkreislauf enthielt – einschließlich einer Urananreicherungsanlage.
Für den Brasilienkenner und entwicklungspolitischen Fachautor Siegfried Pater reiht sich das ThyssenKrupp-Stahlwerk in eine lange Reihe von "Umweltskandalen deutscher Konzerne". Die haben Pater zufolge "in Brasilien Tradition." So vertrieb die VW-Tochter in Amazonien mit ihren Rodungen für Rinderfarmer die indigene Bevölkerung. Siemens machte durch den Staudammbau am Rio Sao Francisco tausende Bauern zu Flüchtlingen. "Und nun taucht Thyssen Fischer ins Elend!", sagt der ehemalige Entwicklungshelfer. "So viele Entwicklungshelfer gibt es gar nicht, um den Opfern dieser deutsch-brasilianischen Zusammenarbeit beizustehen."
Fischer kämpfen ums Überleben
Liest man aber die Stellungnahme des Konzerns, so stellt sich unweigerlich die Frage, warum die Stahlbauer bisher nicht mit Dutzenden von Umwelt-, Menschenrechts- und Wirtschaftspreisen ausgezeichnet wurden? Denn "als global tätiges Unternehmen, das sich seiner sozialen Verantwortung sehr bewusst ist", setze der ThyssenKrupp Konzern "soziale Maßstäbe an all seinen Standorten weltweit". Es verstehe sich von selbst, dass bei allen Aktivitäten örtliche Gesetze und Vorschriften eingehalten würden. Der ThyssenKrupp Konzern verstehe sich als Teil der Gesellschaft an allen Standorten des Unternehmens und engagiere sich weltweit als guter Nachbar vor Ort.
Das Stahlwerk in Brasilien werde nicht nur von der brasilianischen Regierung, sondern auch von der örtlichen Bevölkerung mehrheitlich begrüßt. Lediglich eine "kleine Minderheit" protestiere gegen das Stahlwerk und konfrontiere ThyssenKrupp seit zwei Jahren "mit immer gleichen Vorwürfen, die jeglicher Grundlage entbehren". Das Projekt schaffe in der Bauphase in einer sozial schwachen Region im Westen von Rio de Janeiro "mehr als 20.000 Arbeitsplätze" direkt. Indirekt seien für den Bau schätzungsweise weitere 70.000 Arbeitsplätze gesichert. Wenn das Stahlwerk in Betrieb gehe, würden insgesamt nachhaltig mehr als 12.000 Arbeitsplätze geschaffen.
Nicht erwähnt wird, dass für das Großprojekt auf Jahre hin mit der brasilianischen Regierung Steuerfreiheit vereinbart wurde. Die Zahl der in der betroffenen Region tätigen Fischer beziffert ThyssenKrupp unter Berufung auf "lokale Erhebungen" auf "deutlich weniger als 10 Prozent der örtlichen Bevölkerung".
Luis Carlos Oliveira gehört zu dieser ThyssenKrupp zufolge "kleinen Minderheit". Er gehört auch zu jenen, die etwas anderes erwartet haben vom Arbeiterführer Lula als Präsidenten. Statt, wie versprochen, ein besseres Leben in Sicherheit bedeutete für ihn die nun die bald endende Regierungszeit des einstigen brasilianischen Hoffnungsträgers Lula den wirtschaftlichen Ruin als Fischer und ein Leben in Angst.
Auf Einladung des Berliner FDCL (Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Latainmaerika und des bundesweiten Netzwerks der Brasilien-Solidarität (KoBra) konnte Oliveira nach Deutschland reisen und auf verschiedenen Veranstaltungen über die Probleme mit dem Stahlwerk berichten. Mit Unterstützung der Kritischen Aktionäre und Aktionärinnen konnte er auch auf der Hauptversammlung von ThyssenKrupp in Bochum sprechen.
Oliveira forderte eine Entschädigung für die Verdienstausfälle der Fischer und die ökologische Wiederherstellung der Bucht. "ThyssenKrupp beutet das hochwertige Erz aus, uns lassen sie die Schlacke", so Oliveira vor den ThyssenKrupp-Verantwortlichen in Bochum. Die Kritischen Aktionäre machten das Stahlwerk auch zum Thema von Gegenanträgen.
Zu Hause in Brasilien wird Oliveira von paramilitärischen Milizen bedroht, von denen einzelne nach Darstellung brasilianischer Menschenrechtsgruppen sogar im Dienst des Stahlunternehmens stehen. Im Gespräch mit Telepolis schildert Oliveira einen konkreten Fall:
Am 6. Februar vergangenen Jahres sei er aus einem Luxuswagen heraus von einem Mann mit einer Waffe bedroht worden, erklärt Oliveira und weiter: "Ich konnte den Mann, der mich bedrohte, bei einer Anhörung im Parlament von Rio de Janeiro eindeutig identifizieren: Er ist Roberto Barroso, der Sicherheitschef des Stahlwerks. Er wurde 2005 als Supervisor des Werkschutzes eingestellt, nach den öffentlich erhobenen Vorwürfen für kurze Zeit suspendiert und wurde dann wieder eingestellt. Dass dieser Herr bei dem brasilianischen Stahlkonzern angestellt ist, bestätigten Konzernanwälte auf einer Anhörung der Menschenrechtskommission des Abgeordnetenhauses von Rio (ALERJ).
Auch in einem Dokument des brasilianischen Menschenrechtssekretariats wird eine Verbindung zwischen den Milizen und dem offiziellen Werkschutz der Baustelle hergestellt. Oliveira wurde aufgrund der Drohungen in das Schutzprogramm der brasilianischen Regierung aufgenommen. Nun muss er sich in seiner brasilianischen Heimat versteckt halten. "Ich lebe weit weg von meiner Familie in wechselnden Bundesstaaten und kann meinem Beruf nicht nachgehen", sagte der Fischer.
Brasilien-Stahlwerk auch Thema im Bundestag
Im Bundestag thematisieren die Abgeordnete Heike Hänsel und ihr Fraktionskollege Niema Movassat (MdB Die Linke) das Stahlwerk in Sepetiba. Auf ihre Initiative kam ein Fachgespräch im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit zustande, an dem der Fischer aus Brasilien und Vertreter von ThyssenKrupp teilnahmen. Das erste direkte Gespräch dieser Art überhaupt.
Für Niema Movassat (MdB Die Linke) ist das Stahlwerk in Sepetiba "eines von vielen Negativbeispielen für deutsche Auslandsinvestitionen". Wenn die neue Bundesregierung Menschenrechte als zentralen Aspekt der Entwicklungszusammenarbeit verankern wolle, dann müsse gerade das für das Handeln deutscher Konzerne im Ausland gelten.
In einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken hatte die damalige schwarz-rote Bundesregierung bereits 2008 ihre Kenntnis der zuvor auf dem "Tribunal der Völker" in Lima erhobenen Vorwürfe gegen ThyssenKrupp bestätigt. Die Bundesregierung hat auch Kenntnis von den Umweltbelastungen in der Bucht von Sepetiba. Denn diese wurden "nach Erkenntnissen der Bundesregierung bereits in den 1980er Jahren im Rahmen der Technischen Zusammenarbeit mit Brasilien im Rahmen eines GTZ-Projekts gemeinsam mit der Umweltbehörde FEEMA dokumentiert". Dokumentiert - aber nicht beseitigt.