MH17: Was will Russland mit den angeblich gerade gefundenen Radardaten bewirken?
Moskau will Kiew und Washington vor dem ersten Bericht des Gemeinsamen Untersuchungsteams entlarven - allerdings wenig überzeugend
Heute will das von der niederländischen Staatsanwaltschaft geleitete Gemeinsame Ermittlungsteam (JIT), das den Abschuss von MH17 strafrechtlich aufklären soll, erste Ergebnisse veröffentlichen (MH17: Aufklärung Ende September?). Ob auf Täter gezeigt wird, bleibt offen, man will darlegen, mit was und auch von wo das Passagierflugzeug abgeschossen wurde.
Bekannt wurde zuletzt, dass das JIT offenbar Tests mit Buk-Raketensystemen in Finnland durchgeführt hat. Das hat der Telegraaf gestern berichtet. Finnland bestätigte, bei der Ermittlung geholfen zu haben. In dem Land wurden früher auch Buk-Systeme genutzt, die alle in Russland hergestellt wurden. Wenn daher von einem russischen Buk-System die Rede ist, mit dem MH17 abgeschossen wurde, dann bleibt die Frage ungeklärt, wer sie abgeschossen hat.
Wie der Telegraaf berichtet, hat das JIT mit mehreren Systemen Versuche durchführen lassen, dabei habe sich herausgestellt, dass die MH17 mit einem russischen, nicht mit einem ukrainischen System abgeschossen worden sein soll. Dagegen hat Russland stets Einwände erhoben. Nach dem Telegraaf wird nun nur noch überlegt, welches Gericht die Anklage gegen die Verdächtigen verfolgen wird. Das werde abhängig davon sein, von wo aus die Rakete abgeschossen wurde. Ein nationales Gericht wäre bei einzelnen Verdächtigen besser, weil diese leichter ausgeliefert werden können, bei einer Gruppe wäre ein internationales Gericht geeigneter.
Man kann sich fragen, ob nun Russland in einen Panikmodus geraten ist. Der russische Rüstungskonzern Almaz Antey, der die Buk-Systeme herstellt, hatte bereits eigene Tests gemacht, mit denen angeblich die Ergebnisse des Berichts des Dutch Safety Board widerlegt wurden, dass es sich um ein russische Buk-System handelte.
Nach dem Hersteller sei die verwendete Rakete schon länger in Russland abgeschafft worden. Jetzt will Almaz Antey plötzlich primäre Radardaten vom Abschusstag haben. Zuvor hieß es stets, man habe diese nicht aufbewahrt, während Kiew erklärt hatte, dass die Radarsysteme ausgerechnet an diesem Tag nicht angeschaltet waren bzw. gewartet wurden.
Natürlich handelt der Rüstungskonzern im Auftrag der Regierung. Das russische Außenministerium erklärte denn auch, dass die Angehörigen der Opfer schon lange auf die Daten gewartet hätten. Das Vorpreschen des Konzerns wurde als vorbildhaft für andere Staaten geschildert, auch ihre relevanten Daten herauszugeben. Das richtet sich an die Ukraine, aber auch an die USA, da US-Außenminister Kerry kurz nach Abschuss erklärt hatte, die Amerikaner hätten Beweise etwa in Form von Satellitenaufnahmen, die aber niemals herausgegeben wurden.
Die russischen Staatsmedien transportieren die Botschaft: Russland veröffentlicht Radardaten vom Absturztag, USA weigern sich dasselbe zu tun.
Dumm ist nur, dass Russland bzw. das russische Verteidigungsministerium keine Erklärung dafür liefert, warum die jetzt propagierten Radardaten der Version widersprechen, die man schnell nach dem Abschuss gegeben hatte. Damals wurde aufgrund von Daten versichert, es habe sich ein Kampflugzeug in der Nähe von MH17 befunden. Spekuliert wurde, dass dieses mit einer Luft-Luft-Rakete MH17 abgeschossen habe. Zudem wurde gesagt, MH17 habe eine überraschende Kurve nach Norden geflogen.
Jetzt heißt es, dass die von der Station Ust-Donetsk, 175 km entfernt von der Absturzstelle, aufgezeichneten und auf Speicherchips aufbewahrten Radardaten beweisen würden, dass es kein weiteres Flugzeug, abgesehen von zwei Passagiermaschinen, in der Nähe von MH17 gab. Die Speicherchips seien zufällig wieder aufgetaucht, nachdem sie kurz nach dem MH17-Abschuss ausgewechselt wurden.
Das Timing erweckt allerdings nicht gerade Vertrauen. Angeblich könne das Radarsystem auch nichts zeigen, was südlich oder westlich in Richtung von MH17 geflogen ist. Eine größere Kursabweichung gebe es auch nicht. Man habe nichts gesehen, was MH17 gefährlich werden könnte, eine Buk-Rakete aus dem Separatistengebiet hätte man gesehen, da man auch eine kleine Orlan-10-Überwachungsdrohne zu der Zeit in der Gegend entdeckt habe. Das JIT teilte mit, man werde auf die von Russland überreichten Daten eingehen.
Russische Staatsmedien wie Sputnik wollen die angebliche Freigabe der Daten dazu instrumentalisieren, der Ukraine die Schuld für den Abschuss zuzuschieben, weil Kiew angeblich keine Daten hat bzw. herausgeben will. Das russische Verteidigungsministerium behauptet, man habe entdeckt, dass eine ukrainische Radarstation in der Nähe der Absturzstelle zum Zeitpunkt des Absturzes aktiv gewesen sei. Zudem wird behauptet, man würde beobachtet haben, wenn eine Buk-Rakete vom Gebiet abgeschossen worden wäre, das von den Separatisten kontrolliert wurde.
Was auch immer das JIT vorlegen wird, dürfte von Russlands Seite widersprochen werden. Man darf vermuten, dass die Aufklärung nicht weiter vorankommen wird, als Indizienbeweise vorzulegen, die auch widerlegt werden können. Man muss auch konstatieren, dass die USA kein gesteigerten Interesse zu haben scheinen, mit Beweisen die Schuldzuweisung an die Separatisten belegen zu wollen.
Entweder hat Kerry in einem Vorstoß geschwindelt oder man will die Daten nicht herausgeben, weil dies Rückschlüsse auf die amerikanischen Überwachungstechniken erlauben oder auf politisch nicht opportune Verantwortliche lenken würde. Oder man will die Russen nicht düpieren, die zwar zum neuen großen Feind erklärt wurden, die man aber im Nahen Osten benötigt.
Und sollte man annehmen, dass die russische Seite dreist der Überzeugung ist, sie könnte der Öffentlichkeit nun vermeintliche Fakten präsentieren, die den vor zwei Jahren präsentierten "Beweisen" widersprechen, ohne dass dadurch Zweifel an der Glaubwürdigkeit geschürt werden? Das scheint die Argumentation von Bellingcat zu sein.
Oder ist die Präsentation angeblich gerade gefundener Daten ein Beleg dafür, dass Moskau willens ist, die Untersuchung zu unterstützen? Das wird wahrscheinlich eine Entscheidung zwischen einer pro- und antirussischen Einstellung bleiben. In Zeiten des wieder belebten Ost-West-Konflikts wird Wahrheit oder auch eine neutrale Haltung zu einem flüchtigen Gut.