Macron: Sieger auf dünnem Boden
Nicht sein Programm verhilft ihm zur Fortführung der Präsidentschaft, sondern die Angst, dass Neue Rechte mit ihren Mythen ein großes Land regieren. Le Pen feiert einen Erfolg als "falsche Linke". Ein Kommentar
Nach der Wahl ist vor der Wahl. Emmanuel Macron wurde in der Stichwahl wiedergewählt, aber jetzt geht es in die dritte Runde. Schon wenige Stunden nach dem deutlichen Sieg des Amtsinhabers in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen über seine Konkurrentin Marine Le Pen - mit 58,54 Prozent gegenüber 41,46 Prozent -, setzte der Wahlkampf für die Parlamentswahlen im Juni ein.
Mit welcher Parlamentsmehrheit wird es der neue alte Präsident zu tun haben? Der Vorsitzende der linken Partei La France insoumise, Jean-Luc Mélenchon, rechnet sich gute Chancen auf den Posten des Premierministers aus. Er hatte im ersten Wahlgang viele Stimmen geholt und verfehlte den Einzug in die Stichwahl nur knapp. Es wird ein harter Wahlkampf, prognostizieren Stimmen aus Frankreich.
Macrons Sieg war kein Triumph; er hat ihn nicht zuvorderst seiner Politik zu verdanken. Wie er selbst einräumte, wählten ihn viele, um Le Pen zu verhindern. In seiner Ansprache wandte er sich direkt an die Wähler Le Pens und an die vielen, die sich der Stimme enthielten, gar nicht erst in die Wahllokale gingen oder einen leeren oder ungültigen Stimmzettel abgaben.
Abkehr vom Leerlauf
28,1 Prozent gingen gar nicht zur Wahl, nur vor einem halben Jahrhundert, 1969, zählte man noch mehr Stimmenthaltungen; 6,35 Prozent gaben einen leeren Stimmzettel ab und 2,25 Prozent einen ungültigen.
Das sind beunruhigende Zahlen für ein Land, das sich als Vorreiter demokratischer Werte begreift. Es gebe ein wachsendes Gefühl in der Bevölkerung, vor allem unter den Jüngeren, "dass es nichts mehr zu tun gibt, dass alles entschieden ist", beschrieb der Schriftsteller Nicolas Mathieu kürzlich dem Figaro gegenüber das Klima. "Was heute ein Problem darstellt, ist im Grunde das Gefühl, dass die Demokratie leerläuft."
Nun ist das die Aussage eines Schriftstellers, keines Politikanalysten, allerdings des Verfassers eines vielgelesenen Romans, der sich mit Befindlichkeiten innerhalb der Classes populaires befasst. Für "Leurs enfants après eux" (dt. Wie später ihre Kinder) erhielt er den Prix Concourt 2018. Aus der Luft geholt ist seine Einschätzung nicht.
Ebenso wenig wie die Tatsache, dass sich Macron schon bei seinem Wahlsieg 2017 an die Wähler Le Pens und die große Menge der Nichtwähler wandte, um ihnen zu versprechen, dass er sie ins Boot seiner Politik hole. Aus diesem Versprechen ist nicht viel geworden.
Große Erleichterung, dass es Le Pen nicht geschafft hat
Marine Le Pen hat nicht gewonnen - die Erleichterung darüber ist nicht nur in Frankreich, sondern in der EU-Führung, in Nachbarländern und in Deutschland groß. Es ist das vorherrschende Gefühl in der politischen Klasse jenseits der Rechten und der Populisten. Aber Le Pen hatte Erfolg. In ihrer Darstellung sind die über 41 Prozent sogar "ein strahlender Sieg".
Das zeigt ein offensichtlich bizarres Verhältnis zur Realität, das sich wenig um Wirklichkeiten kümmert, die nicht in eine "Vision" passen. Das kennt man auch von ihrem politischen Idol Donald Trump. Zu den Fakten gehört, dass sie keine Mehrheit hatte. Dass die Mehrheit in Frankreich keine extrem rechte Präsidentin wollte.
Aber zu den Fakten gehört auch, dass sie mehr Stimmen geholt hat, als es die Rechten am Rand des politischen Spektrums zuvor geschafft haben. Anders gesagt: Mit ihr hat sich der kosmetisch behandelte Rechtsextremismus fest etabliert. Er ist kein Findling mehr in der politischen Landschaft Frankreichs, sondern eine Moräne.
Mit Marine Le Pen erreicht die extreme Rechte im Frankreich des Jahres 2022 ein bisher unbekanntes Niveau. Während sie 2017 33,9 Prozent der Stimmen erhalten hatte, legte sie innerhalb von fünf Jahren um mehr als 7 Prozentpunkte zu und erhielt mehr als 13, 2 Millionen Stimmen (gegenüber 18,7 Millionen für Emmanuel Macron und 15,4 Millionen nicht abgegebenen Stimmen). Das reicht aus, um ihre Niederlage als Erfolg zu werten.
Le Monde
Die genauen Auswertungen zur politischen Landschaft werden im Lauf des heutigen und der nächsten Tage folgen. Gestern Abend zeigte sich schon, dass Le Pen in den Überseegebieten Frankreichs Siege erreicht hat, heute hieß es, dass sie in den Départements l’Oise, Somme, Vosges, Meuse, Pyrénées-Orientales, Gard, Var oder Vaucluse gewonnen hat. Zum Vergleich 2017 war das nur in zwei Départements der Fall: in Pas-de-Calais und Aisne.
Wahlkampf als "falsche Linke"
Das Bemerkenswerte daran ist, dass sie das mit einem Wahlkampf geschafft hat, den sie als "falsche Linke" geführt hat. Sie hat sich an le peuple gewendet, mit Ansprachen und Themen, die auf das Soziale gesetzt haben.
Dass sie dabei auf dem populistischen Register gespielt hat, mit vielen Vereinfachungen und zugleich mit Ausgrenzungen gegenüber Einwanderern aus muslimisch geprägten oder dominierten Ländern, dass ihre Vorschläge teilweise nicht mit der Verfassung vereinbar waren, dass sie xenophob ausfallen und realpolitisch kein Gewicht (siehe z.B. ihre Vorschläge zur Energiepolitik: der Ausbau der Atomenergie, der Abbau der Windkraftwerke) haben und doch so gut ankamen, legt eine große Schwäche und Ignoranz der Konkurrenz bloß.
Was ist los mit sozialpolitischen Vorstellungen, Plänen, Ideen und Szenarios der Linken, der Mitte-Parteien oder auch der gemäßigten Rechten, wenn eine früher rechtsextreme Kandidatin derart erfolgreich mit einem nationalistischen Ausgrenzungsprogramm unter ihren angestammten Wählerschichten Stimmen holen kann? Weil sie die Menschen besser anspricht?
Die Frage ist ja nicht neu, sie stellt sich seit mehr als fünf Jahren. Dass es noch immer keine überzeugende Antwort darauf gibt, zeigt, dass sich die politische Krise der Glaubwürdigkeit, der politischen Partizipation, der Erwartungen, die an die Politik gestellt werden, die aus Frust in Überdruss und Wut wechseln, und der sozialen Gerechtigkeit weiter vertieft hat.
Es gibt die Krise nicht nur in Frankreich. Damit sind mehr oder wenige alle westlichen Länder, die frühere Erfolgsmodelle sozialliberaler Politik waren, konfrontiert.
Le Pen und andere neue Rechte profitieren von diesem Klima, weil sie es schaffen, einen bestimmten Irrationalismus einzufangen, der mit einer "Spiritualität" einhergeht, die sich mit Traditionen verbindet, die anders geartet sind als die Traditionen der gemäßigten Konservativen, sie spielt mit Mythen, vor allem wenn es um Identitäten geht.
Eine neue Chance für die Linke?
Jetzt müssen es die Aufklärer schaffen, mit einer besseren Realpolitik dagegen zu steuern. Die Wahl zum Parlament im Juni ist die Chance der Linken, unter Führung von Jean-Luc Mélenchon, ein Gegengewicht zu Macrons Präsidentschaft zu schaffen, seinem Autoritarismus, seinen Elitismus und seine Selbstherrlichkeit politisch etwas entgegenzusetzen, das realpolitisch umgesetzt werden kann. Mit diesem "Cohabitions"-Modell könnte das Parlament in der V. Republik zu neuer Geltung kommen.
Doch dahin ist ein weiter Weg für Mélenchon - für Le Pen ist er noch schwieriger, weil ihr das Mehrheitswahlrecht wenig Chancen gibt, gegen Allianzen vorzugehen. Allerdings lässt der Präsident, der nicht dank seines Programms überzeugt hat, Lücken:
Aber man kann sehr wohl gleichzeitig legitim und fragil sein. Emmanuel Macron wurde eher aufgrund von Ablehnung als aufgrund seines Projekts gewählt und gewann am Ende einer verdeckten Kampagne ohne Schwung und Elan. Er kann sich nicht rühmen, dass es eine Mehrheit für sein Programm oder seine Person gibt.
Figaro