Macron, der Hyperpräsident: Wer wird opponieren?

Screenshot aus seiner "Planet first"-Rede, YouTube

Nach der ersten Runde der Parlamentswahlen zeichnet sich eine historische Mehrheit für eine jüngst gegründete Partei ab. La République en marche absorbiert die Sozialdemokratie

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Es gab bei der ersten Runde der französischen Parlamentswahlen mehr Stimmenthaltungen (51,29 Prozent) als abgegebene Stimmen (48,71 Prozent). Man muss sich die Menge vor Augen führen, um das Wahlergebnis einzuschätzen.

Laut offiziellem Ergebnis sind es weit über 24 Millionen Enthaltungen (24.401.132). Das sind sehr viele Nichtwähler, ein Rekord. Knapp über 23 Millionen (23.170.218) gaben einen Stimmzettel ab. Ungefähr eine halbe Million unter ihnen steckten einen ungültigen, leeren oder falsch ausgefüllten Wahlzettel in die Urne. So kamen die Auszähler auf 22 Millionen 654 Tausend 564 gültige Stimmen.

Diese Franzosen waren sehr großzügig mit ihrem Vertrauen. Anders als in Großbritannien oder in deutschen Landtagswahlen stellten sie die Weichen für eine eindeutige Regierungsmehrheit im Parlament. Das französische Wahlsystem ist anders als in Deutschland, erst die Mehrheit in den Stichwahlen der zweiten Runde entscheidet, wer Abgeordneter wird. Aber die Schätzungen deuten darauf hin, dass die Partei des Präsidenten Macron mit über 400 Sitzen von 577 in der Nationalversammlung rechnen kann.

Ein politisches Kunststück

Laut Le Monde könnten es zwischen 415 und 455 Sitze sein. In der Theorie ist es möglich, dass eine Kandidatin oder ein Kandidat in der zweiten Runde sein Gegenüber, das bei der ersten Runde zwar nicht die absolute Mehrheit, aber mehr Stimmenanteile erhielt, übertreffen kann, die bisherigen Erfahrungen sprechen gegen solche Überraschung in einem relevanten Ausmaß.

Mit der anstehenden Bildung einer großen Mehrheit ist Emmanuel Macron ein politisches Kunststück gelungen. Derart deutlich war der Rückhalt in der Kammer für einen Präsidenten der V. Republik noch selten. In Deutschlands politischen System wäre kaum denkbar, dass eine politische Bewegung sich binnen eines Jahres (Gründung von "En Marche!": 6. April 2016) zu einer Mehrheitsfraktion im Bundestag entwickelt.

Dies zu verwirklichen, dazu gehört auch in Frankreich einiges an konzeptuellen, organisatorischen und Mobilisierungsfähigkeiten. Das ist nicht zu übersehen, selbst wenn man dem politischen Programm Macron mit großem Misstrauen gegenübersteht. Die Hofberichterstattung-Unterstützung durch die französischen Medien - exemplarisch dafür: Le-Monde-Mitbesitzer Pierre Bergé unterstützte Macron ganz offiziell, ist ist ein wichtiger Erfolgsfaktor, aber nicht der einzige. Das Lied von der Herde, die den "Manipulatoren" folgt, ist ein gar zu billiges Stück in Deutschland wie auch im diskussionsfreudigen Frankreich, wo in Gesprächen und Debatten in Radioprogrammen, Foren und im privatem Austausch sehr differenzierte Äußerungen aufkommen.

Die Partei La République en marche (LRM) musste sehr schnell viele Kandidaten aufstellen. Dass das nicht ganz einfach ist, zeigt sich am Front National, der mit einer flächendeckenden Aufstellung für Wahlen immer wieder vor Probleme gestellt wurde. Macron hat dafür in einem größeren Maß, wie er dies auch versprochen hatte, auf bislang im Politikbetrieb unbekannte Personen zurückgegriffen.

Dass die frisch gegründete Partei die Sozialdemokraten vom PS mehr oder weniger absorbiert hat, dass auch die Rechte, soweit sie von den Republikanern vertreten wird, viel weniger Sitzen gewinnen wird, als sie es erwartete, macht einen Wunsch nach Veränderung deutlich. Die etablierten politischen Kräfte haben Vertrauen verloren, wie man auch an Niederlagen von prominenten Politikern der "alten Klasse" in ihren Bezirken sehen kann. Die Unterstützung Macrons durch Finanzwirtschaft, Banken und Unternehmen versuchte diesen Veränderungswunsch mit beträchtlichem Aufwand zu kanalisieren.

Die anderen Parteien: abgeschlagen

Die Prozentzahlen geben anders als in Deutschland wenig mehr als Anhaltspunkte. Sie zeigen Verhältnisse und Entwicklungen, aber keinen direkten Zusammenhang mit der Sitzverteilung. Die konservativen Republikaner liegen 15,8 Prozent an zweiter Stelle hinter Macrons Partei LRM (28,2%) , an dritter Stelle kommt in dieser Darstellung der Front National (13,2 Prozent), an vierter Mélenchons La France Insoumise (11,02%), an fünfter Stelle liegt der PS mit 7,4 Prozent.

Dass Le Pen trotz der fast drei Millionen Stimmen für Kandidaten des FN mit einer einstelligen Zahl an Sitzen rechnen muss, soweit Schätzungen recht behalten, zeigt, wie irreführend diese Prozentzahlen sein können, wenn es um die tatsächlichen Machtverhältnisse im Parlament geht.

Die große Sitzmehrheit, die sich für La République en marche abzeichnet, könnte derart ausfallen, dass LRM auch die Stimmen ihres politischen Partners Modem nicht nötig hat. Das ist angesichts der Affären, mit der Modem-Politiker in der jüngsten Vergangenheit konfrontiert waren - es ging wie bei Fillon um gut entlohnte Beschäftigungen von Ehefrauen oder Angehörigen in der Assistenz des Parlamentariers -, eine komfortable Ausgangsposition.

Arbeiter, Angestellte und zwei Drittel der Unter-35-Jährigen blieben der Wahl fern

Wie Mélenchon seinen Anhängern in einem Video deutlich zu machen versuchte, ist die Parlamentswahl ernst zu nehmen. Es geht um Abstimmungsmehrheiten bei Gesetzen, die Frankreich verändern werden. Macron hat vor, die Wirtschaft weiter zu liberalisieren. Sein Ansatz lautet verkürzt: Geht es den Unternehmern gut, dann geht es der Wirtschaft gut. Die Unternehmer sollen die Möglichkeit bekommen, Arbeitszeiten direkt im Unternehmen mit Arbeitnehmern auszumachen. Kündigungen sollen erleichert werden.

Auch sicherheitspolitisch hat Macron Vorschläge, die eine starke Opposition benötigen (siehe Macron will Ausnahmezustand in normales Gesetz überführen). Bestätigt sich der Wählertrend auch bei den Stichwahlen, wächst die Neugier darauf, wie die politischen Auseinandersetzungen in Frankreich künftig aussehen werden, welche außerparlamentarische Opposition sich zeigt.

Die "Kader", Personen auf Führungsebenen, sind mehrheitlich zur Wahl gegangen (55%) , Angestellte und Arbeiter sind ihr mehrheitlich ferngeblieben (61 und 66%).

Etwa zwei Drittel der jungen Wahlberechtigten im Alter unter 35 gehören ebenfalls zu den Nichtwählern.

Die deutsche Kanzlerin Merkel gratulierte über ihren Regierungssprecher Seibert: "Mein herzlicher Glückwunsch an Emmanuel Macron (...) Starkes Votum für Reformen."