Macron und die soziale Gerechtigkeit: Die nächsten Machtproben
Den Auftakt bildet der heutige Streik, der den öffentlichen Verkehr in Paris größtenteils lahmlegt
Dem französischen Präsidenten und seiner Regierung stehen einige Proteste ins Haus. Ob da ein "heißer Herbst" aufzieht, bleibt noch abzuwarten. Aber der Schock der Gelbwestenproteste, die in dieser Wucht nicht erwartet worden waren, sitzt tief. Möglich ist viel, Macron selbst hatte zuletzt noch einmal dahingehend geäußert, dass die Sache nicht überstanden ist.
Den Auftakt der Proteste gegen Regierungsvorhaben macht am heutigen Freitag ein Streikaufruf von drei Gewerkschaften, der den Nahverkehr in Paris nahezu lahmlegt. Allein, dass drei großen Organisationen, die Unsa, die CGT und die CGC, einmal an einem Strang ziehen, ist schon eine Besonderheit. Dazu kommt, dass ihr "großer Coup" eine auffällige Wirkung hat. Bestreikt werden die Metro in Paris, Schnellbahnen (RER), Trambahnen und Busse.
Betroffen sind Millionen. Laut Libération müssen sich etwa 14 Millionen tägliche Nutzer für den heutigen Tag eine alternative Fahrgelegenheit überlegen - oder zuhause bleiben. 10 von 14 Metro-Strecken sind außer Dienst, die ersten Stationen haben um 9 Uhr 30 geschlossen und bleiben dies bis zum späten Nachmittag, informiert Le Parisien auf einem Live-Ticker.
Indessen erklärt der in Frankreich sehr bekannte CGT-Chef Philippe Martinez dem öffentlich-rechtlichen Sender France Info, dass es bald Demonstrationen zum Thema Klimapolitik geben wird. Dabei fällt das große Schlagwort der Konvergenz. Die Dringlichkeit der sozialen Gerechtigkeit und der des Klimas müssen in Aktionen miteinander verbunden werden. Einer seiner Leitsätze heißt: "Nichts rechtfertigt, dass man länger arbeitet."
"Die Rente ist heilig"
Anlass der heutigen Streiks der Beschäftigten des Pariser Nahverkehrsunternehmens RATP sind die von Macron bereits in seinem Wahlkampf für das Präsidentenamt angekündigten Rentenreformen. Sie zielen darauf, Sonderregelungen abzuschaffen. Die beiden Fronten sind verhärtet. Was die Regierung mit Unterstützung des französischen Rechnungshofes als Privilegien wertet, die für die nationale Gemeinschaft Probleme der Akzeptanz aufwerfen und also sukzessive abgebaut werden sollen, ist für die Gewerkschaften unantastbar.
"Die Rente ist heilig", wird Laurent Djebali von der bei der RATP mitgliederstärksten Gewerkschaft Unsa zitiert. Wie ernst sie das meinen, dokumentierten die Interessensvertreter der Beschäftigten bereits während der Präsidentschaft Sarkozys 2007 und 1995, als Chirac als Präsident einen Versuch in diese Richtung machte und die Streikenden den öffentlichen Dienst in Frankreich einen Monat lang lahmlegten ebenso wie den Reformeifer des Präsidenten. Auch Sarkozy verlegte seine Energien auf anderes.
Abschaffung von Sonderregelungen
Es läuft auch diesmal auf eine Machtprobe hinaus, wobei die Regierung bereits ankündigte, dass sie sich viel Zeit lassen wird mit den "Reformen", die auf eine Abschaffung der Sonderregelungen hinauslaufen. Diese bestehen im wesentlichen Kern darin, dass die RATP-Beschäftigten eine Rente beziehen, das sich anders, als in vielen anderen Beschäftigungen üblich, aus dem Gehalt der letzten sechs Monate berechnet, und vor allem aus der Möglichkeit, früh in den Ruhestand zu gehen.
Dazu wird der theoretisch mögliche Ruhestand im Alter von 52 oder sogar von 50 Jahren in die Diskussion geworfen. Praktisch müsse aber eher von einem Alter bei 55 Jahren ausgegangen werden, heißt es. In Frankreich liegt das Renteneintrittsalter bei 62 Jahren.
Angesichts der Diskussionen, die auf das Hinausschieben des Renteneintrittsalters drängen, wie man sie hierzulande auch kennt, ist naheliegend, womit die Regierung rechnet: mit der Unzufriedenheit der anderen, die solche Privilegien nicht haben (insgesamt gibt es aber immerhin 42 Sonderrentensysteme für einzelne Berufsgruppen) und mit dem Argument der Kosten, die damit verbunden sind. Die RATP muss staatlich, also vom Steuerzahler, bezuschusst werden.
Das Argument läuft auf das hinaus, was der Rechnungshof andeutet: Diese Sonderrentenregelungen sind bezogen auf die nationale Gemeinschaft sozial ungerecht.
Vonseiten der Gewerkschaft wird hingegen allgemein damit argumentiert, dass mit einem Abbau von Sozialleistungen niemandem geholfen ist, da dies das falsche Zeichen für eine politische Richtung setzt, die bei diesen Regelungen nicht haltmachen wird. Man verteidigt eine "Bastion".
Konkret wird auf die kräfteraubende Arbeit der RATP-Fahrer verwiesen, die jahrelang sehr früh aufstehen müssen und wegen der außerordentlichen Verantwortung ihrer Arbeit konzentriert bei der Sache sein müssen. Dem entgegnet die Regierung damit, dass man abgestuft vorgehen wolle und bei der Reform die unterschiedlichen Beschäftigungen (Bürojobs) berücksichtige.
Unberücksichtigt bleiben dabei aber die Existenzängste, die bei den RATP-Beschäftigten mit der Aussicht auf die private Konkurrenz erwachsen. Geplant ist die Öffnung für Private im Jahr 2024 für die Busse und 2039 für die Metro und die RER-Schnellbahnen.
Wie steht es um die "nationale Akzeptanz"?
Nun wird es darauf ankommen, wie die Stimmung im Land auf die Streiks reagiert, wie die "nationale Akzeptanz" aussieht. Ankündigungen vonseiten der Gewerkschaften, die Streiks möglicherweise auch während der Vorweihnachtszeit fortzusetzen, kühlen die Angelegenheit nicht unbedingt ab. Wie heiß die Diskussionen werden, ist noch nicht abzusehen. Macron kündigte schon mal an, möglicherweise Gesprächsrunden in ganz Frankreich nach dem Vorbild der "Großen Debatte", ausgelöst durch die Gelbwestenproteste, abzuhalten.
Vertreter der Gelbwesten kündigten für den morgigen Samstag eine Demonstration in Nantes an, wo die Polizei in den Todesfall Steve Maia Caniço im Juni verwickelt ist, was für eine langanhaltende Empörung im Land gesorgt hat (Frankreich: Brutale Polizeigewalt bringt Regierung in Bedrängnis). Bei dem nationalen Aufruf zur Demonstration setzt man wie der CGI-Gewerkschaftsführer auf eine Koppelung mit Protesten zur Klimapolitik.
Die linke Zeitung Humanité ruft ebenfalls dazu auf, die Notwendigkeit der "Klima-Proteste" mit der Notwendigkeit einer anderen Sozialpolitik zu verknüpfen und möglichst zahlreich an den für die nächste Zeit angekündigten Demonstrationen teilzunehmen. Man wird sehen, ob sich die Linke, die auf Parteiebene zuletzt viele Federn lassen musste (La France insoumise) oder um ihr Überleben kämpft (Parti socialiste), über die Straße neu erfinden kann.
"Gelbe, grüne, schwarze und rote Revolutionäre" rufen zu einer Kundgebung in Paris am 21. September auf, auch hier wird die "Konvergenz der Kämpfe" signalisiert.