Märchenfilm im besten Sinne

Super RTL zeigt heute um 20 Uhr 15 Hayao Miyazakis Meisterwerk "Chihiros Reise ins Zauberland"

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Hayao Miyazakis Sen to Chihiro no Kamikakushi ist ein Märchenfilm im besten Sinne. Er schließt direkt an die Glanzzeit der Disney-Studios an, die mit Snow White (1937) und Bambi (1942) zwei der wichtigsten Gruselfilme des 20. Jahrhunderts produzierten. Vor allem Bambi, mit seinen aus allen vier Seiten der Leinwand hervorbrechenden bösartigen und unberechenbaren Naturkräften, nahm vieles von dem vorweg, was bei Evil Dead (zurecht) als bahnbrechend gefeiert wurde. Diese Glanzzeit der Disney-Studios ist längst vorbei. In den letzten Jahrzehnten konzentrierte das Unternehmen seine Kreativität auf Lobbyarbeit für Gesetzesänderungen, die das Copyright für seine Produktionen verlängern und dem Unternehmen so eine Lizenzenrente auch ohne Innovation sichern.

Hayao Miyazaki. Foto: Thomas Schulz. Lizenz: CC-BY-SA 2.0

Die Stafette der Innovation nahmen andere auf - allem voran der Politologe und Wirtschaftswissenschaftler Hayao Miyazaki, der bis Anfang der 1980er bei den Toei-Trickfilmstudios arbeitete und später die Firma Ghibli gründete. Mit seinen Anime-Klassikern Kaze no tani no Naushika (Nausicaa aus dem Tal der Winde) und Mononoke Hime (Prinzessin Mononoke) drückte er sowohl den 1980ern als auch den 1990ern seinen filmischen Stempel auf.

Dabei ließ seine frühe Schaffensperiode mit Werken wie der eher berüchtigten als berühmten Serie Arupusu no shoujo Haiji (Heidi) noch nichts von Genie Miyazakis erahnen. Dieses Genie liegt vor allem in seinem Talent zum Entwurf von Figuren, Werkzeugen und Bauten, die den Zuschauer in ihrer völligen Fremdartigkeit einerseits und ihrem Verweis auf vertraute (japanische wie westliche) Elemente andererseits immer wieder erschauern lassen. Bei Toei konnte Miyazaki dieses Talent noch nicht ausspielen - erst mit seinem eigenen Studio konnte er sich selbst völlig freie Hand beim Entwerfen seiner Phantasiewelten lassen und seine Begabung voll entfalten. Doch nicht nur in Sachen Design, auch was Erzählkunst und Komplexität betrifft, unterscheiden sich Miyazakis Filme deutlich von den Anbiederungsversuchen der Hollywood-Rentiers an die Pisaversager-Leitkultur. Während Hauptfiguren in Disney-Filme der Nuller-Jahre von der Marketing-Maschinerie simpel und profitträchtig als "Surfer-Typ" mit "Boygroup-Attitüde" entworfen wurden, offenbaren sich Miyazakis Charaktere erst nach und nach und sind fast immer etwas anderes, als sie zu Anfang scheinen. Hinzu kommen die zivilisationskritischen Elemente, die der Japaner nicht in platter Rappelkiste-Manier einbaut, sondern derart subtil, dass sie sogar das Herz jener Zuschauer rühren, denen sonst jede Ökoduselei fremd ist.

Zur Handlung von Sen to Chihiro: Die Eltern der zehnjährige Chihiro ziehen um. Doch wo ihr neues Haus sein sollte, da endet plötzlich die Ortschaft und ein Wald beginnt. Chihiro erblickt in der Ferne einen Schrein und fragt ihre Eltern danach. Sie erklären ihr, dass dies eine Wohnstätte für Geister sei. Wie ein Wächter versperrt kurz darauf eine Steinfigur den überwucherten Waldweg. Hinter ihr befindet sich eine dicke Mauer und ein Torbogen. Dahinter befindet sich eine Landschaft mit Gebäuden wie im Japan vor dem Anbruch der Meiji-Ära - also vor dem Eindringen europäischer Ästhetik. Die Eltern halten das Areal für einen aufgelassenen Theme Park, sind aber fasziniert von der Schönheit der Landschaft. Schließlich erreichen sie, von Essensdüften angelockt, eine Ladenstraße in der sich ein Lokal mit duftenden Köstlichkeiten, aber ohne Menschen befindet.

Während sich die Eltern den leiblichen Genüssen hingeben, erkundet die ängstliche Chihiro die Umgebung und stößt auf den in traditionelle Tracht gekleideten Jungen Haku, der sie warnt, die Gegend schleunigst zu verlassen, da es bald dunkel werde. Als Chihiro das Lokal erreicht ist die Sonne bereits untergegangen - und ihre Eltern haben sich in Schweine verwandelt. Nun belebt sich die Ortschaft plötzlich mit allerlei Tier- und Fabelwesen die (was gute Filme und Gemälde auszeichnet) in ihrer Fremdartigkeit nur schwer zu beschreiben sind und die - auch in ihren Bewegungen - einen Großteil der Faszination des Films ausmachen. Um der Verwandlung in ein Schwein zu entgehen muss Chihiro für Yubaba arbeiten - die Herrscherin der Stadt. Sie ist eine Hexe mit riesigem Kopf und den charakterlichen wie optischen Attributen des europäischen Großbürgertums des 19. Jahrhunderts. Und tatsächlich sind die Produktionsverhältnisse in der Stadt ein Abbild des Manchester-Kapitalismus: Kamaji, ein Spinnenwesen, bedient mit seinen vielen Beinen eine Maschine, die an den Moloch in Fritz Langs Metropolis erinnert. Die Kohlen für die Anlage bringen die Susuwataris, von denen Kamaji sagt, dass nur die Arbeit die eigentlich leblosen Knäuel beleben würde.

Chihiro muss zusammen mit Geisterfrauen, Fröschen und Schnecken im Badehaus arbeiten. Die Gäste in diesem Badehaus sind unter anderem personifizierte Naturkräfte, Rettichwesen und ein maskierter Geist, der mit seinem schwarzen Körper andere Wesen verschlingt. Yubaba verändert außerdem Chihiros Namen in "Sen" (das erste Schriftzeichen in "Chihiro" anders gelesen). Und damit wäre auch der erste Teil des Filmtitels erklärt. Für den Zweiten, "Kamikakushi", hat das Ghibli-Studio die englische Übersetzung "Spirited Away" gewählt. Tatsächlich sind "kami" Geister und "kakusu" bedeutet "verstecken."

Im weiteren Verlauf der Geschichte lernt Chihiro/Sen zusammen mit dem Zuschauer die Funktionsweise ebenso wie die Regeln der fremden Gesellschaft und versucht einen Weg finden, wie sie entkommen kann. Doch jedes weitere Wort würde dem Leser, der den Film noch nicht kennt, jetzt die Spannung verderben.