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Märchenhafter Fund in der Einhornhöhle

Die verzierte Riesenhirschphalange von der Einhornhöhle (Inventar Nr. 46999448-423). Bild: V. Minkus, NLD

Ein Neandertaler verzierte vor mehr als 50.000 Jahren einen Knochen mit einem Muster aus Kerben

Das ursprüngliche Bild vom Neandertaler als primitivem Halbaffen hat sich in den letzten Jahrzehnten völlig erledigt. Längst ist klar, dass diese Ur-Europäer sehr geschickte Jäger und Werkzeugbauer waren, sie planten vorausschauend und kannten ihre weitläufigen Jagdgebiete ganz genau.

Sie tauschten sich aus, verabredeten Strategien für die gemeinsame Großwildjagd und trafen sich regelmäßig mit anderen Neandertaler-Gruppen. Dennoch traut ihm die Mehrheit der Paläoanthropologen immer noch kein symbolisches Denken zu, keine eigene Kultur oder gar Kunstwerke.

Die Experten haben inzwischen gut belegt, dass Homo neanderthalensis vor der Ankunft des anatomisch modernen Menschen bereits Hunderttausende von Jahren in Europa lebte (siehe: Vom Werden und Vergehen des Neandertalers [1]).

Diese Menschenart entwickelte ganz eigenständig ausgefeilte Techniken für Waffen und Werkzeuge aus Stein oder Knochen (siehe: Einzigartiges Erbe aus der Zeit der Neandertaler [2]). Die Neandertaler fertigten sich Kleidung aus Leder und Pelzen an, wohnten auf ihren nomadischen Wanderungen in Zelten und kochten sich Birkenpech als Klebstoff.

Dennoch geht die Mehrheit der Prähistoriker bis heute davon aus, dass unsere steinzeitlichen Verwandten keine symbolische Intelligenz hatten und dem Homo sapiens in dieser Hinsicht besonders unterlegen waren. Kultur lernten die Neandertalerinnen und Neandertaler in Europa nach gängiger Meinung erst durch die Begegnung mit den Neuzuwanderern vor etwa 45.000 Jahren kennen. Erst der kulturelle Transfer öffnete ihnen die Tür zu Ausdrucksformen jenseits der Fertigung von Gebrauchsgegenständen.

Körperbemalung, Schmuck und Monumente

In jüngster Zeit mehren sich die Belege, dass die Neandertaler visuelle Symbole schufen, bevor sie sich ihren Lebensraum mit Homo sapiens teilten.

Sie bemalten ihre Körper vor allem mit roten und schwarzen Pigmenten, trugen Schmuck [3] aus Muschelschalen, Knochen und Geweih, Vogelkrallen oder Federn (siehe: Großes Gehirn und intelligenter als gedacht [4]). Sich derartig zu schmücken gilt unter Anthropologen bereits als eine Form rituellen Verhalten, um sich individuell oder als Gruppenmitglied zu markieren.

Vor fünf Jahren sorgte die Entdeckung von ringförmigen Monumenten aus Tropfstein in der Bruniquel-Höhle im Südwesten Frankreichs für viel Furore. Vor mehr als 175.000 Jahren haben Neandertaler tief in der Höhle, mehr als dreihundert Meter vom einstigen Eingang entfernt, ringförmige Strukturen aus Tropfstein errichtet. Sie bearbeiteten mehr als 400 Stalagmit-Stücke, die zusammen 2,2 Tonnen wiegen, bis sie alle ungefähr gleich lang waren.

Das größere Kreismonument misst 6,7 mal 4,5 Meter, zusätzlich wurden Tropfsteine an mehreren Stellen zu großen Stapeln aufeinandergeschichtet. Ein beachtliches Bauwerk, das sorgfältige Planung und Umsetzung erforderte (siehe: 176.500 Jahre alte Kreise, tief in der Dunkelheit [5]).

Eine künstlich geschaffene Formation aus Stein, die für die Ausgräber der Neandertaler-Fundstätte La Cotte von St. Brelade [6] an der Küste der britischen Kanalinsel Jersey besonders interessant ist. Diese Höhle diente sehr wahrscheinlich verschiedenen Neandertaler-Gruppen als Treffpunkt und Ausgangspunkt für die gemeinschaftliche Mammutjagd.

Die frühen Bewohner schichteten am Rand viele Mammutschädel auf, um die herum Rippen wie Zaunpfähle in den Boden gesteckt wurden. Ein ebenfalls monumentales Werk, das noch heute beeindruckend wirkt, und von den Archäologen als Struktur interpretiert wird, die ohne offensichtliche Funktion aus dem Chaos von Jagdüberresten geschaffen wurde.

Ob und wenn welchen Ritualen die Höhlen-Bauwerke des Homo neanderthalensis dienten, bleibt reine Spekulation. Aber offensichtlich gestaltete unser enger menschlicher Verwandter bewusst und geplant sowohl seine direkte Umgebung als auch Räume tief im Innern eines Berges, die er sich im Schein von Holzfackeln vorab erst mühevoll erschloss.

Höhlenmalerei und Ritzungen

Bis heute heftig debattiert ist die Entdeckung (durch neue Datierungen mit der Uran-Thorium-Methode) vor wenigen Jahren, dass steinzeitliche Malereien unter Kalzitkrusten in verschiedenen spanischen Höhlen ein viel höheres Alter haben als zuvor angenommen. Neandertaler:innen hinterließen an den Wänden unter anderem Handabdrücke, Linien, Punkte und eine geometrische Figur, die an eine Leiter erinnert. Einfache abstrakte Motive und Muster zeichnen sie aus (siehe: Kunst der Neandertaler [7]).

2015 erschütterten Felsgravierungen in einer Höhle in Gibraltar erneut die Theorie, die davon ausgeht, dass nur der anatomisch moderne Menschen fähig gewesen sein könnte Fels- und Höhlenzeichnungen anzufertigen.

In der Gorham-Höhle [8] tauchte ein Muster in Stein auf, das nicht zufällig z. B. bei Schneiden von Fleisch oder Fell entstanden sein kann. Mit großem Aufwand schlug der Urzeitkünstler die sich kreuzenden Linien, die wie ein urtümlicher Hashtag aussehen, vor mehr als 39.000 Jahren gezielt in den Fels (A rock engraving made by Neanderthals in Gibraltar [9]).

Die Einhornhöhle, Blaue Grotte. Bild [10]: Unicorncave / CC-BY-SA 4.0 [11]

Wer weiß was ein Neandertaler der Welt mit dem frühen Hashtag sagen wollte, aber auf jeden Fall erinnern die gekreuzten Linien an das Muster, das den Knochen verziert, der ganz aktuell der Öffentlichkeit vorgestellt.

In der renommierten Fachzeitschrift Nature Ecology & Evolution [12] präsentiert das deutsche Team um Dirk Leder vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege [13] einen kleinen Knochen mit sensationeller Gravierung: A 51,000 year old engraved bone reveals Neanderthals' capacity for symbolic behaviour [14].

Einhornhöhle

Gefunden wurde der nur sechs Zentimeter lange Fußknochen in der Einhornhöhle [15], einem touristischen Highlight im Südwestharz. Die fast 700 Meter lange Höhle verdankt ihren Namen der Vielzahl von Fossilien ausgestorbener Tiere.

Schon im Mittelalter wurde sie von geschäftstüchtigen Heilern aufgesucht, die ihre zermahlenen Fundstücke als magische Medizin aus "Einhornknochen" anboten.

Sie war so bekannt, dass über die Jahrhunderte Gelehrte wie Gottfried Wilhelm Leibniz, Johann Wolfgang von Goethe oder Rudolf Virchow darin nach Überresten der Eiszeit forschten. Leibniz setze aus den fossilen Knochen verschiedener Tiere ein vermeintliches Einhorn zusammen ("Unicornu verum [16]"), dadurch wurde das Fabeltier ab 1749 zum Namensgeber für die Höhle, die bis dahin Zwergenlöcher genannt wurde.

Hinterlassenschaften früher Menschen, Werkzeuge der Altsteinzeit, fanden sich erst ab Mitte der 1980er-Jahre. 130.000 Jahre lang fanden hier immer wieder Neandertaler Unterschlupf in dem Felsmassiv.

Die Ausgrabungen im verstürzten Eingangsbereich der Höhle im Jahr 2019. Gut erkennbar sind die teilerodierte Südwand und die gut erhaltenen Nordwand, während das Höhlendach verstürzt ist. Der verzierte Knochen fand sich in Erdschichten unter der Nordwand. Bild: ©NLD /J. Lehmann

In den letzten Jahren graben Archäologen erneut, unter anderem im Bereich eines ehemaligen eingestürzten Höhlenzugangs (Video des Niedersächsischen Landesamts für Denkmalpflege: Ralf Nielbock und Dirk Leder stellen die Einhornhöhle bei Scharzfeld im Harz vor [17]).

Neben einer Vielzahl von anderen Tierknochen fanden die Ausgräber an dieser Fundstelle vor 15 Monaten ein auf den ersten Blick unscheinbares Fußknöchelchen unter aufeinander geschichteten Fossilien eines Höhlenbären. Als es gesäubert war, offenbarte sich darauf ein winkelartiges Muster aus sechs Kerben.

Wir erkannten rasch, dass es sich nicht um Schlachtspuren, sondern eindeutig um eine Verzierung handeln muss. Der Knochen wurde in mehreren Schritten planmäßig bearbeitet, aus einzelnen Kerben bewusst ein Winkelmuster konstruiert.

Grabungsleiter Dirk Leder

Die eingearbeiteten Ritzungen wurden an der Universität Göttingen mit 3D-Mikroskopie genau analysiert (Video: 3-D des verzierten Fußknochens [18]). Es zeigte sich, dass die Linien nicht nur durch gelangweiltes, ungezieltes Rumschnitzen oder Kratzen mit einem Steinmesser entstanden sein können. Dazu sind sie zu aufwendig, zu akkurat und zu tief eingekerbt.

Ein kleiner Knochen vom Riesenhirsch

Die Forscher verglichen den Fußknochen mit Fossilien von verschiedenen Tieren der Eiszeit und konnten ihn einem Riesenhirsch [19] (Megaloceros giganteus) zuordnen. Diese majestätischen Hirsche mit einer Schulterhöhe von zwei Metern und einer Geweihspannbreite von bis zu vier Metern waren eher selten und gehörten nicht zur alltäglichen Jagdbeute.

Teammitglied Antje Schwalb von der Technischen Universität Braunschweig erklärt:

Es dürfte kein Zufall sein, dass der Neandertaler den Knochen eines eindrucksvollen Tieres mit riesigen Geweihschaufeln für seine Schnitzerei ausgewählt hat.

Wenn der Steinzeit-Schnitzer das mehrfache Winkelmuster bewusst und geplant angelegt hat, dann kostete ihn das dereinst viel Zeit.

Die Expertengruppe experimentierte mit Knochen heutiger Rinder, um nachzuvollziehen, wie der er vorgegangen sein könnte. Dabei erwies sich, dass das Fußknöchelchen wohl zunächst gekocht wurde, um es weicher zu machen. Anschließend dauerte es etwa 1,5 Stunden, um mit einem Feuersteingerät nach und nach, Linie um Linie, sorgfältig das exakte Muster in die Knochenoberfläche zu schneiden.

MicroCT-Scan mit Markierung der Einkerbungen. Rot markiert sind die sechs Kerben, die das Winkelmuster erzeugen, blau markiert sind begleitende Kerben. Bild: ©NLD / A. Tröller-Reimer/D. Leder

Die Datierung des Fundes übernahm das Leibniz Labor der Universität Kiel [20] mittels der Radiokarbonmethode, die auf dem Zerfall eines bestimmten Kohlenstoffisotops C-14 [21] beruht. Eine winzige Probe ergab ein Alter von 51.000 Jahren. Damit entstand das verzierte Stück eindeutig vor der Ankunft des Homo sapiens in der Region.

Projektleiter Thomas Terberger sagt:

Das hohe Alter des Neufundes aus der Einhornhöhle zeigt nun, dass der Neandertaler bereits Jahrtausende vor der Ankunft des modernen Menschen in Europa in der Lage war, Muster auf Knochen selbstständig herzustellen und wohl auch mit Symbolen zu kommunizieren. Dies spricht für eine eigenständige Entwicklung der kreativen Schaffenskraft des Neandertalers.

Eine systematisch und absichtsvoll verziertes Objekt ohne praktischen Nutzen kann als ein kleines Kunstwerk betrachtet werden. Auf jeden Fall hat es eine ganz eigene ästhetische Qualität. Seine Existenz spricht als weiterer wissenschaftlicher Beleg für die kognitiven Fähigkeiten der Neandertaler, für abstraktes Denken und symbolisches Handeln.

Die Forschergruppe schreibt:

Die kognitive Fähigkeit zu kreativen Ausdrucksformen und sozialem Verhalten bei frühen Homo sapiens ist seit langem anerkannt. Im Gegensatz dazu ist der Nachweis für symbolisches Verhalten bei frühen Homininen und Neandertalern weitaus schwieriger nachzuweisen, und die Unabhängigkeit von Homo sapiens ist oft bestritten worden. Der gravierte Knochen aus der Einhornhöhle unterstützt die Vorstellung von symbolischem Verhalten unter Neandertalern vor der Ankunft von Homo sapiens in Mitteleuropa. Der kulturelle Einfluss von Homo sapiens als einziger Erklärungsfaktor für abstrakte kulturelle Ausdrucksformen bei Neandertalern kann nicht mehr aufrechterhalten werden.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6139499

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Vom-Werden-und-Vergehen-des-Neandertalers-3379223.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Einzigartiges-Erbe-aus-der-Zeit-der-Neandertaler-3400101.html
[3] https://doi.org/10.1371/journal.pone.0119802
[4] https://www.heise.de/tp/features/Grosses-Gehirn-und-intelligenter-als-gedacht-3384049.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/176-500-Jahre-alte-Kreise-tief-in-der-Dunkelheit-3222134.html
[6] https://www.lacotte.org.je
[7] https://www.heise.de/tp/features/Kunst-der-Neandertaler-3977764.html
[8] https://www.unesco.de/kultur-und-natur/welterbe/welterbe-weltweit/hoehlenkomplex-von-gorham-neue-welterbestaette-2016
[9] https://doi.org/10.1073/pnas.1411529111
[10] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:EHH-Wiki001_C_GUfeV.JPG
[11] https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en
[12] https://www.nature.com/natecolevol/
[13] https://denkmalpflege.niedersachsen.de
[14] https://doi.org/10.1038/s41559-021-01487-z
[15] https://www.einhornhoehle.de
[16] http://dokumente.leibnizcentral.de/index.php?id=116
[17] https://youtu.be/Ayu_Wi5bxSM
[18] https://denkmalpflege.niedersachsen.de/live/institution/mediadb/mand_45/psfile/bild/57/CC_BY_SA_3606c7d7aad00b.mp4
[19] https://www.naturkundemuseum-magdeburg.de/ausstellungen/besondere-objekte/riesenhirsch/
[20] https://www.leibniz.uni-kiel.de/de/startseite
[21] https://www.weltderphysik.de/thema/hinter-den-dingen/c-14-methode/