"Man darf sich weder von den Linken noch von den Rechten vor den Karren spannen lassen"
Lale Akgün über den "aufgeklärten Islam" in Deutschland
Obwohl sich nur zwanzig Prozent der Muslime in orthodoxen Verbänden organisieren, bestimmt der konservative Islam das öffentliche Bild. Ein Gespräch mit Lale Akgün, Autorin des Buches Platz da! Hier kommen die aufgeklärten Muslime.
Frau Akgün, wo steht der Islam in Deutschland gegenwärtig aus emanzipatorisch-aufklärerischer Sicht?
Lale Agkün: Der Islam in Deutschland ist sehr viel pluraler als es die Mehrheit der Gesellschaft, und vor allem die Medien, wahrhaben wollen. Oder ist es so, dass den Medien ein exotisch- archaischer Islam mehr Stoff bietet?
Wir haben in Deutschland um die fünf Millionen Menschen, die auf dem Papier als Muslime bezeichnet werden und die man in der Öffentlichkeit als alle gleich wahrnimmt. Nämlich als orthodoxe Muslime, die leider das Bild der Muslime bestimmen. Dabei sind nur circa 20%, also eine Million, in Verbänden organisiert, die ich dem orthodoxen Islam und seiner Fortsetzung als politischer Islam zurechnen würde. Der Islam ist eine sehr individuelle Religion, solange sie sich nicht organisiert, aber wenn sie sich organisiert, wird sie politisch. Und der politische Islam ist nicht nur nicht aufgeklärt, sondern gefährlich.
Das Problem ist, dass die deutsche Politik durch ihre Organisationswut und ihren Ansprechpartnerwahn selbst dafür gesorgt hat, dass die orthodoxen, nicht-aufgeklärten Muslime in Deutschland im Mittelpunkt stehen und als Ansprechpartner fungieren. Das ist sehr schade, denn die anderen Alltags-, Kultur-, Nennmuslime und die liberalen Auslegungen des Islams wie die alevitischen Muslime werden leider nicht beziehungsweise nicht als Muslime wahrgenommen. So steht der nicht-aufgeklärte, orthodoxe Islam im Mittelpunkt des islamischen Diskurses in Deutschland.
"Wortwörtliche Auslegung des Korans"
Welchen Anteil hat die deutsche Einwanderungspolitik seit den 1960er Jahren daran?
Lale Agkün: Die deutsche Einwanderungspolitik hat keinen direkten Anteil. Aber eine De-Facto-Einwanderungspolitik, ohne dass sie als solche deklariert wird (Denken Sie an den Spruch: "Deutschland ist kein Einwanderungsland!", der bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts Geltung hatte), treibt gerade junge Leute in die Arme der orthodoxen Moscheevereine.
Da, wo die Gesellschaft keine selbstverständliche Akzeptanz von Einwanderern vermittelt und Menschen, die hier geboren und groß geworden sind, permanent als Menschen mit Migrationshintergrund, als Muslime oder einfach als die Anderen tituliert werden, werden die sich eine andere geistige Heimat suchen. Da bieten sich die orthodoxen Moscheevereine mit ihren einfachen Weltbildern als rettender Hafen sehr an.
Wo sehen Sie hierzulande Potentiale für einen Reform-Islam?
Lale Agkün: Da gibt es einige Gruppierungen. Fangen wir bei der größten Gruppe an, die der alevitischen Muslime. Sie stellen mit circa 800.000 Gläubigen die größte Gruppe unter den liberalen Muslimen. Wenn auch ein Teil der Aleviten sich nicht als Muslime sieht, die traditionellen unter ihnen verstehen sich als Muslime. Ihre Glaubensführer verstehen die Darstellungen im Koran allegorisch und legen jeder Sure 40 Deutungsmöglichkeiten inne.
Dann gibt es die kleinen, unabhängigen sunnitischen Gemeinden, die eine vernunftgesteuerte Auslegung des Korans praktizieren. Sie sind zahlenmäßig nicht so groß, aber sie gewinnen die Herzen derjenigen, die mit dem orthodoxen Islam nichts anfangen können.
Und dann natürlich hoffe ich auf die Politik, die diese Gruppierungen endlich wahr und als Ansprechpartner ernst nimmt.
Wie viele Menschen sind das innerhalb der hiesigen muslimischen Communities?
Lale Agkün: Nun, wenn die organisierten orthodoxen Muslime 20% sind, dann bleiben 80% Nicht-organisierte, die langsam merken, dass Schweigen und Sich-Wegducken keine Alternative darstellt. Es werden sich nicht morgen 80% bei den Liberalen organisieren, weil diese 80% eben sehr durchmischt sind, aber es gibt auch keinen Grund zur Resignation vor der Übermacht des orthodoxen Islams. Der ist halt gut organisiert, hat gute Auslandskontakte jeglicher Art und beste Kontakte zur deutschen Politik. Die anderen müssen noch ein bisschen nachholen.
"Beschimpft, beleidigt und im schlimmsten Fall als Abtrünnige behandelt"
Wie werden diese säkularisierten Muslime von den Orthodoxen angesehen und mit welchen Widerständen haben sie zu kämpfen?
Lale Agkün: Für die orthodoxen Muslime sind die liberalen sehr gefährlich, denn sie setzen die Definitionsmacht der Orthodoxen in Frage. Die orthodoxen - Sunniten wie Schiiten übrigens - haben 40 Jahre daran gearbeitet, dass ihre Auslegung in Deutschland als die einziggültige gesehen und akzeptiert wird - ohne eine einzige kritische Nachfrage -, jetzt kommen die Liberalen und stellen vieles in Frage.
Anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen oder auch nur neben ihrer Auslegung stehen zu lassen, werden sie beschimpft, beleidigt und im schlimmsten Fall als Abtrünnige behandelt. Ich sage im schlimmsten Fall, denn für die orthodoxen Muslime steht auf den Abfall von der Religion die Todesstrafe. Es ist also ein Kampf mit ungleichen Mitteln: Während die Liberalen die Orthodoxen als eine mögliche Auslegung des Islams tolerieren können, sind die orthodoxen dazu nicht in der Lage.
Werden diese Probleme durch den linksliberalen Multikulti-Diskurs verkleinert oder nehmen sie dadurch zu?
Lale Agkün: Der linksliberale und der rechte Mediendiskurs sollten sich fein raushalten: Das ist eine innerislamische Angelegenheit, die von den Muslimen gelöst werden muss. Ich muss sagen: Sowohl der linksliberale Diskurs als auch der Diskurs der neuen Rechten hat nicht den Islam oder die Muslime im Blick, diese Leute wollen nur sich selbst vergewissern und sich selbst etwas beweisen. Die Linken wollen sich in ihrer Toleranz sonnen - ich denke da an die Jubelschreie eines mir bekannten Journalisten in Köln angesichts einer Frau im Niqab. Er freute sich über seine so tolle und weltoffene Stadt. Etwas befremdlich, oder?
Aber noch schlimmer sind die Rechten mit ihrer Islamkritik. Unter dem Mäntelchen dieser Kritik steckt nichts als purer Rassismus, eben als Islamkritik getarnt. Wehe, wenn ich auch die katholische Kirche kritisiere - dann werden mir sofort meine Grenzen gezeigt. Ich darf den Islam kritisieren, aber das religionsfreundliche System in Deutschland darf ich nicht antasten. Wo kämen wir auch hin, wenn ich als Muslimin Kritik an Deutschland oder dem Christentum äußern dürfte? Da fällt bei den Rechten schnell die Maske.
Man muss als säkulare Muslimin eben "höllisch" aufpassen - man darf sich weder von den Linken noch von den Rechten vor den Karren spannen lassen.
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