Manga, Mädchen, Mohammed

Für alles und alle Arten von Menschen gibt es Online-Communities. Nur die Cartoonisten hatten noch keine Plattform. In Berlin gründeten sich gleich zwei konkurrierende Cartoon-Portale

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Toonpool ist international, professionell und in englischer Sprache. ToonsUp, eine noch sehr kleine "freie Künstler-Community", verweigert sich dem Kommerz und kann nur mit dem Kuschelfaktor punkten. Der ästhetische Spagat ist bei beiden groß: Auch Hobby-Cartoonisten können ihre Werke hochladen, nicht immer zum Amüsement aller. Der stern-Karikaturist Til Mette steht bei Toonpool gleichberechtigt neben der Mangaka Inga Steinmetz. Ein "Herren-Gliedpflegeset" von Bernd Pohlenz ist nur wenige Mausklicks entfernt vom "blowjob" des Berliner Hobby-Cartoonisten "shin kazama". Bei ToonsUp geht es hingegen eher betulich zur Sache; selbst die "Die sieben Todsünden" des Nutzers "Waterwing" würden keinen Katholiken aufregen.

Cartoons sind ein Nischenprodukt; wer relevante Zugriffszahlen und Nutzer haben will, kommt also an Mangas - in Japan Massenware und Teil der Popkultur - nicht vorbei. Der europäische Polit-Cartoon in der Tradition des französische Malers und Bildhauers Honoré Daumier und die Mangas, die in Europa eher Jugendliche ansprechen und sich künstlerisch auf Osamu Tezuka berufen, passen auf den ersten Blick nicht zusammen. Nur wenigen Künstlern gelingt es, beides im Blick zu haben.

Bilder: Marie Sann

Glamour-Girl bei Toonpool ist Marie Sann, 22, eine der begabtesten deutschen Nachwuchszeichnerinnen. Die Berliner Grafikdesign-Studentin mit dem Henna-Haar und dem professionellen Starlet-Lächeln weiß sich geschickt zu vermarkten: Ein eigenes Blog mit Fan-Gemeinde und ein Online-Shop gehören dazu, die Präsenz bei allen Veranstaltungen der Manga-Szene, und ein überraschend weites künstlerisches Spektrum zwischen klassischer Zeichnung und Comic-Art.

Aber erst Toonpool konnte den Geschmack der Nutzer realistisch abbilden. Das Portal hat vergleichbare Features wie die Foto-Community Flickr: Die Nutzer bewerten, kommentieren, legen Favoriten an - und der Betreiber freut sich über die entstandenen Profile. Es verwundert nicht, dass das meistgesehene Bild Sanns ein Mädchen im Dirndl und mit Bierkrügen ist, aber im "Kindchen-Schema" der Manga-Tradition gezeichnet. Die Tags sind vielsagend: "manga woman girl oktoberfest bayern".

Warum wirkt also ein Manga-Mädchen, das entfernt an "Heidi" erinnert, aber auch in einen japanischen Comic passte, so originell und "attraktiv"? In diesem Fall durch zwei Faktoren: Zwei Stilformen greifen ineinander, die nicht unterschiedlicher hätten sein können: Das typisch deutsche Klischee des Dirndl-Mädchens wird ironisch durch die "triviale" und popkulturelle Manga-Tradition gebrochen. Es wächst zusammen, was nicht zusammengehört. Es ist aber eher unwahrscheinlich, dass die Künstlerin das vorher theoretisch so konzipiert hat. Marie Sann steht für eine Generation von Cartoonisten, die auf eine solide Ausbildung nach europäischer Kunsttradition aufbaut, aber andererseits - durch den Massengeschmack der Manga-Teenies gefordert - ganz neue zeichnerische Elemente experimentell einbauen kann - und muss.

Osamu Tezuka war der erste Mangaka, der das "Kindchen-Schema" mit den großen Augen benutzte. Dieser Stil gilt heute als prägend für japanische Mangas. Das Muster hat sich in Europa trotz einiger Vorläufer erst in den letzten zehn Jahren verbreitet, in Frankreich und Spanien eher als in Deutschland. Die Anime-Filme von Katsuhiro Otomo sind mittlerweile auch dem hiesigen Publikum bekannt.

Marie Sann

Die europäische Tradition hat diesen Stil im Cartoon und im Comic eigenständig hervorgebracht - auch ohne den Einfluss von Walt Disney. "Sindbad der Seefahrer" als Teil des Zyklus "Märchen der Völker" wurde von Stefan Mart schon in den dreißiger Jahren als Comic gezeichnet. Über den Künstler weiß man so gut wie nichts, fest steht nur, dass er Generationen deutscher Cartoonisten beeinflusst hat. Im Gegensatz zur US-amerikanischen Tradition - zum Beispiel Captain Future aus den vierziger Jahren - verzichtete Mart weitgehend auf das Kindchen-Schema und zeichnete eher "realistisch".

Die Stilelemente des modernen Manga eröffnen der europäischen Tradition eine neue Tür: Das Kindchen-Schema spricht sowohl Erwachsene an, die mit Cartoons Satire, Humor und Karikatur verbinden, auch ernsthaften politischen Anspruch, als auch Jugendliche, die die Geschichten und Figuren benutzen, um sich damit zu identifizieren. Nicht zufällig gibt es in Japan geschlechterspezifische Mangas: Shojo-Manga werden speziell für heranwachsende Mädchen im Alter von circa sechs bis achtzehn Jahren gezeichnet werden, Shonen sind mehr action-orientiert und wenden sich an Jungen.

Der Cartoon - auf Karton - war ursprünglich das "Gemälde" von Zeichner, die zu arm waren, um sich Leinwand leisten zu können. In Deutschland verbindet man mit Cartoons vor allem Polit-Satire oder humoristische Milieu-Studien - von den legendären Magazinen Kladderadatsch und Simplicissimus aus dem 19. Jahrhundert über die Pardon aus den sechziger Jahren bis zur heutigen Titanic und dem Eulenspiegel.

In England und den USA hat sich der Cartoon auch in den klassischen Medien etabliert. In Deutschland haben nur wenige Zeichner internationalen Erfolg, Uli Stein ist der bekannteste. Von ihrer Arbeit leben können nur wenige, Bernd Pohlenz, einer der Gründer von toonpool.com, gehört dazu. Ronald Markwordt, der ToonsUp initiiert hat, ist in der Star-Wars-Fangemeinde als Zeichner eine Größe, aber in Mainstream-Medien eher unbekannt.

Spannend wird es, wenn Cartoonisten aus unterschiedlichen Kulturen ihren Humor und ihr Politikverständnis aufeinanderprallen lassen. Der brasilianische Zeichner Marcelo Rampazzo etwa hat bei Toonpool ein Mohammed-Cartoon ("272 virgins") veröffentlicht, das den berühmt-berüchtigen Karikaturen der dänischen Zeitung Yllands-Posten in nichts nachsteht und den Betreibern des Portals ein paar Schweißperlen auf die Stirn zauberte. Die gesammelten Islam-Cartoons werden auch nicht jedem gefallen. Karl Hermann, einer der Macher von Toonpool, Ex-Chefredakteur des Berliner Stadtmagazins Tip, sagt: "Zensiert wird nicht." Näheres regeln die allgemeinen Nutzungsbedingungen im Kleingedruckten.

Von Zensur kann der afghanische Zeichner Atiqullah Shahid erzählen, der jetzt im schweizerischen Luzern lebt. Shahid hat wie auch zahlreichen andere Künstler aus Ländern der Dritten Welt am umstrittenen Karikatur-Wettbewerb About Danish Cartoons and Holocaust teilgenommen. Die Cartoons wurden 2006 im Museum für Zeitgenössische Kunst in Teheran ausgestellt und galten als "Retourkutsche" auf die angeblich nur "einseitige" Toleranz der westlichen Kultur. In Afghanistan darf Shadid nichts mehr veröffentlichen, aber jeder Afghane mit Internetanschluss kann sich seine Cartoons bei Toonpool ansehen.

Cartoons haben Zukunft: Je größer das weltweite Publikum durch das Internet wird, um so mehr müssen politische Aussagen über alle kulturelle Grenzen hinweg verstanden werden. Bilder sagen mehr als Worte - eine visualisierte These wird eher wahrgenommen als lange Traktate.

Was verwundert ist eher, dass ausgerechnet die Deutschen mit ihrer ausgeprägten und immer noch aktuellen Tradition der Zensur auf die Idee kamen, Cartoonisten weltweit zusammenzuführen. Zur Internetkultur haben sie außer dem "Disclaimer", der "Internet-Meldestelle" und der "Bielefeld-Verschwörung" nicht viel beigetragen. Afghanische Cartoons zu hosten, ist aber vermutlich immer noch besser für die Weltkultur als die Opium-Kulturen am Hindukusch zu bewachen.