Marx 2.0
Die Rückkehr eines Verdrängten
Der italienische Philosoph Diego Fusaro untersucht die aktuelle neoliberale Welt durch die Brille von Marx. Er liefert damit einen neuen Schlüssel zum Verständnis des "Kapitals" und eine Begründung dafür, warum das Werk als ein Klassiker der Philosophie und ein Meisterwerk des deutschen Idealismus verstanden werden muss.
Es scheint, Marx läge unter den Trümmern der Berliner Mauer begraben. Und mit ihm der "Traum von einer Sache" (um einen Ausdruck aus seinem Brief an Arnold Ruge vom September 1843 aufzugreifen) und die Waffen seiner Kritik. In Ermangelung eines klar definierten Begriffs von Ausbeutung wie auch einer alternativen Perspektive, in deren Namen die Gegenwart zurückgewiesen werden könnte, hat in den letzten Jahren der operative Widerstand gegen die wachsenden Ungerechtigkeiten einen Schwund wie noch nie zuvor erlebt.
In unserer Gegenwart werden die zunehmend augenfälligen Widersprüche unserer Welt apathisch als systemische Notwendigkeit erlebt, als unausweichliche, in die Natur der Dinge eingeschriebene Prozesse - "Widerstand ist zwecklos", wie der Titel eines zeitgenössischen populären Romans festgestellt (Resistere non serve a niente von Walter Siti).
In der derzeitigen spekulativen Phase mit ihrem abscheulichen Schauspiel einer unhinterfragten Gewalt, die unbeantwortet bleibt, liegt die Reproduktion des Systems zum ersten Mal ganz in den Händen der herrschenden Klasse; die Beherrschten bilden einen bloß passiven Pol.
Der Klassenkampf ist nicht verschwunden, wie es jene abgenutzte neoliberale Rhetorik endlos wiederholt, die das Unvorstellbare glaubhaft gemacht hat - er wird jetzt nur einseitig vom Kapital gegen die Beherrschten geführt, die nicht länger weder sich selbst noch ihrer Rolle bewusst und nicht in der Lage sind, sich einem Feind zu widersetzen, der nicht aufgehört hat zu siegen. Angesichts des Fehlens eines Widerstands seitens der Gedemütigten, hat sich der Klassenkampf zum "Klassenmassaker" gewandelt, das von den Herrschern an den Beherrschten verübt wird.
Hayeks Dogma, wonach die "ganze Vorstellung sozialer oder austeilender Gerechtigkeit freilich leer und sinnlos" sei, wird zunehmend auch von den Beherrschten verinnerlicht und schwingt sich zur Kernaussage der neoliberalen Verhältnisse auf.
Unterstützt von der alle gesellschaftlichen Ebenen durchdringenden Apraxie hat sich die fatalistische Trägheit der Köpfe bemächtigt. Sie hat die Fähigkeit zum eigenständigen Denken und zur durchdachten Widerspenstigkeit der Kritik geschwächt. Wenn der Weg der Revolution heute unzugänglich erscheint, dann hängt dies kaum von der Unveränderlichkeit des bestehenden Zustands ab, sondern von der völligen Gleichgültigkeit der Gedemütigten und, damit zusammenwirkend, von der ideologisch bedingten Unrepräsentierbarkeit der Veränderung.
Die Verdammten dieser Erde sind heute träge und passiv durch die vom Nomos der Wirtschaft, dem Medienrummel und dem intellektuellen Klerus orchestrierten Manipulation. Ersterer sättigt ihre Köpfe mit der Warenform und ihren theologischen Launen. Der zweite reproduziert tautologisch das Bestehende und stellt es als unveränderlich dar. Der dritte zelebriert unaufhörlich den Ritus der politischen Korrektheit und lenkt so die Kritikfreudigkeit auf nicht oder nicht mehr vorhandene Widersprüche oder schaltet sie aus, indem er den Umfang der möglichen Ausübung a priori begrenzt.
Die grassierende Rhetorik, wonach der Reformismus die einzig mögliche Lösung zur Minderung der Beschädigung eines zuvor für unveränderbar erklärten Systems sei, offenbart sich als Täuschung, die ausschließlich die Erhaltung des Systems als solches garantieren soll. Die Proteste der Indignados ("Empörte") in Spanien seit dem Jahr 2011 waren immer zum Scheitern verurteilt und, mehr noch, zur Ohnmacht. Die Empörung ist, in der Tat, das reaktivste aller Gefühle, da sie das Verhalten anprangert und nicht die Prinzipien, die Nichteinhaltung von Regeln und nicht die Regeln an sich. Ihr Blick richtet sich auf die moralische und zivile Frage, während sie gegenüber der ökonomischen blind bleibt, und so bessert sie aus, stürzt aber nicht um, sie prangert die Zustände an der Oberfläche an und lässt die darunterliegenden Strukturen intakt.
In dieser Wüste repräsentiert der Code des Realismus einmal mehr den Algorithmus, der die Unerträglichkeit der obszönsten Widersprüche in eine systemische Notwendigkeit überträgt, welche passiv zur Kenntnis zu nehmen ist. Die Beherrschten werden lediglich darum gebeten, realistisch zu sein, die Widersprüche und das Elend zu akzeptieren, nicht weil diese gut oder gerecht sind, sondern real und gleichzeitig unveränderbar.
Das Paradoxon der Verfinsterung der Kategorie der Möglichkeit, die in den Bann der auf der ganzen Linie triumphierenden Notwendigkeit gezogen wurde, das zur vollständigen Aufhebung des unglücklichen Bewusstseins wie auch des antisystemischen Kampfes des Knechtes für Anerkennung geführt hat, ist offensichtlich. Das ist der Tatsache eingeschrieben, dass der zunehmend eklatante Bankrott der kapitalistischen Utopie (Krisen, Diktatur der Märkte, endemische Armut, neue Kriege, als humanitäre Missionen getarnte imperialistische Aggressionen, Kinder- und Zwangsarbeit, Arbeitsunfälle und zunehmend prekäre und ungesicherte Arbeitsbedingungen etc.) sich vor einer allgemeinen Ohnmacht abspielt, ohne eine Wiederkehr der roten Flamme, getragen von den Ausgeschlossenen und, sogar noch unwahrscheinlicher, von den Intellektuellen ohne unglückliches Bewusstsein, die sich an die nihilistische Orthodoxie angeglichen haben.
Die zunehmend alltäglichen Abscheulichkeiten, wie Arbeitslosigkeit, Kindersterblichkeit, Armut inmitten der Wohlstandsgesellschaft, würdelose Vertragsformen (die das Leben an sich befristen), die Theologie der militärischen Intervention, werden heute mit dem kühlen Pathos der Distanz betrachtet, als wären sie das unvermeidliche Resultat unpersönlicher Kräfte, die auf globaler Ebene wirken - gegen die die Politik, die immer räumlich begrenzt ist, nichts tun könne, außer die eigene Hilflosigkeit einzugestehen.
Dies ist ein Auszug aus dem Buch "Schon wieder Marx. Die Wiederkehr der Revolution" von Diego Fusaro. Fusaro veranschaulicht darin, wie sehr die gängige Ideologie heute darum bemüht ist, Marx in "entkoffeinierter" Form - also ohne sein antikapitalistisches Pathos und ohne seine revolutionäre Natur - vorzeigbar zu machen. Marx' politische Ausdruckskraft bleibt aber im Kern stets oppositionell und umstürzlerisch.
Gestern wie heute ist den Machtverhältnissen eine Logik immanent, wonach das Kapital Antworten in der Sprache von Gerechtigkeit und Anerkennung verweigert, bis es durch die Kraft beharrlicher Kritik und der organisierten Reaktion der Beherrschten dazu gezwungen wird. In der Tat würde sich das Kapital - so lehrt uns Marx - des gesamten Arbeitstages bemächtigen und mehr noch der gesamten Existenz der Individuen, wenn die Gesellschaft nicht reagieren würde, indem sie Grenzen setzt und Strategien eines bewussten Ungehorsams organisiert.
Der Erfolg des Letzteren kann nur durch den Zusammenhalt der Kräfte gewährleistet werden - entgegen aller Individualisierung, die im Gange ist und durch die Überzeugung, dass der gegenwärtige Zustand kein unausweichliches Schicksal darstellt. Die Stille und Passivität der Gedemütigten bestimmen also das Fehlen von Antworten seitens des Kapitals und dessen beharrlichen Prozess, unser Leben zu erschöpfen.
Wir wollen nicht vergessen, wie der "Sozialstaat", der so viel Anteil an den Ereignissen des 20. Jahrhunderts hatte, gewiss nicht deckungsgleich war mit einem großzügigen Angebot eines an sich großherzigen Systems. Im Gegenteil war er das - in gewisser Weise aufgezwungene - Ergebnis sowohl des Machtverhältnisses zwischen Kapital und der sozialen Logik des realen Kommunismus als auch des Kampfes des Knechtes, verbündet mit dem bürgerlichen unglücklichen Bewusstsein.
So wie die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften und Organisationen, die die Arbeitsrechte schützten, in der ansonsten widersprüchlichen Präsenz der Sowjetunion ihre eigene Garantie fand, so bot sich analog dazu der Wohlfahrtsstaat als aufgezwungene Antwort auf die Sozialpolitik des realen Kommunismus an. Das wird durch die Tatsache belegt, dass es nach dem Zusammenbruch des Sowjetriesen im Westen rasch zur Auflösung des Sozialstaats und der Verhandlungsmacht der Kräfte zum Schutz der Arbeiter kam.
In dieser ausgedörrten Landschaft besteht die erste Aufgabe einer Philosophie, die dieses Namens würdig ist und nicht gegenüber den verschiedenen Formen kapituliert, in denen sich die Apologetik des Bestehenden ubiquitär aufdrängt, in der Destrukturierung der fatalistischen Anschauungen, in denen sich die heutige Welt als unveränderbare Unvollkommenheit präsentiert. Mit ihrer Bestimmung zur evaluativen und transformativen Wissenssammlung des Ganzen ist die Philosophie vor allem dazu aufgerufen, die Ideologie zu entmystifizieren, die eine nicht veränderbare Welt predigt, mit dem alleinigen Zweck, sie zu einer solchen zu machen, sprich die einzige Kraft zu neutralisieren - die sozial eingesetzte Praxis - , die in der Lage ist, wirksam deren Syntax neu zu definieren.
Es mag sein, dass Perfektion ein unerreichbares Ziel ist. Zweifellos aber stellt eine als unveränderbar präsentierte Unvollkommenheit ein Verbrechen gegen die Menschheit dar. Sie lähmt das transformative Bestreben, durch eine Neuschreibung das Drehbuch der Welt zu perfektionieren, und raubt gleichzeitig den nachfolgenden Generationen die Zukunft, was Kant in seiner Abhandlung über die Aufklärung bereits mit einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichgesetzt hat. Wenn es wahr ist, dass der Mensch die Welt auf echte Weise bewohnt, indem er die Zukunft plant und auf diese Weise auch seiner Gegenwart einen Sinn gibt, macht die heutige Unterdrückung der zukünftigen Dimension und Planung die Menschheit heimatlos, sich selbst entfremdet.
Die Möglichkeit, sowohl individuell als auch gemeinsam zu handeln, wird vor allem vom Weltbild bestimmt, das zu konzipieren wir fähig sind, vom Bild des Seienden, dem in seiner Ganzheit Form zu geben wir durch das Denken fähig sind. Die Beschreibung einer sinnlosen, aber unwandelbaren Realität, in der die Ungerechtigkeiten als obszön, aber unveränderbar wahrgenommen werden, als untragbar, aber nicht korrigierbar, hat die Aufgabe allen Änderungswillens und die resignierte Aussöhnung mit der beklagten Gegenwart zur Folge.
Das einzige System, das fähig ist, das Leben des Einzelnen vernünftig zu entwerfen, führt letztendlich zu Gefühlen desillusionierter Resignation und zu apathischer Anpassung wie auch zur individuellen Verbitterung, die sich von Anfang an hilflos und geschlagen weiß. Gramscis "leidenschaftliche Wut" schlägt in willenlosen Konformismus um. Die als totalitär dämonisierten Utopien der Erlösung weichen dem Realismus der geistlosen Anpassung, was revolutionäre oder auch nur aufständische Erschütterungen höchst unwahrscheinlich macht und politische und ökonomische Zugeständnisse an die Beherrschten nicht notwendig.
Die nicht verhandelbare Forderung nach einer Befreiung vom heutigen Elend hängt immer vom Sinn der möglichen Erlösung ab. Aus diesem Grunde bestand in den letzten knapp dreißig Jahren die Strategie des Kapitals darin, einer möglichen Berichtigung der Ungerechtigkeiten entschieden den Sinn zu nehmen. So können die Widersprüche und das Elend passiv als natürlicher physiologischer Zustand ertragen werden, ohne dass lästige politische Veränderungsphantasien geweckt würden. Die Ungerechtigkeiten und das Elend in den letzten drei Jahrzehnten sind dermaßen gewaltig, dass sie nicht mehr geleugnet werden können, nicht einmal von der herrschenden Klasse, die sie öffentlich anerkannt und zugleich gerechtfertigt hat, indem sie sie in realistischer Diktion als unvermeidlich und systemisch dargestellt hat, als Ergebnisse der nicht steuerbaren Logik der Globalisierung.
Wenn von Anfang an ein Sieg oder eine im aktiven Kampf erlittene Niederlage ausgeschlossen ist, ist jeder mögliche Konflikt ausgeschaltet. Die Angriffe eines Feindes, der nicht aufhört zu gewinnen, werden passiv erduldet. Der Sinn für Ungerechtigkeit und für begründete Wut wird zum Schweigen gebracht in der einsamen Wehmut derer, die sich ohnmächtig fühlen und deshalb die Mühen eines Konflikts nicht auf sich nehmen.
Wer kämpft, kann auf dem Feld verlieren, wer allerdings nicht kämpft, hat von vornherein verloren. Das stumme Leiden der aus dem System Verbannten, das Hegelsche "namenlose Elende", verwandelt in das Blut der Geschichte, die auf eine bloße Metzgertheke reduziert ist, bleiben dauerhaft entschärft und passiv, solange die soziale Verbindung unterbrochen bleibt und der Sinn für eine mögliche Erlösung deaktiviert.