Marx ist Murks - Teil 1

Seite 8: Einwand 8: Marxisten sind Blutsäufer

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Natürlich ist es dem Leser unbenommen, die wirklichen Inhalte des Artikels als beliebigen Vorwand aufzugreifen, um sich dann über ganz andere Dinge in Rage zu tippen. Nur muss man fairerweise auch einwenden, dass das mit mir und den von mir dargelegten Argumenten ebenfalls rein gar nichts zu tun hat. Es wurde mehrmals auf verschiedene Weise behauptet, ich würde dem Stalinismus zuarbeiten und - ich paraphrasiere mal - in Berlin einrollende Panzer herbeisehnen. Das ist eine freche Unterstellung.

Eine Kritik dieser Wirtschaftsordnung und ihren Funktionsweisen ist nicht automatisch gleichzusetzen mit der Gutheißung der wirklichen oder vermeintlichen - weil bloß unterstellten - Fehlern anderer Wirtschaftsordnungen, wie etwa dem Realsozialismus östlicher Prägung oder dem kommunistisch bemäntelten Kapitalismus Chinas. Mit Kommunismus hat letzteres nur sehr wenig zu tun, mit einem verspäteten nationalen Aufbruchsprogramm eines abgehängten Agrarstaats in die hochindustrialisierte Staatenkonkurrenz aber um so mehr.

Die welthistorischen Projekte aufsässiger Völker der Neuzeit, den Kapitalismus auf dem jeweiligen Boden ihres Landes gänzlich abzuschaffen, einzuschränken oder zu modifizieren, sind jeweils ein großes Thema für sich und können hier unmöglich behandelt werden. Das wäre vielleicht ein Thema für eine weitere Artikelserie, die sich damit befasst, wie man eine alternative Gesellschaftsform besser nicht einrichtet, wobei ich die bisherigen Versuche auch nicht großkotzig paternalistisch abwatschen möchte. Es waren halt Versuche.

Man hat immerhin erkannt, dass es so nicht weiter gehen kann und das Kapital große Teile der Bevölkerung notwendig ins Elend stürzt - nicht weil es böse ist, sondern, weil es seiner Logik entspricht. Dennoch lassen sich einige Fehler von der Sorte "hätte man auch vorher wissen können" durchaus benennen, weil es ja zum Teil genau die Fehler des Kapitalismus sind, die in die neue Wirtschaftsordnung hinübergerettet wurden. Aber die muss man halt vorher auch erst einmal kennen, sonst kann man sich ewig an vermeintlichen Alternativen abarbeiteten, die keine sind. Insofern gehört vom Standpunkt einer Kapitalismuskritik die Besprechung solch alternativer Systeme - UdSSR, Jugoslawien, China, Kuba, Vietnam, Pariser Kommune, Katalonien während des spanischen Bürgerkriegs etc. - hinten angestellt. Erst einmal ist angesagt, die hiesige Gesellschaft zu verstehen, sonst ist jede Alternative bloß Fantasterei.

Aber auch "Transformationsprozesse" (Revolution, Putsch, Generalstreik, Reformation oder gar selbstständige Hinentwicklung auf Basis der Eigendynamik des Kapitalismus etc.) sind ein weites Thema für sich und haben rein gar nichts mit den bisher dargebrachten Argumenten im Artikel zu tun. Jedenfalls sind alternative Systemformen nicht über Nacht entstanden, es hat von Fall zu Fall Jahre bis Jahrzehnte gedauert, sie gegen imperialistischen Widerstand durchzusetzen, täglich mussten politischen Entscheidungen getroffen werden, die sich an der jeweiligen, tagesaktuellen Realität abarbeiteten. Eine sorgfältige und wissenschaftlich redliche Analyse müsste diesen Momenten Rechnung tragen, anstatt sie erstens alle in einen Topf zu werfen, wie das viele Forenten tun, und zweitens mit dem unsinnigen Stichwort "100 Millionen Tote unter Stalin" abzutun. Es gab Gründe, warum der Osten "untergegangen" ist, und es sind nicht diejenigen, die sich die Forenten denken, manche sind sogar genau das Gegenteil davon.

Eine beliebte, aber unsinnige Behauptung, der Realsozialismus sei nicht im Stande gewesen, seine Bevölkerung mit dem zu versorgen, was sie will7, daran sei er gescheitert. Dabei wird die Kaltkriegfront, die der Westen dem Osten direkt nach dem Weltkrieg unter Androhung der Atombombe aufgemacht und die Sowjetunion zur Totrüstung gezwungen hat, z.B. komplett ausgeblendet. Dass die USA nicht gleichermaßen kaputt gegangen ist, liegt daran, dass sich dort die Waffenproduktion als Geschäft organisiert, während im Osten jede Betätigung in dieser Branche ein tatsächlicher Abzug von der staatlichen Wohlfahrt ist.

Wenn der Realsozialismus etwas konnte, dann ist es genau das Gegenteil der Behauptung: Jedes hinterletzte Dorf an der nordsibirischen Küste mit den wichtigsten Lebensressourcen zu versorgen, hat er jedenfalls hingekriegt. Etwas, was die marktwirtschaftlichen Nachfolgestaaten der Sowjetunion eben nicht mehr hinbekommen haben, weil sich daraus kein Geschäft machen lässt. Heute ist der Osten überzogen mit verwaisten Geisterdörfern und Geisterstädten und verwaister Infrastruktur. Und ausgerechnet diese immense Versorgungsleistung soll Ausdruck einer unterlegenen Wirtschaftsweise sein?

Es stimmt auch nicht, dass der Osten allein am unzufriedenen Volkswillen gescheitert ist. Wenn man sich die einzelnen Staaten mal genau anschaut, wird man erkennen, dass die Sache sich anders darstellt als das offizielle Narrativ. Hier zwei knappe Beispiele.

Beispiel 1: Sowjetunion. Das ach so blutige kommunistische Regime befragte am 17. März 1991 in einem Referendum das Volk, wie es um die Zukunft der Nation fortan stehen soll. Mit einer Wahlbeteiligung von ca. 80 % und etwa 70 % Zustimmung entschied sich das Volk für den Weiterbetrieb der UdSSR. Aber Russland unter Jelzin, die Ukraine unter Krawtschuk und Weißrussland unter Schuschkewitsch, allesamt radikale wie naive Verfechter der Marktwirtschaft, haben die wechselseitige Unabhängigkeit gerade an Volk und Parlament vorbei beschlossen und die anderen Republiken vor vollendete Tatsachen gestellt (Stichwort: Vereinbarung von Belovezha, 8.12.1991).

Beispiel 2: Rumänien. Das offizielle Narrativ im Westen, ja sogar in Rumänien selbst, ist, dass es sich um eine Revolution des Volkes gegen das verhasste Regime gehandelt hat. Es ist inzwischen aber längst hinlänglich gut dokumentiert, dass es ein verdeckte Operation des CIA unter französischer Beteiligung war, inklusive der unverhohlenen Geständnisse der Beteiligten vor laufender Kamera. Interne Parteimachtkämpfe spielten dabei wie in der UdSSR natürlich auch eine Rolle.

Zuletzt möchte ich noch eingehen auf den häufigen Vorwurf, die Sowjetunion wäre nicht in der Lage gewesen, mit dem kapitalistischen Fortschritt mitzuhalten. Was den Charakter des kapitalistischen Fortschritts angeht, darauf wird noch in Teil 5 der Artikelserie ausführlich eingegangen. Da stellt sich vor allem die Frage, wem dieser Fortschritt dient.

Was die Sowjets angeht, so hat es an Wissenschaft und Fortschritt jedenfalls nicht gemangelt, auch an der technischen Umsetzung nicht. Als Wissenschaftshistoriker, aber auch als Sohn eines sowjetischen Industriekombinatsleiters, kann ich dies aus erster Hand nur bestätigen. Man muss sich das nur einmal vor Augen halten. Ein Agrarstaat vollzieht unter den widrigen Bedingungen zweier Weltkriege und eines Bürgerkriegs innerhalb von nur einer Dekade die Industrialisierung, und innerhalb von nur einer halben Generation den Übergang zu einer militärischen Weltmacht, er garantiert die Versorgung mit allem Lebenswichtigen für das gesamte Volk und leistet sich darüber hinaus auch noch den Luxus, andere Staaten zu subventionieren (Kuba, Afghanistan etc.). Ferner gewinnt er in fast allen Punkten das Space Race, spielt in fast allen wissenschaftlichen Disziplinen eine weltweit führende Rolle, nicht nur in den Naturwissenschaften, Technik und Mathematik, auch in kulturellen Fächern. Jedenfalls hat es an Orientalisten, Künstlern und Archäologen in der UdSSR nicht gemangelt. Das muss eine Nation, die vorgestern noch in zaristischer Leibeigenschaft lebte, auch erst einmal hinkriegen.

Leute, die den angeblich mangelhaften Fortschritt im Realsozialismus bemängeln, sollten sich besser informieren und vorsichtig mit solchen Vorwürfen sein, weil sie heute von diesen Fortschritten selbst schmarotzen. Es war gerade der Brain Drain in Folge der Zersetzungserscheinungen der Sowjetunion gen Westen, der die amerikanischen IT-Branche maßgeblich bereicherte. Dieser Hinweis soll nicht dazu dienen, stolz die Brust anschwellen zu lassen, sondern einfach nur die freche Behauptung zurückweisen, der Realsozialismus würde keine technologischen Fortschritte kennen. Er kennt nicht nur Fortschritte, er kennt technische Meilensteine.

Nur um mal bei einem zeitgenössischen Beispiel zu bleiben: Das kleine Kuba, welches sich gegen den Protest der Vereinten Nationen seit mehr als fünf Jahrzehnten unter US-amerikanischem Embargo befindet, und deshalb nie seine Industrialisierung effektiv durchziehen konnte, ist trotz dieser extrem widrigen Bedingungen immerhin in der Lage, eine leistungsstarke Bio- und Pharma-Technologie auf die Beine zu stellen. Dort werden medizinische Präparate entwickelt, von der US-amerikanische Wissenschaftler schwärmen, weil sie sie nicht haben und wohl auch noch technisch nicht in der Lage sind, sie zu plagiieren. Medikamente gegen verschiedene Krebsarten (Racotumomab, VSSP, Nimotuzumab), insbesondere Lungenkrebs (CimaVax), ohne toxische Nebenwirkungen, die auch in der Produktion wohl auch noch extrem preisgünstig sind und kubanischen Bürgern sowieso kostenlos zukommen; oder z.B. Medikamente gegen diabetisinduzierte Fußgeschwüre, die mangels Alternative überall sonst auf der Welt mit einer traumatischen Amputation behandelt werden.

Aber ja, man kann auch weiterhin denken, dass sozialistische Staaten nichts auf die Kette bringen. Nur sollte man sich auch vor Augen halten, dass man an solchen Behauptungen leicht blamiert werden kann.

Am Fortschritt ist relevant, wem er zum Nutzen gereicht, den Bewohnern des Landes oder einem schnöden Geschäftsinteresse. Was nützt der Fortschritt, wenn er zwar vorliegt, aber für diejenigen, die ihn brauchen, unerschwinglich ist? In USA scheitern regelmäßig und massenhaft Erkrankte daran, dass sie sich die jeweilige Therapie oder Medikamente nicht leisten können. Pech gehabt. Familien nehmen Kredite auf, um ein Mitglied heilen zu lassen, und ruinieren sich darüber dauerhaft finanziell. Diese Behauptung war jedenfalls einer der Kernthesen im Wahlkampf von Bernie Sanders. In Kuba ist die Staatsräson eben eine völlig andere als beim nördlichen Nachbarn.

Da wundert es auch nicht, dass dort der staatliche Katastrophenschutz viel effektiver ist als beim hochtechnologisierten Nachbarn. Bei jedem Hurrican sterben dort deutlich weniger Menschen als in Florida, obwohl es beide Landstriche meist mit gleicher Wucht erwischt.

Ein Forent behauptete, der Fortschritt im Kapitalismus sei allein schon deshalb notwendig schneller, weil dort jedes Talent an seinem Platz wirken könne, an seinem Traumarbeitsplatz, wo man sich verwirklichen könne, während im Osten die Parteibonzen entscheiden, wer wohin kommt. Das sei ineffektiv. Nun, zunächst einmal scheitert(e) in diesen angeprangerten Ländern niemand an der Finanzierung des Studiums. Wie viele helle Köpfe hat die kapitalistische Gesellschaft allein schon auf diese Weise von der Wissenschaft abgehalten? Außerdem lässt sich das Argument leicht umdrehen: Im Kapitalismus arbeiten die Fachkräfte dort, wo ihnen der meiste Lohn geboten wird, oder wenigstens überhaupt einer, wenn die Konkurrenz zu stark ist, nicht jedoch dort, wo sie am besten gesellschaftlich wirken können. Man sollte sich ferner mal schlau machen über das Berufswahl- und Bewerbungswesen, bevor man solche steilen Thesen aufstellt, die vollkommen an der Realität vorbei gehen.

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