Marxistenblatt mit Millionenlast: Ist die junge Welt am Ende?

Ehemaliger Chefredakteur der junge Welt, Stefan Huth und Geschäftsführer, Dietmar Koschmieder

Als die Genossen sich noch genießbar fanden: Stefan Huth (li.), Dietmar Koschmieder (re.). Bild: Christian-Ditsch.de

Die Tageszeitung steckt wie die Linke in der Krise. Millionenschulden und schwere Fehler. Statt aktueller Nachrichten könnte das letzte Gefecht anstehen.

Wer die Homepage der Tageszeitung Junge Welt aufruft, wird an prominenter Stelle über einen brisanten Rechtsstreit informiert. Unter dem Titel "Prozess: junge Welt vs. Staat" berichten Verlag, Redaktion und "Linke Presse Verlags-, Förderungs- und Beteiligungsgenossenschaft junge Welt e.G." über ihren Versuch, die geheimdienstliche Einordnung des Blatts als "linksextremistisch" zu unterbinden.

Das Verwaltungsgericht Berlin habe im Juli 2024 jedoch entschieden, dass der "Verfassungsschutz" die Zeitung weiterhin so bezeichnen darf. Die publizierenden Genossen beklagen sich darüber wortreich und scheinen doch nicht so ganz unglücklich. Sie gegen das System. In dieser Rolle gefallen sie sich.

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Selbst sieht sich die Junge Welt laut Eigendarstellung als "links" und "marxistisch". Man glaubt dort, der "Kapitalismus nach 1990" befinde sich in einer – inzwischen doch schon recht lange währenden – "Phase der Zuspitzung". Im Übrigen stehe der Faschismus kurz vor der Rückkehr. Aus der Perspektive der Jungen Welt steht die große Welt immer knapp vor dem Abgrund.

Indes will die Zeitung "Protest und Widerstand" unterstützen und wähnt sich auf einem "klaren linken" Weg. Nur als linksextremistisch will man in der Berliner Torstraße nicht gelten. Diese Einordnung sei ein "Angriff auf die Pressefreiheit". Deswegen prozessiere man "gegen die BRD" heißt es unter einer etwas unbeholfenen Zeichnung mit dem Schriftzug "Hoch Lenin!". Klares Feindbild, keine Diskussion.

Brisantes Verfahren in Berlin

Weit weniger auskunftsfreudig zeigt sich das marxistische, linke, den Kapitalismus in der Endphase sehende, Protest und Widerstand organisierende, aber auf keinen Fall linksextremistische Blatt angesichts eines anderen Prozesses

Dabei geht es in diesem Fall um existenzielle Fragen für die Tageszeitung.

Sieben Zeilen und dann Schweigen

In gerade einmal sieben Zeilen informierte der "Verlag 8. Mai" als Herausgeber über das Ergebnis dieses anderen Verfahrens. Dabei könnte jener Rechtsstreit tatsächlich ausschlaggebend sein für das Überleben der Jungen Welt.

Neomarxistisches Septett.

Es ist nicht die einzige Baustelle für die Redaktion, die sicher auch mit anderen Problemen zu kämpfen hat, wie viele linke Medien von der taz bis zum ND.

Prozess in Berlin

Was sich hinter den sieben Zeilen verbirgt: Das Berliner Arbeitsgericht hatte unlängst über die Klage des Journalisten Stefan Huth gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber, den Verlag 8. Mai GmbH, zu entscheiden. Huth war dort für die Junge Welt rund acht Jahre lang als Chefredakteur tätig, bevor er am 10. Juli 2024 von Verlagsgeschäftsführer Dietmar Koschmieder recht ruppig abberufen wurde.

Ein Hauch von Lehman Brothers

Koschmieder bestellte Huth ein, kündigte ihm fristlos und erteilte ihm zugleich Hausverbot. Der Mensch stand mit seinem Kram so schnell vor der Torstraße 6 in Berlin-Mitte wie im September 2008 die Investmentbanker von Lehman Brothers in New York. Es ist ein Schlag ins Gesicht für einen verdienten Mitarbeiter.

Fristlos, Änderungskündigung, ordentliche Kündigung

Koschmieder handelte wohl derart übereilt, dass er mehrfach nachlegen musste; es folgten eine Änderungskündigung am 29. Juli, eine ordentliche Kündigung am 16. September und dann noch eine Abmahnung.

Nichts davon hatte nach der Verhandlung vor dem Arbeitsgericht Berlin noch Bestand.

Blamage für Geschäftsführer Koschmieder

Denn Huth wehrte sich – und die Sache wurde zur Blamage für Koschmieder. Der einstige Lehrer aus Lörrach hatte sich derart verkalkuliert, dass das Marxistenblatt am Ende nicht durch den kapitalistischen Klassenfeind zur Strecke gebracht werden könnte, sondern durch den Genossen Geschäftsführer selbst.

Wilhelm Busch und nur ein Lächeln

Der erlebte im Saal 216 des Berliner Arbeitsgerichtes den Realitätscheck. Der zuständige Richter Hansen, so der Eindruck, konnte Situation und Akteure gut einschätzen. Die Sitzung eröffnete er souverän mit Versen von Wilhelm Busch. "Die Selbstkritik hat viel für sich", trug der Arbeitsrechtler textsicher vor, "gesetzt den Fall, ich tadle mich, so hab’ ich erstens den Gewinn, dass ich so hübsch bescheiden bin."

Es sollte das einzige Mal während dieser Sitzung bleiben, dass Koschmieder von den Zuschauerreihen aus erkennbar lächelte. Danach geriet der Verlagsgeschäftsführer immer mehr in die Defensive. Von Selbstkritik keine Spur.

Blattlinie oder unentschuldigtes Fehlen oder was?

Koschmieder begründete die Abberufung Huths unter anderem damit, dass dieser nicht mehr geeignet gewesen sei, die "Blattlinie" des vom Verlag herausgegebenen Mediums durchzusetzen.

Arbeitsgericht Berlin: Für die junge Welt ein Schicksalsort?

Irgendwann in diesem Streit wurde wohl auch unentschuldigtes Fehlen als Grund angeführt. Das alles wirkte undurchsichtig, willkürlich und wenig plausibel. Der Verlagschef blieb stichhaltige Argumente schuldig. Stattdessen verstrickte er sich in Widersprüche.

Belegschaft und Betriebsrat später informiert

So behauptete Koschmieder zunächst, ein Statut regele, dass die Belegschaft den Chefredakteur abberufen könne. Doch dann musste er einräumen, dass er die Abberufung selbst entschieden und Belegschaft sowie Betriebsrat erst im Nachhinein darüber informiert hatte

Der Weg über die Mitbestimmung wurde offenbar nicht beschritten, der Scheide aber wurde gewahrt.

Wenn sich der Chef für die Belegschaft hält

"Das ist eine Berufung auf Zeit, die auch widerrufen werden kann, beispielsweise durch einen Belegschaftsentscheid", so Koschmieder. Mag sein, konterte der Richter, aber nicht die Belegschaft habe entschieden, "sondern Sie haben das angeordnet".

Damit wurde die Führungskultur im sozialistischen Pressebetrieb deutlich: Die Belegschaft c'est moi!

Der wichtige Grund fehlte

Huths Anwalt legte nach: Die Position des Chefredakteurs sei vertraglich vereinbart und könne nicht einfach einseitig abgeändert werden. Eine Abberufung sei nur aus wichtigem Grund möglich, den der Verlag aber nicht darlegen könne. Auch sei der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß beteiligt worden.

Alles Argumente, die vor Gericht Gewicht haben.

Es wendete sich schnell gegen Koschmieder

Das sah offenbar auch das Gericht so. Richter Hansen ließ durchblicken, dass die Kündigung wohl unwirksam sei. Um weiteren Schaden abzuwenden, lenkte der Verlagschef schließlich ein.

In einem Vergleich einigten sich die Parteien darauf, dass das Arbeitsverhältnis erst zum 28. Februar 2025 endet und Huths Gehalt bis dahin ausgezahlt wird. Ein teures Nachgeben für den Verlag.

Was war denn nun der Grund?

Für Stefan Huth aber ein später Triumph. Fast achtJahre lang hatte er das Blatt als Chefredakteur geleitet, bevor er von einer Minute auf die andere abgesetzt wurde. Die Gründe dafür blieben nebulös.

In der Öffentlichkeit wurde kolportiert, Huth sei wegen "einiger Probleme mit der Redaktion" und "Konflikten um die Blattlinie" abberufen worden. Unterstellungen offenbar, die sich als haltlos erwiesen. Verlag und Geschäftsführer haben in dieser Sache kein gutes Bild abgegeben.

Keine der Maßnahmen hatte Bestand

Am Ende musste der Verlag 8. Mai GmbH die Kündigung und Abmahnung zurücknehmen sowie Huths Gehalt für mehrere Monate nachzahlen. Die Vorwürfe gegen den Ex-Chefredakteur hielten einer gerichtlichen Überprüfung nicht stand. Ein herber Rückschlag für Koschmieder und die Führungsriege.

Die Machtdemonstration wurde zur Demütigung

Koschmieder halte, so die vom Gericht vorgeschlagene Sprachregelung, "aus heutiger Sicht die gegenüber dem Kläger erhobenen Vorwürfe nicht länger aufrecht". Zudem wurde der Verlagschef verpflichtet, seinem ehemaligen Redaktionsleiter gute Arbeitsleistungen zu bescheinigen. Ein demütigendes Ergebnis für die Verantwortlichen.

Monate Gehalt und Abfindung

Zwar bekommt Huth seinen Job als Chefredakteur nicht zurück. Aber er kann erhobenen Hauptes aus der Sache herausgehen. Sein Ruf ist wiederhergestellt. Finanziell sieht es für den Kläger auch nicht schlecht aus. Klägliche 3.342 Euro brutto hatte ihm das Marxistenblatt gezahlt

Der karge Lohn summiert sich für die vereinbarte Zeit aber auf gut 23.000 Euro brutto. Hinzu kommen 65.000 Euro Abfindung; ein Betrag, der weit näher an der Forderung des Klägers liegt als am Angebot seines einstigen Arbeitgebers. Die Junge Welt muss tief in die Tasche greifen – sofern da überhaupt noch etwas drin ist.

Nicht das erste Scheitern

Es ist nicht das erste wirtschaftliche Fiasko unter Koschmieders Leitung. Der Geschäftsführer des Verlags 8. Mai wollte in den vergangenen Jahren mit zwei Medienprojekten expandieren. Doch sowohl die Kölner Woche im Jahr 1999 als auch das Kulturmagazin Melodie und Rhythmus im Jahr 2022 floppten. Die Ausweitung des Geschäfts scheiterte, immer wieder.

Das Selbstbild ist größer als die Performance

Koschmieder hatte gehofft, mit der Kölner Woche, angereichert mit Ideologie der jungen Welt, im Westen Fuß zu fassen. Man sah sich vollmundig gar als Konkurrenz zum Kölner Großverleger Neven DuMont.

Doch nach nur 25 Ausgaben und einem halben Jahr war mangels Leserinteresse Schluss. Auch die Finanzierung durch Genossenschaftsanteile von Kölner Bürgern blieb weitgehend aus. Eine so grandiose wie peinliche Fehleinschätzung. Die Zeitung fand in der Domstadt keinen Anklang.

Musikmagazin: Ende mit Dissonanzen

Auch das Musikmagazin Melodie und Rhythmus, das der Verlag 8. Mai seit 2008 herausgab, wurde trotz mehrerer Relaunches und Profiländerungen ein Verlustgeschäft. Sinkende Verkaufs- und Anzeigenerlöse führten im August 2022 zur erneuten Einstellung des Magazins. Erneut hatte sich Koschmieder verkalkuliert.

Jetzt wird es wohl wirklich eng

Man könnte sagen, Koschmieder steht nun vor den Trümmern seiner verlegerischen Experimente. Die jüngste hausgemachte Katastrophe könnte die Letzte sein. Denn die finanziellen Reserven des Verlags sind, gelinde gesagt, knapp.

Der Verlag 8. Mai GmbH steht unter einem erheblichen finanziellen Druck. Der zusätzliche Verlust von gut 80.000 Euro könnte verheerend sein. Jetzt muss Kapital akquiriert werden. Im Fall der Jungen Welt sind das keine Investitionen. Wer der Genossenschaft Geld gibt, wird das wohl nie wieder sehen.

Verluste und Kosten

Der Jahresabschluss zum Geschäftsjahr vom 01.01.2023 bis zum 31.12.2023, der allerdings erst auf den 06.03.2025 datiert, weist einen Verlustvortrag von mehr als 700.000 Euro im Geschäftsjahr 2023 aus. Anstatt diesen Ballast abzuwerfen, kommt jetzt ein zusätzlicher Batzen von mehr als 80.000 Euro hinzu.

Mit den mutmaßlich weiteren Kosten aus dem Rechtsstreits verliert der Verlag womöglich seinen gesamten finanziellen Puffer aus Eigenkapital und Überschuss, der sich seit Jahren auf gut 130.000 Euro beläuft. Das wirtschaftliche Fundament bröckelt.

Damoklesschwert in der Bilanz

Und Verbindlichkeiten von gut zwei Millionen Euro sind ein Damoklesschwert, das über dem Verlag schwebt. Wie soll das Unternehmen diese enormen Schulden bedienen, wenn es Jahr für Jahr Verluste einfährt, während kostspielige Fehler gemacht werden? Eine Antwort darauf haben Koschmieder und Co. bisher nicht gefunden.

Zwar hat der Verlag laut Geschäftsberichten die Liquidität leicht verbessert, doch angesichts der massiven Verluste wirkt dies wie ein Tropfen auf den heißen Stein. "Vor schweren Zeiten" befinde man sich, hieß es schon Mitte 2024 anlässlich einer Genossenschaftsversammlung.

Wie beschreibt man dann die aktuelle Lage? Koschmieder fehlen offenbar die Worte, man ist seltsam still angesichts der jüngsten Geschehnisse. Bis zum nächsten Treffen der Genossenschaftsgenossen am 21. Juni wird er seine Worte wiederfinden müssen.

Symptomatisch für die Linke

Man könnte das Ganze als politische Provinzposse abtun, aber der Fall der Jungen Welt wirft ein Schlaglicht auf grundlegende politische Fehlentwicklungen. Während die Rechte immer mehr an Macht und Einfluss gewinnt und von Paris bis Berlin nur mit immer gewichtigeren und fragwürdigeren Maßnahmen von Parlaments- und Regierungsverantwortung ferngehalten werden können, scheitert die Linke an sich selbst. Der Grund dafür liegt auch in ihrer sektiererischen Selbstüberschätzung.

Wenig Zuspruch, viel Missionsgeist

Von den linken Flügeln der SPD und der Grünen bis zu Kleinststrukturen wie der Jungen Welt – sie alle wähnen sich in dem Irrglauben, für die Mehrheit zu sprechen.

Das Gegenteil ist der Fall: Während die Rechten ein unglaublich gutes Gespür für Emotionen und Befindlichkeiten in der Bevölkerung entwickelt haben und dies medial und kommunikativ effektiv zu nutzen wissen, glauben viele Akteure der Linken, den Menschen etwas beibringen oder vorschreiben zu müssen. Hier die Antiimperialisten, dort greise DKPisten, hier die Klimaaktivisten, dort die Fürsprecher der Nato und einer "wertegeleiteten Außenpolitik".

Man glaubt sich selbst, weil man niemand anderen fragt

So stolpert man von einer Fehleinschätzung zur nächsten: dass man Chancen bei den Wahlen hat, dass die Kölner Bevölkerung nur auf eine linke Zeitung gewartet hat, dass man bei offensichtlichen Problemen im Kernbetrieb expandieren kann, dann man den Chefredakteur in bemerkenswerter Unkenntnis und Ignoranz des Arbeitsrechtes einfach so feuern und des Hauses verweisen kann.

Die Causa Junge Welt ist ein Beispiel dafür, wie sehr eine politische Strömung in der Echokammer gefangen ist, wo ihr vor allem eines fehlt: das Korrektiv. Das ist hier wohl ernsthafter zu bewerten als durch Wilhelm Busch, der schon im 19. Jahrhundert mit Blick auf entsprechende Akteure weiterreimte: "Und viertens hoff' ich außerdem; auf Widerspruch, der mir genehm."