Chaos in Frankreich: Macron ruft zu Großer Koalition auf und steht im Kreuzfeuer
Der Präsident will Einheit. Die Reaktion ist Tumult, Kritik und noch mehr Spaltung. Er hat an Glaubwürdigkeit verloren. Ein Lagebericht.
PQR ist eine lustige Bezeichnung, die mittlerweile im Französischen üblich wurde. Liegt sie doch nahe an PQ, eine geläufige Abkürzung für Toilettenpapier. Dennoch hält sich auch in seriösen Publikationen das Kürzel PQR zur Bezeichnung der presse quotidienne régionale, also der "regionalen Tagespresse" für die nicht in Paris erscheinenden Tageszeitungen wie Le Télégramme in Brest, L’Indépendant in Perpignan oder La Provence in Marseille.
Über diese Regionalpresse, also, schaltete sich Staatspräsident Emmanuel Macron mit einem offenen Brief am gestrigen Mittwoch in die politische Debatte nach dem Ausgang der Parlamentswahl vom vorigen Sonntag ein.
Nicht, dass das Staatsoberhaupt seitdem nicht in die französische Innenpolitik eingegriffen hätte, hinter den Kulissen agierte er selbstredend ununterbrochen. Erstmals äußerte er sich nun jedoch auch in der Öffentlichkeit.
Aufruf zur GroKo
Und zwar, um anzukündigen, dass die im Januar dieses Jahres von ihm eingesetzte Regierung unter dem jungen Premierminister Gabriel Attal vorläufig im Amt bleibt und die laufenden Staatsgeschäfte fortführt, und dass er sich auf eine längere Regierungsbildung einstellt.
Dafür fordert er die staatstragenden Kräfte auf der Linken und auf der Rechten zur Bildung einer Art Großen Koalition auf.
Diese könnte etwa vom, zuletzt zwischen 2012 und 2017 regierenden, Parti Socialiste (PS) – dem rechteren Flügel der französischen Sozialdemokratie, ihr linkerer Flügel ging neben anderen Kräften in der heterogenen linkspopulistischen Wahlplattform La France insoumise (LFI, "Das unbeugsame Frankreich") auf – bis hin zu den nicht offen mit den Rechtsextremen verbündeten Teilen der französischen Konservativen reichen.
Kritik von links: Macrons hält Versprechen nicht ein
Diese Positionierung zog alsbald Kritik von mehreren Seiten auf sich. Von linker Seite wird ihm vorgeworfen, er wolle die jüngsten Wahlgewinner nicht regieren lassen.
Dabei wird vielfach daran erinnert, dass sich Macron zweimal, jeweils in der Stichwahlrunde der französischen Präsidentschaftswahl (2017 und 2022), als einziger verbliebener Gegenkandidat zu Marine Le Pen mit den Stimmen der Linkskräfte wählen bzw. wiederwählen hat lassen. Zuletzt, 2022, erklärte Emmanuel Macron dazu übrigens, er wisse, was er dieser Wählerschaft verdanke, und er fühle sich ihr deswegen "verpflichtet".
Nur wirkte sich dies auf seine nachfolgenden politischen Entscheidungen nicht aus – die Rentenreform 2023 wurde etwa gegen massive Widerstände der Linken durchgedrückt, und nicht nur von ihr, denn 93 Prozent der abhängig Beschäftigten lehnten die beschlossene Verlängerung der Lebensarbeitszeit ab.
Nun will Macron das heterogene, und durchaus von Widersprüchen durchzogene, linke Lager gar nicht bei der Regierungsbildung zum Zuge kommen lassen, oder aber es aufspalten und nur seinen "moderateren" Teil einbeziehen.
Spaltung auch des Regierungslagers
Unterdessen ist auch Macrons eigenes bisheriges Regierungslager dabei tief gespalten, was sich auch darin ausdrückt, dass bislang nur zwei Drittel der gewählten oder wiedergewählten Abgeordneten der Präsidentenpartei Renaissance – 60 von 89 – bis zur Stunde in ihre neu konstituierte Parlamentsfraktion einschrieben.
Auch bürgerliche Leitmedien titeln derzeit: "Das Macron-Lager steht am Rande der Implosion".
Aus den Reihen seiner bisherigen Unterstützer im Parlament, von denen viele im jüngsten Wahlkampf in ihren Unterlagen und Werbematerialen jede Bezugnahme zu Macron herausstrichen, wird Macron viel vorgeworfen.
Insbesondere, dass er durch seinen jüngsten Beschluss zur Auflösung der Nationalversammlung – am Abend des 09. Juni – und zu schnell anberaumten Neuwahlen in Kauf genommen habe, die eigenen Abgeordneten und Minister gegen die Wand fahren zu lassen.
Chaotischer Prozess
Anders als auch an dieser Stelle Macrons Schritt als rational kalkulierte Strategie mit halbwegs erwartbarem Ausgang bewertet wurde, sahen und sehen derzeit viele in Frankreich und auch im Macron-Lager die jüngsten politischen Ereignisse eher als chaotischen Prozess.
Der Ausgang der jüngsten Hochsommer-Wahlen kam für viele, ja die meisten Beobachterinnen und Beobachter in Frankreich, überraschend.
Im ersten Wahlgang der französischen Parlamentswahl am 30. Juni hatten noch die Rechtsextremen als stärkste und das Linksbündnis Nouveau front populaire (NFP) als zweitstärkste Kraft abgeschnitten.
Eine Anmerkung: Auf Deutsch wird dieses Bündnis nach Ansicht des Autors dieser Zeilen zu grobschlächtig, inhaltlich falsch mit "Neue Volksfront" übersetzt und wiedergegeben. Inhaltlich weitaus richtiger wäre: "Neue Front derer da unten gegen die da oben"; es ist eine Namensgebung in Anspielung auf den Namen der linken Regierungskoalition von 1936/37.
Antifaschistischer Abwehrreflex in relevanten Teilen der Gesellschaft
Eine Woche nach der ersten Wahlrunde drehte sich das Verhältnis komplett um.
Die linke Wahlallianz NFP erhielt nunmehr 182 Parlamentssitze von insgesamt 577 und landete auf dem ersten Platz, das Staatspräsident Emmanuel Macron – ehemals – unterstützende Parteienbündnis Ensemble ihrer 163.
Die Rechtsextremen landeten plötzlich nur noch auf dem dritten Rang, mit 125 Sitzen für Kandidaten des Rassemblement national (RN) und weiteren 17 für direkt mit dem RN verbündete Konservative rund um den Parteiflügel der gespaltenen bürgerlichen Rechtspartei Les Républicains (LR) um Eric Ciotti. Zusammen also 142 für die Rechts-Rechts-Allianz.
Hinzu kommen kleinere politische Kräfte, etwa die nicht mit den Rechtsextremen verbündeten Teile der zersplitterten konservativen Partei LR, mit circa vierzig Sitzen, oder circa sechzig zusammen mit kleineren bürgerlichen Splitterparteien (Divers droite).
Ursächlich für diese Umkehr der Ergebnisse innerhalb einer Woche war ein spontaner antifaschistischer Abwehrreflex in relevanten Teilen der Gesellschaft.
Begünstigt wurde dieser Mechanismus wiederum durch das Verhalten vieler Kandidatinnen und Kandidaten, die ihre Bewerbung zwar – aufgrund ihres Stimmenanteils in der ersten Runde, erforderlich dafür waren rund achtzehn Prozent der abgegebenen Stimmen – in der Stichwahl hätten aufrechten erhalten können. Sie zogen diese jedoch zurück, um zu vermeiden, dass besser platzierte Kandidaturen aus dem nicht-rechtsextremen Lager von ihnen behindert werden.
Trotz immenser, insbesondere wirtschafts- und sozialpolitischer Differenzen zwischen dem heterogenen linken und dem liberalen Lager funktionierte dieser gegenseitige Rückzug letztendlich.
220 Kandidaturen zurückgezogen
Über 220 Kandidaturen wurden vor der Stichwahl zurückgezogen. Statt in 300 möglichen Fällen fanden Stichwahlrunden zu dritt nur noch in 89 Wahlkreisen statt, in den übrigen hingegen wurde die entscheidende Runde nur noch unter zwei Bewerber/inne/n ausgetragen. Statt relativer wurden dadurch fast überall absolute Mehrheiten erforderlich.
Diese Hürde konnte die extreme Rechte vielerorts, da ihre Gegner auf unterschiedlichen Seiten wach wurden, dann doch nicht nehmen.
Wo sind die Spielräume?
In einer innenpolitisch polarisierten Situation wird es auf die Dauer unvermeidbar sein, entweder der Linken oder der Rechten Spielräume zu lassen. Dabei wird es niemand einfach haben, da aufgrund der Aufteilung der Kräfte im neuen französischen Parlament keiner der drei wichtigsten Blöcke auch nur annähernd über eine Mehrheit der Sitze verfügt.
Welche Perspektiven eine Minderheitsregierung der Linksparteien hätte und auf welche Grenzen sie stoßen müsste, wird längst eruiert und diskutiert.
Polarisierende Figur: Jean-Luc Mélenchon
Klar ist dabei, dass die polarisierende Figur von Jean-Luc Mélenchon, Gründer der Wahlplattform LFI (La France insoumise), die wegen Mélenchons Auftreten und ihrer eher undemokratischen inneren Strukturen in der Kritik steht, sicherlich nicht Premierminister werden könnte.
Seine sämtliche Partner, vom Parti socialiste über die Grünen bis zur französischen KP oder auch in anderen Teilen des Parlaments, sind sich darin einig, Mélenchon nicht an der Spitze sehen zu wollen.
Macron möchte die wieder aufgetretene Links-Rechts-Polarisierung jedoch nicht akzeptieren. Seine Strategie besteht seit 2017 darin, dass es nur noch die Wahl zwischen einem erweiterten Mitteblock, der das "wirtschaftliche Vernünftige" verkörpern solle, und einer rechtsextremen Alternative für den Fall seines Scheiterns geben solle.
Deswegen auch hatte er das Land bis an den Rand der rechtsextremen Regierungsfähigkeit herangeführt, auch wenn eine spontane antifaschistische Abwehrmobilisierung diese nun vorläufig verunmöglicht hat.
Die Fehler Macrons
Dabei droht jedoch, solange dieser neu zu formierende Mitteblock weder Links noch Rechts andocken soll, auf die Dauer das unerklärte und verschämte Kuppeln mit Kräften, die zumindest unter der Hand mit antidemokratischen Rechtskräften kungeln, sofern dies als "Stabilitätsgarantie" gilt.
Erinnert sei nicht nur daran, dass das Macron-Lager das umstrittene verschärfte Ausländergesetz im Dezember 2023 mit den Stimmen von Konservativen und Rechtsextremen verabschiedet hat.
Auch darf nicht unter den Tisch fallen, dass es bei den jüngsten Parlamentswahlen zwar viele Stimmerfolge von Linken und/oder Liberalen durch gegenseitige Rücksichtnahme und Absprachen gegen den rechtsextremen RN gegeben hat – aber auch den genauen Gegenfall.
Absprachen mit rechts
Nur zogen die Absprachen, die es zwischen Macron-Leuten und anderen Bürgerlichen auch mit Rechtsextremen gegeben hat, nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich, da die überwiegende Tendenz in der öffentlichen Meinung in Richtung Antifaschismus ging.
In mehreren Wahlkreisen buhlten jedoch bürgerliche Spitzenpolitiker/innen um die Stimmen von rechts, so wurde die bisherige Parlaments-Vizepräsidentin Naima Moutchou durch eine solche Absprache und einen Rückzug des konservativ-rechtsextremen Kandidaten in ihrem Wahlkreis wiedergewählt.
Am Dienstagabend publizierte die Tageszeitung Libération eine Information, die inzwischen auch das Präsidentenlager durchschüttelt.
Im Winter 2023/24 speiste Édouard Philippe, früherer Premierminister Macrons in den Jahren 2017 und 2020 und aussichtsreicher Kandidat in spe seines politischen Lagers für die Präsidentschaftswahl 2027, mit den RN-Spitzen Marine Le Pen und Jordan Bardella.
Philippe räumte die geheim gehaltenen Dîners mittlerweile ein und stammelte im Fernsehen eine Rechtfertigung: Er lerne gerne Personen kennen, die ihm unbekannt seien.
Sollte es der Stabilität des Wirtschaftssystems dienen, so wird auf die Dauer die Versuchung nicht spektakulärer, wohl aber kalkulierter Brückenschläge nach rechts existieren – sofern man entschlossen bleibt, links keine Chance zu lassen.