Massaker an Jesiden: Menschenrechtsausschuss im Bundestag für Anerkennung als Völkermord

Der IS hinterließ in Shengal verbrannte Erde. Foto: VierterBlick / CC-BY-3.0

Warum die Bewertung des Massakers der Dschihadistenmiliz auch Konsequenzen für die Türkei-Politik der Bundesregierung haben könnte.

Der Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Bundestag hat nach einer Anhörung von Sachverständigen vergangene Woche für die Anerkennung des IS-Überfalls 2014 auf das jesidische Siedlungsgebiet Shengal im Nordirak als Völkermord plädiert.

Bereits im Februar hatte sich der Petitionsausschuss ebenfalls für die Anerkennung der Gräueltaten der Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) als Völkermord ausgesprochen. Seit rund fünftausend Jahren lebt die jesidische Gemeinschaft in Mesopotamien, dem "Zweistromland" zwischen Euphrat und Tigris, das Teile der Türkei, Syriens und des Irak umfasst. Der Shengal ist in neuerer Zeit das zentrale Siedlungsgebiet der Jesiden (auch "Eziden" in anderer Schreibweise).

In Deutschland ist die größte jesidische Gemeinde in der Diaspora beheimatet. Daher hat Deutschland eine besonders wichtige Rolle beim Schutz dieser Religionsgemeinschaft. Mehr als 5000 Jesidinnen und Jesiden wurden 2014 vom IS getötet – sowie rund 7.000 Frauen verschleppt und entführt. Bis heute werden mehr als 2.000 Frauen und Mädchen vermisst. Jüngeren Schätzungen nach fielen sogar mehr als 10.000 Frauen, Männer und Kinder den IS-Massakern zum Opfer.

In der Region werden wieder immer neue Massengräber gefunden, daher ist es äußerst schwierig, genaue Angaben über die Zahl der Opfer des am 3. August 2014 begonnen Genozids zu machen. Mehr als 400.000 Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Viele leben seit mehr als sieben Jahren in Flüchtlingscamps im Nordirak unter menschenunwürdigen Bedingungen, ohne Strom und Wasser, ohne Arbeit oder eine Rückkehrperspektive.

Im Sommer letzten Jahres reichte der Ko-Vorsitzende der Berliner Stelle für jesidische Angelegenheiten e.V., Gohdar Alkaidy eine Petition ein, damit der Überfall des IS auf die Shengal-Region, sowie die Verbrechen danach, als Völkermord anerkannt werden. Viele ezidische Organisationen, wie z.B. der Zentralverband der Ezidischen Vereine in Deutschland e. V. (NAV-YEK) unterstützten die Petition mit großem Engagement, während der konservative Zentralrat der Eziden (ZED) diese Petition nicht unterstützte.

Mehr als 57.000 Personen hatten die Petition unterzeichnet, sodass sich der Petitionsausschuss mit dem Thema befassen musste. Im Februar dieses Jahres wurde sie vom Petitionsausschuss positiv bewertet. In der Sitzung wies der grüne Staatsminister im Auswärtigen Amt, Tobias Lindner, darauf hin, dass auch gerichtliche Auseinandersetzungen mit den IS-Verbrechen liefen und die Bundesregierung erst dann von Völkermord sprechen könne, wenn es entsprechende Gerichtsurteile gäbe.

Das klingt befremdlich. Denn lokale Gerichte entscheiden nicht über eine allgemeine politische Einstufung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie haben in den Prozessen gegen IS-Terroristen und Terroristinnen anhand der individuellen Beweislage zu entscheiden. Eine eindeutige Position der Bundesregierung, den Völkermord anzuerkennen, kann sich auch auf das Strafmaß der Angeklagten in den Gerichtsprozessen auswirken.

Klares Votum des Menschenrechtsausschusses

Nachdem mehrere Sachverständige und Zeitzeuginnen gehört wurden, haben die Mitglieder des Menschenrechtsausschusses des Bundestags nun am 20. Juni 2022 einstimmig für eine Anerkennung der IS-Verbrechen als Genozid plädiert.

Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan, Leiter des Instituts für transkulturelle Gesundheitsforschung hat seit 2014 mehr als 2.000 jesidische Frauen und Kinder gesprochen, die verschleppt, vergewaltigt und verkauft wurden. Er berichtete, das Grauen sei unvorstellbar, die Geschichten der Opfer erinnerten in ihrer Systematik an den Holocaust durch die Nazis.

Er plädierte für mehr deutsche Unterstützung in der Traumatherapie vor Ort, damit die Opfer lernen könnten, mit den psychischen Folgen zu leben. Hilfe durch Psychotherapie sei in der Region weitgehend unbekannt gewesen. Besonders den Frauen in IS-Gefangenschaft müsse dringend professionelle Hilfe zu Teil werden.

Yilmaz Kaba, Vertreter des Zentralverbandes der Ezidischen Vereine in Deutschland e. V., bezeichnete eine Anerkennung des Völkermordes durch die Bundesregierung als "wichtigen Schritt für den Schutz der Menschenrechte weltweit". Wenn eine aufrichtige und ehrliche Aufarbeitung des Völkermords stattfinden solle, müssten aber auch die sogenannten Hintermänner genannt und entsprechend zur Rechenschaft gezogen werden.

Kaba wies auch auf das Recht einer autonomen Selbstverwaltung durch die Jesiden in der Region Shengal hin, das durch die irakische Verfassung möglich wäre. Denn, das wurde durch mehrere Beiträge der Sachverständigen deutlich, haben weder die kurdische Autonomieregierung noch die irakische Zentralregierung Initiativen ergriffen, das Shengal-Gebiet wieder aufzubauen und einen Schutzraum für die Eziden zu schaffen.

Kaba betonte, dass der Schutz der jesidischen Religionsgemeinschaft nicht dazu führen darf, dass ein Zusammenleben mit anderen Ethnien und Religionsgemeinschaften verhindert wird. Die demokratische Selbstverwaltung in Nordsyrien sei ein Beispiel, wie ein multikulturelles und multireligiöses Zusammenleben machbar wäre.

Florian Jeßberger, Professor für internationales Strafrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, bestätigte, dass die IS-Verbrechen sich als Völkermord-Taten einordnen lassen. Im Einzelfall der Anklage gegen IS-Terroristen müsse deren individuelle Zerstörungsabsicht nachgewiesen werden. Im Falle der Verbrechen gegen jesidische Frauen und Mädchen, die verschleppt, vergewaltigt und in Sklaverei verkauft wurden, müsse dies als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewertet werden.

Die geschlechtsbezogene und sexualisierte Dimension solcher Verbrechen sei in den verschiedenen Gesetzen und Statuten noch nicht kodifiziert. In der Debatte herrschte Einigkeit, dass die ezidische Religionsgemeinschaft eines besonderen Schutzes bedarf. Wie der aussehen und wie Deutschland unterstützen könnte, ist ein weiterer Schritt in der Debatte.