Massaker an Jesiden: Menschenrechtsausschuss im Bundestag für Anerkennung als Völkermord
Seite 2: Rolle der Türkei kritisch erwähnt
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In der Diskussion wurde von Abgeordneten und Sachverständigen immer wieder die unrühmliche Rolle der Türkei im Umgang mit der jesidischen Minderheit erwähnt. In der Türkei werden die Jesiden bis heute als "Teufelsanbeter" diskriminiert und nicht als religiöse Minderheit anerkannt. In der Vergangenheit wurden sie derart verfolgt und diskriminiert, dass es heute kaum noch Eziden in der Türkei gibt. Die meisten Jesiden aus der Türkei leben heute in Deutschland und in Schweden.
Die Dörfer und Friedhöfe in der Türkei verfallen oder werden von der türkischen Regierung ausradiert. Vor ein paar Tagen wurden in Ankara eine 25-jährige Jesidin und ihre Tochter aus den Fängen einer irakischen IS-Familie, die mit dem ehemaligen IS-Führer Abu Bakr Al-Baghdadi verwandt sein soll, für 12.000 Dollar freigekauft.
Die Frau war seit 2014 in IS-Gefangenschaft. Seit 2020 lebte die irakische IS-Familie unbehelligt mit ihrer Sklavin und deren Tochter in der türkischen Hauptstadt. Die Befreiung erfolgte ohne Beteiligung des türkischen Staates.
Im Irak ist der Shengal ständigen türkischen Drohnenangriffen ausgesetzt. Zuletzt wurden ein Großvater und sein elfjähriger Enkel bei einem Drohnenangriff auf ein Geschäft in Sinunê getötet. In Nordsyrien wurden zehntausende Jesiden aus dem von der Türkei 2018 völkerrechtswidrig besetzten Afrin vertrieben, ihre Friedhöfe und Heiligtümer zerstört und die Häuser und Höfe mit Familien der Dschihadisten besiedelt.
In der Türkei fanden tausende IS-Anhänger nach der Zerschlagung ihrer Einheiten durch die Anti-IS-Koalition und die Syrian Democratic Forces (SDF) in Nordsyrien Unterschlupf. Nun will die Türkei einen Großteil der syrischen Geflüchteten in ihrem Land loswerden und in Nordsyrien im Gebiet der demokratischen Selbstverwaltung ansiedeln, um die Selbstverwaltung zu zerschlagen und die kurdische Bevölkerung, zu der auch die Jesidinnen und Jesiden gehören, zu vertreiben.
Wenn der Bundestag den Völkermord anerkennt, kann das auch Auswirkungen auf die Haltung der Bundesregierung zur Politik der Türkei haben. Das Schweigen und Wegducken angesichts von Menschenrechtsverletzungen durch die türkische Regierung könnte dadurch ein Ende haben. Könnte, denn es wäre wenig glaubwürdig, einerseits den IS-Genozid an den Jesiden anzuerkennen und andererseits zu den türkischen Angriffen auf die Jesiden im Shengal und in Nordsyrien zu schweigen.
Damit wäre auch die kurdische Frage auf dem Tisch des Bundestags. Man darf gespannt sein, ob in dieser Frage die Parteien der Ampel-Regierung im Bundestag vor dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan einknicken oder endlich klare Kante zeigen.
Anerkennung wäre auch eine klare Botschaft an Bagdad und Erbil
Die Anerkennung des Genozids als solcher dürfte auch den Druck auf die irakische Zentralregierung und die kurdische Regionalregierung des Nordirak erhöhen, sich um die jesidische Belange zu kümmern. Beide Regierungen müssten Anstrengungen unternehmen, um den Familien, die seit 2014 in Flüchtlingscamps leben, die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen.
Ein wichtiger Schritt wäre, den Wiederaufbau der Region gemeinsam mit der Bevölkerung zu organisieren. Eine Anerkennung der autonomen Selbstverwaltung der Jesiden durch die irakische und die Regionalregierung des Nordirak (KRG) würde die Lage im Shengal entspannen.
Die KRG müsste ihre Kooperation mit der Türkei, was die ständigen Drohnenangriffe auf das jesidische Siedlungsgebiet erst möglich machten, beenden. Die Bevölkerung Shengals wäre nicht mehr den ständigen Repressionen der KRG oder der Zentralregierung ausgesetzt. In einer autonomen Region Shengal müssten die unterschiedlichen Parteien im Wettbewerb vor der Bevölkerung beweisen, ob sie in der Lage sind, Frieden und Demokratie zu schaffen.
Denn auch die jesidische Gemeinschaft ist keine homogene Gruppe. Auch hier gibt es sowohl orthodoxe, konservative Strömungen wie auch liberale und linke. Diese finden in der jesidischen Community in Deutschland mit verschiedenen Organisationen ebenfalls ihre Entsprechung.
Irfan Ortaç, Turkologe und Vertreter des Zentralrats der Eziden (ZED) in Deutschland, der ebenfalls als Sachverständiger zur Anhörung in den Menschenrechtsausschuss geladen war, gehört zu den konservativen Vertretern der Eziden. Eine demokratische Selbstverwaltung im Shengal lehnt er ab und plädiert stattdessen für einen eigenen Staat. Die jesidischen Selbstverteidigungseinheiten YBŞ, die er – wie die türkische Regierung – als Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bezeichnete, sollten seiner Meinung nach vertrieben werden.
Die YBŞ wurden in der Tat nach dem Genozid 2014 von der PKK ausgebildet, um die Jesiden nicht schutzlos ihrem Schicksal zu überlassen. Weder die Peschmerga der KRG noch die irakische Armee unternahmen damals Anstrengungen, das jesidische Siedlungsgebiet vor weiteren Angriffen durch die Dschihadisten zu schützen.
Wie alle Sachverständigen, wies Ortaç darauf hin, dass das Leben in den Flüchtlingslagern keine Perspektive für die Jesiden sein könne. Man müsse ihnen mit internationaler Hilfe in ihrem Siedlungsgebiet eine Perspektive bieten.
Neben der Anerkennung des Völkermordes erwartet die jesidische Community in Deutschland, als eigenständige Glaubensgemeinschaft anerkannt zu werden, sowie die Förderung von Projekten zum Erhalt ihrer Kultur und Sprache. Sie wünschen sich Schutz hierzulande und in ihrer Heimat sowie Unterstützung im Wiederaufbau ihrer Hauptsiedlungsgebiete.
Dies scheint der kleinste gemeinsame Nenner in der Diaspora zu sein. Letztendlich müssen die Bewohner des Shengal entscheiden, wie und mit welcher politischen Vertretung sie leben möchten. Dafür müssten aber die irakische Zentralregierung wie auch die kurdische Autonomieregierung das Shengal-Gebiet in Ruhe lassen.
Nur so kann die jesidische Bevölkerung ohne Druck eigene Verwaltungsstrukturen aufbauen. Eine Anerkennung als autonome Region wäre dafür sicher zielführend. Dafür sollten die internationalen Möglichkeiten der Diplomatie für eine Anerkennung der Jesiden in den Staaten, in denen sie leben, auf Augenhöhe eingesetzt werden.